Die ewige Jugend eines beleidigten Masterplans
Kopenhagen. Wir befinden uns im Zimmer der von situationistischen Eltern erzogenen Anna. Die Neunjährige hat sich auf dem Kindergeburtstag mit den Satz – „Ihr seid doof, Situationismus ist super“ – diskreditiert. Den Eltern ist egal, daß Anna für ihr mit Psychogeographien bemaltes T-Shirt verlacht wurde. Ihre Tochter darf nicht „Situationismus“ sagen, so reden nur Anti-Situationisten.
Mit einer fingernagelgroßen Kamera überträgt Anna ihren verschärften Hausarrest ins Internet. Kinder in aller Welt sehen zu, wie sie tagelang mit einer Guy Debord-Puppe spielen muß. Das Barbie-große Etwas plappert batteriebetrieben: „Wir sind eingeschlossen. Wir sind getrennt. Die Jahre vergehen, und wir haben nichts geändert“. „Schwachkopf“, Anna kickt den Schlechtfrisierten in die Ecke, wo er beleidigt weiterzetert: „Ich ließ es stets dabei bewenden, den vagen Eindruck zu vermitteln, über große intellektuelle und sogar künstlerische Fähigkeiten zu verfügen, sie jedoch meiner Zeit vorenthalten zu haben.“ Anna zischt, „mit dem Trick hast Du meine Eltern in Deinen Wahn gezogen“. Verzweifelt stellt sie das Teil auf lateinisch um, beharrlich plappert der Gummizwerg, „In girum imus nocte et consumimur igni“.
Ihr betrunkener Vater wälzt sich zur gleichen Zeit am Boden einer preiswerten Bar. Aus Gläsern gerutschte Getränke markieren amorphe Formen. Vielleicht modifiziert er wieder Pfützen zu einer Karte mit der die Familie dann in den Sommerferien durch den Schwarzwald wandern muß. Anna würgt das Imitat und weiß genau, welche Verse des Orginals jetzt im Lokal zur Melodie von „Griechischer Wein“ gesungen werden: „.. wieder ein Morgen in denselben Straßen, die Müdigkeit so vieler ähnlich verbrachter Nächte. Es ist ein Spaziergang, der lange gedauert hat. Es wäre wirklich schwer gewesen mehr zu trinken“. Anna schämt sich, daß ihre Eltern solche Lieder singen. Das Schicksal des Situ-Kindes ist in Skandinavien die Ausnahme von der Regel. Der schwedische Geheimdienst registrierte 1995 gerade noch elf situationistisch erziehende Eltern in der „Sektion Nord“. Trotzdem entwickelte sich Anna Sjölanders aus Mitschnitten einer Psychologin montierte Jugendbiografie umgehend zu einem Bestseller. Das internationale Netz der Situationisten stellt sich darin ungefähr so einflußreich dar, wie die Kirche der Scientologen und war z.B. federführend bei der Ermordung von Olof Palme. Das situationistische Strategem der Mythenbildung durch Sekundärliteratur ging wieder auf.
Begründeten Zweifeln zum Trotz soll es die Situationisten wirklich gegeben haben. Betrachtet man die gestellt wirkenden Gruppenportraits der S.I. so scheint dies schwer vorstellbar. Die Fotos vermitteln den Eindruck, es handele sich um eine Fiktion, die alle Stereotypen bemüht, um ihre Nichtexistenz zu verwischen. Die Übung bestand aber wohl darin, geschickt das Vorhandene in einen luxuriösen Mythos zu verwandeln.
Eine der theoretischen Quellen der Situationisten, Baltasar Gracian, hat dies in seinen Buch „El Heroe“ in eine griffige Formel gefasst. Unter dem Titel „Daß der Held die Unergründlichkeit seiner Fähigkeiten praktiziere“, untersucht er das Geheimnis und dessen unscharfen Rand, als Strategie der Verführung. „Daß alle dich kennen, aber niemand dich durchschaue. Mit diesem Kunstgriff wird das Mäßige viel, das Viele unendlich und Unendliche noch mehr scheinen“. Mit dieser Inszenierung einer diffusen Identität, gelang es den Situationisten, ihre Mini-Bewegung zu einer politisch relevanten Kraft zu stilisieren. Auch wird einer Realität, über die sich wenig mehr sagen ließ, als daß sie erbärmlich war, klar Absage erteilt.
