Berlin

Essay
zuerst erschienen im Juni 1996 im jetzt-Magazin
In Berlin passieren Dinge, die so nirgendwo anders passieren. Berlin hat 3,5 Millionen Einwohner, von denen 23.7000 ohne Arbeit, 30.000 ohne festen Wohnsitz sind. 130.000 haben keine Lust, einer öffentlichen Stelle Bescheid zu geben, dass sie ohne alles sind, ohne Arbeit und ohne Wohnung. Ist Berlin also Kalkutta? Nicht doch. Lieber nicht übertreiben. Lieber eins zu eins die Dinge erzählen.

Ein Mann läuft über den Ku’damm, da, wo das Café Kranzler steht und rechts die Joachimstaler Straße zum Zoo abbiegt. Der Mann sieht ziemlich scheiße aus. Das heißt, er trägt ein T-Shirt, auf dem „Ich trinke, ich rauche, ich lese Pornos” steht, und er scheint die Fahrbahn mit dem Bürgersteig zu verwechseln. „Oooooh”, macht das Café Kranzler. Die Leute trinken Bier und haben prächtige Laune, weil in der Mittagssonne und vor ihren Augen ein besoffener Irrer in die fahrenden Autos rennt. „Umsonst gibt’s nichts!” schreit der Mann, zumindest kommt das so im Kranzler an, und die Leute machen „Ho!” und „Hahaha!”, die Taxis hupen, und die Ober bringen Bier. Da kommt ein Bus der Linie 119. In Berlin fahren Doppeldecker. Da sind die Busfahrer gleich doppelt so brutal. Der Bus fährt höchstens fünfzehn, aber beim Einfahren in die Bushaltestation macht sein Hinterteil einen schnellen Schlenker. Da erwischt’s den Mann. Und vor dem Café Kranzler liegt ein Witz-T-Shirt und rührt sich nicht.

In Moabit, da, wo die Perleberger Straße nach rechts abbiegt und geradeaus der breite Teil der Rathenower Straße zum Gefängnis führt, steht eine Rundbank um einen Kastanienbaum. Da sitzen die Türken-Homeboys und essen Döner vom Yala-Imbiß. Da sitzt auch ein kleiner, grauer Cowboy – Hut, Sandalen, Ledermantel in Grau – und drückt einen kleinen, grauen Waldi in seinen Schoß. Der Hund ist häßlich, der Cowboy auch: Er trägt einen Bart im Gesicht wie die Tiere in der Wüste, die nichts zu essen haben außer As. Der Hund hat statt einem Fell nur Schmutzflusen im Gesicht. Die Sonne scheint, einen Döner gibt’s für 3 Mark 50 – da fängt der Cowboy mit spastischen Schaukelbewegungen an. Er murmelt „Jamjamjam”. Der Waldi muß mitschaukeln. Er ist zwischen Hut und Ledermantel eingeklemmt: „Jamjamjam.” Der Alte nimmt Waldi an seinen Pfoten und streichelt den Ausgang von seinem Hundehinterteil. Da sieht man’s erst: Der Hund, der Cowboy, sie teilen sich einen Döner.

In der S5 von Straussberg Nord nach Charlottenburg, irgendwo zwischen Alexanderplatz und Hackescher Markt. Da muß man lang, wenn man vom Hauptbahnhof ins Zentrum, also in den Berliner Westen will. Nichts weiter los. Draußen ziehen Sandfelder, Kräne, das Graffiti „Rock City Boom” vorbei. Ein Mann ohne Haare, dafür mit rotem Kopf, sagt zu der Putzfrau, die neben ihm sitzt: „Ohne mir! Ohne mir! 1.Mai und Frühschicht? Ohne mir!” Ein Mann mit Lederschlips sagt zu seinem Handy: „Durchbruch, kapiert? Dett hab‘ nun ich, nicht der Lohmann, zu entscheiden, kapiert?” Ein junger Mann daneben trägt lila Jeans, dazu eine weinrote Fransenlederjacke. Hackescher Markt: Da kommt ein Typ reingetorkelt, genaues Alter fünfzehn oder fünfunddreißig, hat kein Gesicht mehr, keine Hose mehr, Blutkratzer, Tätowierungen, einen zusammengefallenen Irokesenkamm da, wo sonst die Haare sind, und bricht gleich mal über der Fransenlederjacke zusammen. Signallichthupen, Türenrasseln, Abfahrt zur Friedrichstraße: Der Typ liegt zwischen den Sitzen auf seinem Gesicht. „Auf Drogen” (die Putzfrau), „Ja, völlig zu” (der Kopf) „…” (der Lederschlips), „Det kann noch schlimmer kommen…” (die Fransenlederjacke). Da reißt der Typ mit einer Mörderkraft die S-Bahn-Türen auf und fängt mit S-Bahn-Surfen an. „Det Gesicht!” seufzt die Putzfrau. Draußen rasen Laternen, Backsteinmauern, Starkstrommasten vorbei, da klebt am Fenster das Gesicht. Der Typ hangelt sich an der S-Bahn lang, vorbei am Fenster, zu den S-Bahn-Türen zurück. Da sieht man Haare, Haut und Blut, in gotischen Lettern die Tätowierung „Holy Ghost”. Da fährt die Bahn auch schon, knapp zehn Minuten später, im Bahnhof Zoo ein.

