The Great Swindle of Neu

Essay
zuerst erschienen im Frühling 2002 in Starship Nr. 5, S. 24ff

Als Treffpunkt hatten wir die Kantine im obersten Stockwerk eines Kaufhauses für Sportartikel vereinbart. Nach der Mittagspause war das ein relativ anonymer Ort, an dem man von nicht gesehen wird. Obwohl ich pünktlich war, wartete er schon. Wir kannten uns nur flüchtig vom Studium an der Kunsthochschule, aber das lag fünfzehn Jahre zurück. Später hatte ich ihn nur gelegentlich aus der Ferne auf Partys gesehen. Schnell bewegte er sich durch die Räume, wie es sich für einen gehört, der von sich behauptet, er arbeite dreiundzwanzig Stunden und neunundfünfzig Minuten am Tag.

Jetzt saß da nur noch der Schatten, dieser gerade noch so neuen Form von Popstar, in dessen Haut er die letzten Jahre durch alle Medien gewandert war, am Tisch. Es war noch zu erkennen, dass er es gewesen sein musste, diese clever nach Oben gefallene Version eines Ferienclub Animateurs. Einer, der bei jedem Wetter wie am Fließband Ideen produzierte und sie vor allem in Millionen zu verwandeln wusste. Einer der immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war, der die Kunst beherrschte, der Zeit den Puls zu fühlen, ihren anormalen Humor zu verstehen.

Überall hatte er seine Begeisterung über sich oder das Phänomen, für das er stand, verbreitet und gleich noch die Interpretation dazu geliefert. Sätze wie, er führe ein sequenzielles Leben oder, dass Omnipräsenz das oberste Gebot in einem kommunikativen Netzwerk darstelle, waren ihm, als wäre nichts dabei, aus dem Mund gesprudelt. Jetzt sah er so aus, als wolle er am liebsten im nächsten Moment unter dem Tisch verschwinden.

Nachdem wir uns begrüßt hatten, sagte er, er sei unsicher gewesen, ob ich kommen würde. Beim Aufwachen wisse er oft nicht, ob überhaupt noch jemand mit ihm sprechen wolle. Die Schlagzeilen ­ „vom Highflyer zum Penny Stock“ ­, lagen erst zwei Monate zurück. Aus dem Ranking der hundert wichtigsten Internetköpfe war er längst verschwunden. Und nach seinen ehemaligen Vorstellungen vom kostbaren Gut der Aufmerksamkeit, das sorgfältig verteilt sein wollte, war es wirklich Zeitverschwendung, sich mit ihm zu treffen.

In den Wochen nach dem tiefen Fall war er nur noch in einigen kleineren Artikeln aufgetaucht. Das Insolvenzverfahren war eingeleitet worden, Gerüchte über Insidergeschäfte wurden laut. Die Staatsanwaltschaft begann gegen den Famous Angel, den Entepreneur des Jahres 2000 zu ermitteln. Dann wendete sich das Blatt, plötzlich tauchten Übernahmeankündigungen auf, die sich aber genauso schnell wieder zerschlugen und den Kurs seiner Aktien noch tiefer sinken ließen.

Ob ich mich noch erinnern könne, dass er während des Studiums als Kartenabreißer im Kino gearbeitet habe, fragte er jetzt. Ich nickte. Dort habe Ende der achtziger Jahre alles angefangen. Zuerst bemerkte er, dass Erkundigungen über ihn eingezogen wurden. Von wem, das wusste er nicht. Er fühlte sich eine Weile beobachtet, aber ihm fiel kein Grund ein, aus dem sich jemand für ihn interessieren sollte. Das ging ein paar Wochen so, bis er von Leuten, die er bis dahin nicht kannte, nach der letzten Filmvorführung zum Essen eingeladen wurde. Mitten im Gespräch begannen sie ihn mit seinem ägyptischen Namen anzureden. Da er sah, dass ich nicht verstand, erklärte er, sein Name, dieser für das Gewerbe perfekte Name, dieses angeborene Logo, sein Schlüssel zum Erfolg, war gar nicht sein richtiger Name. Die Deutschen konnten seinen Familiennamen nur schwer aussprechen, deshalb hätte sein Vater die Familie in einen ähnlich klingenden Gegenstand umbenannt.