Die Kunstgeschichtsschreibung möchte sich heute darauf einigen, eine handvoll über Europa verteilter Freunde habe 1957 die Situationistische Internationale« gegründet. Mit ihrer gleichnamigen, zwischen Befehlston und Verschlüsselung wechselnden Zeitschrift, unansehlichen Filmen, schmalen Büchern, derber Malerei und raffinierten Skandalen machte die Gruppe auf sich aufmerksam. Ein Großteil ihrer Zeit verbrachten die jungen Männer und Frauen mit dem obskuren Ritual, ihre wenigen Mitglieder der Reihe nach rauszuschmeißen. Heute kennt man solche Techniken der Dramatisierung von Boy-Groups wie „Take That“, sie funktioniert immer noch. 1972 lösten die letzten Mitglieder Sanguinetti, Martin und Debord die S.I. auf.
Die S.I. könnte eine Organisationsform von und für öffentliche Wichtigmacher, Blender und ehrgeizige Nichtstuer gewesen sein, die sich die Freiheit erlaubten. Schnösel oder einfach nette Leute, die die Revolution machen wollten, um nicht arm zu bleiben. Ob es den dabei ständig beschworenen Spaß wirklich gab oder Trauerklöße sich die Devotionalien eines lustigeren Lebens inszenierten, ist, da es sich um Kunst handelt, zweitrangig. Sicher konnten sich einige in der S.I. besser hervortun als andere. Begünstigt wird dies durch Rezeptionsprobleme. Was übrigblieb von den fünfzehn offiziellen S.I.-Jahren betont permanent, das es Fragment ist und vor allem eine Stellvertreterfunktion für etwas unsichtbar Bleibendes übernimmt.
Texte, wie auch dieser, schieben Debord regelmäßig in das Zentrum einer Bühne, die leer bleiben sollte. Debord liefert einerseits durch Bücher und Filme, für die er als Autor zeichnet, viel Holz, zudem machen ihn die widersprüchlichen Gefühle, die seine Persönlichkeit auslöst, attraktiv. Der Schwadroneur am Rande des Abgrunds schien dies geahnt und es teilweise auch darauf angelegt zu haben. Für das ungenannt bleibende Fußvolk vermerkte er den mitfühlenden Satz: „Der Schiffbrüchigen Namen stehen nur im Wasser geschrieben“. Die Eleganz der Anonymität und des Kollektivs scheint dem Pariser einfach abgegangen zu sein. Interessanter als Mutmaßungen über den Mangel an revolutionärer Tugend im Fall Debord scheint die Frage der politisch-ästhetischen Aktualität der situationischen Erbmasse ein Vierteljahrhundert nach deren Auflösung zu sein. Was die S.I. umschreibt sind immer wieder Formen von poetischer Politik, ein Ausdruck der erstmal zum Kotzen klingt, in dessen Daneben aber vielleicht genau das liegt, was die Kombinationsversuche von Kunst und Politik in den neunziger Jahren zielstrebig verfehlten. Permanent redete man sich in graue Löcher, in denen es molekular ungefähr so zuging, wie in gefrorener Kondensmilch. Die S.I. war mehr am Verschütten von Flüssigem interessiert, sei es nun offen oder hinter Masken. Wirkt der Begriff Potlatch heute auch etwas abgeschmackt, so gewinnt die Frage nach einem ziellos verschwendbaren Überschuß in einer Zeit staatlich verordneter Bescheidenheit doch wieder an Brisanz. Der erneuten Aktualität stellen sich aber umgehend Stilfragen in den Weg. Männer, wie Prem, Sturm und mit Abstrichen auch Jorn, die mit dem Pinsel auf wild machen und trinken bis sie umfallen sind heute in erster Linie Ausdruck schlechten Geschmacks. Ihre Nierentischmuffigkeit braucht außer dem Museum eigentlich niemand. Die jüngsten Versuche, im allgemeinen Retro ähnliche Oberflächen als Neo-Informel zu relaunchen – sei es in der Hamburger „Akademie Isotrop“ oder dem Umfeld der Kölner Galerie Buchholz – erinnern an das kleine Gespenst, die vorbeihuschende Fata Morgana einer heilen Welt, in der es noch richtige Künstler gab, die unverkennbar und empfindsam Bilder malten. Eine Sentimentalität, die sogar hübsch aussieht, deren Charme aber regelmäßig über die mitgeschleppten Knochen der Väter stolpert. Nomadenoasen, die merkwürdig das bürgerliche Phantasma des Künstlers spiegeln und für einen Moment das Gefühl aufkommen lassen, man habe sich in einer Novelle der deutschen Romantik verirrt.