U1, die Elendslinie: Es sind noch Plätze frei. Menschen kommen von der Arbeit oder wollen dahin, dazwischen sitzen die, die U-Bahn fahren, weil es draußen regnet. Kurfürstenstraße: Da steigt eine Frau zu, die besser stehenbleibt. Links hält sie eine Kaffeetasse, rechts eine Fischsemmel, das eine Hosenbein ist halb so lang wie das andere. Am Bein kleben Blut und Straßendreck, im Gesicht Spucke und Fischsemmelbrocken. Die Frau hält sich an den Halteschlaufen fest, die Menschen stehen da, wo sie eben noch standen. Mit dem Ruckeln der U-Bahn geraten die Mundwinkel der Frau in Bewegung, es kommt nichts raus. Ein Opa räumt seinen Sitzplatz, worauf vier Plätze frei sind. Die Frau faßt sich mit der Fischsemmelhand an die Kehle. Sie zieht die Haut vom Kehlkopf weg. Sie murmelt: „Wrwstwwrrr…” Drückt ihren Kehlkopf zusammen. Versucht’s nochmal: „Wwrrr…” Da murmelt der Opa durch den Wagon: „…bin HIV-positiv, arbeitslos, ohne festes Einkommen…” Am Nollendorfplatz, dem nächsten Stopp, steigen Frau und Kaffeetasse aus.

Kottbusser Tor, vor „Kaisers”: Hier liefern sich Türken und Polizei lustige Scheingefechte. Die Polizei bleibt einfach mal stehen. Die Türkenväter, kurzgewachsene, würdige Männer mit Anzugwesten und schwarzen Lackschuhen, machen es genauso. In der Adalbertstraße liegt die Wilhelm-Liebknecht-Bibliothek. Über einer Durchfahrt, die durch eine der Sozialblockmauern fährt, hängen die Schilder „Öz Misir Carsisi”, „Lahmucan ve Kebab Salanu” und „Lezzet Grill”. Da taucht ein Türke mit einer Plastiktüte auf, guckt mal hier, guckt mal da, und steckt beide Anzugarme in einen Abfalleimer. Die Polizei guckt hin, die Türkenväter können nicht anders als hingucken. Der Pennertürke will seinen Kopf zu den Anzugarmen in den Abfalleimer stecken. Das geht nicht. Und sieht für einen Moment nichts von den Beamten der Polizei. Die sind schon da: Der eine hält den Abfalleimer fest. Der andere drückt den Kopf nach unten, so tief ein Kopf in einen Abfalleimer paßt. „Könnt Ihr nicht aufpassen auf den?” fragt der dritte. Da schlürfen Lackschuhsohlen auf dem Pflaster.

Naunynstrasse in Kreuzberg: Clevere Artdirektoren richten hier, über den Obstläden und Videotheken, ihre Arbeitsräume ein. Am Straßenrand haben hintereinander ein VW-Bus, ein Ford Escort, ein Suzuki-Jeep geparkt. Drei Jungs mit NFL-Kappen kommen den Bürgersteig runter, ihre Scout-Schulranzen ziehen sie hinter sich her. Stopp am VW-Bus. Man hört etwas wie: „Du, Alter! Nicht ich, Alter!” Und dann: „Ey, Alter, das habe ich nie gesagt!” Da nimmt einer seine Hand und klatscht einen Kopf gegen das VW-Blech, ein Schuljungenkörper rutscht, die VW-Felge runter, in den Dreck. Die Jungs treten erst den Jungen, dann was sich unter zusammengekrümmten Beinen nicht verstecken kann, immer weiter, den Bürgersteig runter, über die volle Länge des Ford Escort. Da bleibt ein Football-Käppi liegen, dahinter ein Schulranzen von Scout. Der Junge drückt seine Nase zurecht. Steht auf. Kann weiterlaufen.