Die Leute mit denen er aß, wussten noch viel mehr. Als alles fein ausgebreitet auf dem Tisch lag, machten sie ihm ein Angebot. Er sollte nach ihren Anweisungen an einer großen Illusion mitarbeiten. Welche Ausmaße dieser Plan annehmen sollte, überstieg zu diesem Zeitpunkt seine Vorstellungskraft. Sie sprachen auch von Geld, aber das schien für die Beiden keine Rolle zu spielen, vermutlich waren seine Vorstellungen auch einfach lächerlich für ihre Verhältnisse.

Wenige Wochen später fuhr er zum ersten Mal zu einer der Strategie-Sitzungen, von denen er in den nächsten Jahren Dutzende besuchen sollte. Dreimal musste er in immer kleiner werdende Züge wechseln, um schließlich in einem unauffälligen Konferenzhotel zu landen, wo sich ansonsten vermutlich Heilpraktiker und Bienenzüchter trafen. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen begann das Paar, das ihn angeworben hatte, mit Hilfe einer Overheadfolie den ersten Abschnitt von ‘Neu A, B, C‘, wie der Plan intern hieß, zu erklären. Die kleine Gruppe, die den b eiden zuhörte, war bunt zusammengesetzt: Ein holländischer Hausbesetzer, zwei scheinbar angetrunkene Performance-Künstler, ein aus Amerika eingeflogener Alt-Hippie, zwei Hacker, ein Germanistik- Professor und er. Allen war es ein wenig unangenehm, hier zu sitzen, kamen sie doch aus anderen Zusammenhängen. Es sollte noch eine Weile dauern bis sich die Situation entspannte. Das Paar erklärte, dass es in Abschnitt Neu A des auf zehn Jahre angelegten Planes darum ging, innerhalb des Kunstbetriebs Technologie als Produktionsmittel für kulturelle Innovationen zu lancieren ­ hier seien das Know how und die Kontakte des Teams gefragt.

Die in den Achtzigern verbreitete Skepsis gegenüber Computern und vor allem deren Vernetzung sollte durch die Entwicklung eines avancierten Diskurses rund um die ‘Neuen Medien‘ schrittweise in ihr Gegenteil verkehrt werden. Ausgangspunkt für diesen Paradigmenwechsel sollte das kulturelle Feld, speziell die Kunst sein. Anhand eines komplexen Diagramms, wurden Orte ­ Ausstellungen, Zeitschriften, Verlage, Galerien und Konferenzen­ markiert, von denen aus sich diese Erzählung in Richtung einer breiteren Öffentlichkeit fortpflanzen sollte. Zwar wussten sie, dass die internationale Organisation, also ihre Auftraggeber, noch eine Reihe anderer Kleingruppen, ähnlich der, in der sie selbst gerade saßen, instruierten, genaueres erfuhren sie nicht. Aber nachdem sie den Plan kannten, lag es eigentlich auf der Hand für wen sie arbeiteten.

Innerhalb des Abschnittes Neu A sollte er die Rolle einer Randfigur besetzen. Einer, der alle kannte und immer dabei war, sei es auf den wichtigen Partys oder bei einem interaktiven Fernsehprojekt auf der documenta, aber nicht aktiv wurde oder sich exponierte. Gut, er machte Grafik, gestaltete Plakate, sehr schöne Plakate fürs Theater, kommunale Kinos, Fun Punk-Bands, wie die Goldenen Zitronen oder für die Hafenstrasse, sein eigentlicher Auftritt war erst für viel später geplant.

Die aktiven Figuren aus Neu A sollten zugunsten der zweiten Generation in Abschnitt Neu B im Winter nach der documenta 1992 ausgewechselt werden, genauer gesagt verschwinden, dieses Bauernopfer sei immanenter Bestandteil des Mechanismus, den sie Hype nannten, ein Wort, das damals noch nicht die ihm bevorstehende Konjunktur erlebt hatte. Innerhalb von Neu B würde er eine aktivere Rolle besetzen, wenn auch weiterhin am Rand bleiben. Nun würden an die Stelle des diffusen, gelegentlich ins esoterische kippenden Diskurses rund um die `Neuen Medien´ die Rede von den `Neuen Technologien´ treten. Die Vorstellung vom Neuen sollte handfester werden, um so nun eine breitere Masse anzusprechen, was nur über den Kauf von Waren möglich sei.