Komplizierter liegt die Angelegenheit bei Debord. Der Autor der „Gesellschaft des Spektakels“ schrieb ein in sich verschobenes, altmodisches Französisch, da er die Ansicht vertrat, dies ließe sich in der Zukunft am besten Übersetzen und es ging ja um die Weltrevolution. Dieser Hang zum quasi-klassizistischen Satzbau führt zu ungewöhnlichen Lesarten. Rezipienten schwärmen von der Schönheit symetrischer Sätze, wo gar keine stehen, oder entdecken die Aufmarschpläne von Clauswitz in der Grammatik. Zwischen den glänzenden Buchumschlägen liest sich vieles schnell wie eine Wehklage über das Verschwinden gutgeschriebener Literatur. Überhaupt, die Zeiten sind schlecht und werden noch mieser. Ein begossener Pudel geht die Straße hinunter. Das Neue wird zur Wiederkehr des ewig Gleichen. Dinge, die das moderne Leben anschwemmt, werden beleidigt zur Kenntnis genommen. Die Debord-Lektüre streichelt Kulturpessimisten und an der Moderne Leidenden die geschundene Empfindsamkeit. Was in den sechziger Jahren wohl noch die Weltverachtung des Hipsters war, schmeckt heute schnell nach schlechter Laune. Die Indifferenz zwischen den Stelzen, auf denen sich die Texte bewegen, bedient zwar auch das Falsche, aber in dem verquasten Spagat, oder genauer dem was sich darunter auftut, liegt das, was die Texte weiterhin so aufregend macht. Die in ihrer gespreizten Geradlinigkeit federnde Ablehnung der verkapitalisierten Welt und der Mechanismen, die sie am Laufen halten, bleibt streng Stoff und immer an ihrer Beseitigung interessiert. Die Präzision, mit der Debord die kulturindustrielle Zementierung des Spektakels durch dessen radikale Kritik vorausgesagt hat, ist weiterhin eindrucksvoll. Problematisch scheint es aber, wie T.J. Clark dies jüngst beim Berliner „Methodenstreit“ tat – aus einer Omnipräsenz des Spektakels oder der Kulturindustrie eine verschwindende Handlungsmöglichkeit abzuleiten. Dies scheint angesichts der Aufsplitterungen, Segmentierungen und anderer Veränderungen der kulturellen Produktion vor allem innerhalb der letzten Jahre nicht mehr adäquat. Auch der Stand, den Debord beschreibt, wirkt inzwischen überholt von den kritisch beschleunigten Formationsversuchen des Kapitalismus, liefert aber eine aussichtsreiche Plattform für aktuelle Beschreibungsversuche.