In der Goltzstrasse, Schöneberg, sitzt ein Langhaariger im Schneidersitz, Mitte fünfzig, total verdreckt, vor dem Café M. Der sitzt da einfach so. Sieht man genauer hin, sieht man da noch ein Glas Orangensaft, eine Schale Müsli, eine Schale Milchkaffee auf dem Bürgersteig stehen.

Busbahnhof Zoo: Hier muß man aufpassen, daß die Busse einen nicht überfahren. Kommt gerade kein Bus, walzt ein ganzer Taxistand alles platt. Rechts liegt der Zoo-Eingang. Geradeaus einer der Zugänge zum Tiergarten: Da steht auf Sand neben Kinderwagenrädern und sonstigem Müll eine Auto-Karosserie auf Backsteinen, der Kofferraum steht auf. Im Kofferraum? Eine Cola-Dose. Da bricht, wie aus dem Nichts, ein vergitterter Mannschaftswagen der Polizei hinter einem Busch hervor und will rüber aufs Straßenpflaster. Das geht aber nicht. Da steht ein Baum. Dahinter stehen die Baugerüste „Schürz, der Hoch- und Tief- und Stahlbetonbauer” und „Oscar Fritz, der Eisen- und Bronzebaumeister”. „Jiebtet doch nicht!” schimpft der Polizist am Steuer. Man hört die Dromedare hinter den Zoo-Gittern schnaufen. Der Polizeimotor dreht sich im Sand. „Ick könnt‘ auch drüberfahren, hörste mich? Ick könnt‘ auch einfach drüberfahren!” Es gibt bloß nichts zum drüberfahren. Da steht ein Baum. Da verschwindet die Polizei in den Büschen, da, wo sie hergekommen ist.

Im Vogelsang, Dahlem, da, wo reiche Westler ihre Klos und Wohnzimmer hinter Fensterläden und Gitterstäben verstecken, trottet ein Greis mit Schürze den steilen Kopfsteinpflasterberg hinauf. Autos fahren hier nicht. Hier singen nur Vögel. Der Alte dreht sich so lange nicht um, wie er nicht unbedingt muß. Dann zeigt er in einen Korb, in dem ein rot-weißes Deckchen, darunter Berliner mit Zuckerguß stecken: „Ein Pfannkuchen, eins fuffzig, drei Stück, vier Mark!” Dann sagt er: „Nun, lasset dir aber schmecken, Junge!”

E-Werk, vom Tresor, ehemaligem Globus, davor schon mal Tresor, zu Fuß in fünfzig Sekunden bis maximal einer Minute zu erreichen: Hier läuft Techno seitdem es Techno gibt, und die Menschen haben das Technotanzen hier erfunden. Im Keller: Drum&Bass, da tanzt kein Mensch. In den Hallen hinter dem Eingang: Techno. Hier macht es: „Eins, zwei, drei, vier… Wumm! Wumm! Wumm! Wumm!” Und: „Eins, zwei, drei, vier… Wumm! Wumm! Wumm! Wumm!” Und weiter so. Überall top-aggressive und top-glückliche Gesichter. Auf einem Betonplateau tanzt ein fettes Schwein in Windeln. Auf seinem T-Shirt steht „Einsamer sucht Einsame zum Einsamen”. Auf dem Betonboden: Lachen von Wasser oder Bier. Verdrehte T-Shirts. Ein Pickliger mit Glatze knutscht jemand mit Pferdeschwanz. Da fackelt im Trockennebel eine Feuerzeugflamme auf: Ein Ledernacken umarmt einen Ledernacken. Zerdrückt einen Lederhintern zwischen den Fingern. Die Klinge von einem Butterfly-Messer taucht plötzlich zwischen den Gesichtern auf. Die steht da einfach. Die will nichts Böses. So ist das in Berlin.