Unter den selbsternannten Erben des Situationismus, einer kleinen Gemeinschaft, die seit Jahren zankt, wem denn nun die „Situationisten gehören“ und wie das Hinterlassene richtig zu behandeln ist, gibt es selbstverständlich Einwände gegen eine Situationisten-Ausstellung im Museum. Zwar handelt es sich spätestens seit Greil Marcus’ höchst unterhaltsamen, wenn auch wenig informativen Buch „Lipstick Traces“ um alles andere, als ein Geheimwissen. Auch gehen Debord-Titel inzwischen bei Gelegenheiten wie Geburtstagen guter Freunde oder Weihnachten schon öfter über den Ladentisch, nur bricht die Mehrheit nach eigenen Angaben die Zumutung der Lektüre schnell wieder ab.
Erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind auch die merkwürdigen Memoiren Debords, „Panegyrikus“. Neuaufgelegt wurde das ausführlich recherchierte Standardwerk „Phantom der Avantgarde“ von Roberto Ohrt. Interesse besteht also und reicht von fein gekleideten Hobbybohemiens über interessierte Freunde der Kunst bis zu ernsthaften Neuerfindern eines scheinbar völlig aus der Mode gekommenen Subversionsbegriffs. Der Hamburger Privatgelehrte und Betreuer verschiedener Jugendzirkel Ohrt richtet einen Großteil der mittelgroßen Ausstellung im Wiener 20er Haus ein. Wie in seinem Buch geht er dabei von der Prämisse aus, daß es eine über zwanzig Jahre verschwiegene Geschichte der Situationisten gegeben hat, über die zuerst Aufklärung geleistet werden muß. Zudem spräche eine Selbsteinschätzung der Situationisten als Kinder der geliebten Mutter Dada und des verachteten Vaters Surrealismus für eine Einordnung in die Kunstgeschichte. Im Zentrum des von Ohrt in Szene gesetzten situationistischen Materials steht die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Propaganda. So werden sowohl die textlosen Klecksografien Asger Jorns, als auch deren Weiterbearbeitung oder Politisierung durch Debord zu der Gemeinschaftsarbeit „Memoires“ gezeigt. Dieses Vorgehen mag etwas formal wirken, scheint in den Perspektiven, die es eröffnet, aber sinnvoll. Der ökonomische Kontext des malenden Teils der S.I. wird offengelegt, in dem die Bilder in Fenster gehängt werden, so das die auf ihren Rückseiten verzeichneten Reisen durch den Kunstmarkt lesbar werden. Das Material in Abbilder ihrer Zeit eingebunden. Von den silbernen Covern des S.I. Magazins werden Analogien zu ähnlich gestalteten Broschüren, mit denen sich die Industrie zu jener Zeit darstellte, gezogen. Hinter den Vitrinen befinden sich Monitore, auf denen drei Filme aus dem Jahre 1959 zu sehen sind, deren Handlung darum kreist, daß Jugendliche in ihnen gutaussehend herumlungern. Auf kleinem Raum entfaltet Ohrt ein komplexes Netz der Verweise, das einerseits dem Ausgangsmaterial Raum läßt, dabei aber gleichzeitig einen in verschiedene Richtungen laufenden Subtext entwickelt. Kunsthistorisch zeichnet sich durch die Betonung der Durchsicht und Zerlegung in verschiedene Ebenen vor allem eine Linie zu Marcel Duchamp ab. Soziopolitisch wird die Zeitbezogenheit deutlich, aus der die S.I. agierte. Dabei geht es nicht um eine entschärfende Historisierung, sondern darum, freizulegen, was im Zusammenhang der Zeit von Bedeutung ist und welcher Rest bleiben könnte. Die Ausstellung macht deutlich, daß die S.I. einerseits einer Bipolarität von „Inhaltismen“ und formalen Mitteln widersprach und sich oft zielstrebig in das Labyrinth von deren Verwobenheit bewegte, sich darin aber auch verlor. Dieser Ansatz, und möglicherweise gerade die Verirrung, das Zeichen gewordene Sich Verlaufen als mögliche Form, könnten bei der anstehenden Neuerfindung der Verquickung politischer und künstlerischer Techniken immer noch produktiv gemacht werden.