Im Licht der Scheinwerfer würden zwischen 1993 und ‘95 die Techniker stehen. Ein Gruppe Schweizer Physiker würde eine Technologie erfinden, die sich World Wide Web nennen würde. Eine Erweiterung einer alten Kriegstechnologie, die unter dem neuen Label aber eine regelrechte Massenhysterie auslösen sollte, bei der jeder dabei sein wollen würde. Zu seinem Auftrag gehörte es, kurz vor dieser Wende des Plans, eine kleine, aber solide Firma mit drei Angestellten zu Gründen, was er, wie ich ja wisse, auch getan habe.

Innerhalb dieses ersten großen Wirbels um die neuen Technologien sollte er aber weiterhin nur in der zweiten Reihe agieren. Dieser Teil des Plans würde mehr Zeit brauchen, da zwischen den Maschinen und ihren Benutzern eine so starke Vertrautheit hergestellt werden musste, das sie glaubten, es habe kein Leben ohne diese Technik gegeben. Vor allem musste ein Glaube in ihr zukünftiges Potential hergestellt werden.

Teil von Neu B sei es, die Kritik an diesem Neuen mitzuinstallieren, um so die entstehende Formation zu stabilisieren. Kritisiert werden sollte, neben dem Verlust bürgerlicher Rechte, vor allem, dass es hier um nichts anderes ginge als die Zirkulation von Waren beschleunigen. Zwar sei ihre Organisation auch daran interessiert, dass die Leute diese Geräte kaufen, um damit wiederum andere Dinge zu kaufen, ihr zentrales Anliegen, von dem abgelenkt werden sollte, sei es aber, ein offensives Investitionsklima am Geldmarkt herzustellen. Viel von dem Kapital, das die Nachkriegsgeneration gehortet hätte, würde in rund sechs Jahren, also Mitte der Neunziger Jahre, aufgrund der durchschnittlichen Lebenserwartung disponibel werden. Zudem würden die Veränderungen des politischen Gefüges die Notwendigkeit größerer Investit-ionen innerhalb der Wirtschaft mit sich bringen, wofür es notwendig wäre größere Mengen privat geparkten Kapitals zu mobilisieren.

Bevor dies innerhalb von Neu C passieren sollte, sah der Plan vor, dass seine Firma auf mehrere hundert Mitarbeiter expandiere, während er aufgeregt Sätze, wie „heute seine Claims für morgen abstecken“, ins von allen Seiten hingehaltene Mikrophon zum besten gab. Als er diesen Satz sechs Jahre zuvor in seinem Script las, schien er ihm lächerlich, später konnte er ihn problemlos fünfzig mal am Tag wiederholen.

Im Juni 1999 war es soweit. Er trat ins Zentrum des Plans. Vier Millionen Aktien, auf denen sein Namen stand, wurden zur Zeichnung angeboten und fanden reissenden Absatz. Emissionspreis lag bei 6,15 Euro, der erste Kurs mit 17 Euro festgestellt.

Mit Kunden wie BMW, Lufthansa, Dresdner Bank oder der Rothschild Bank galt er als genauso solide und war gleichzeitig innovativ. Einem wie ihm, konnte man vertrauen, er war ein Pionier im Feld der neuen Medien gewesen, ein E-Consulter der ersten Stunde und dann noch aus Stuttgart. Man sagte ihm hohe Wachstumsdynamik und systematische Neuakquisitionen nach. Genau das, worüber er später stolpern sollte.

In Neu C hiess das Neue nicht mehr Technologie, sondern Ökonomie. Statt Hardware wurden nun Hoffnungen auf Erträge in der Zukunft verkauft. Er wisse auch nicht, warum er so selten daran gedacht habe, dass der Plan, genauer seine Rolle darin, irgendwann, er wusste genau wann, zu Ende sein würde.

Er hatte gewusst, dass „seine“ Aktien innerhalb weniger Tage, von 80 Euro auf 50 Cent absacken würden. Zehn Jahre vorher hatte er das Szenario des Tages gelesen, an dem die ersten Mitarbeiter beim Einschalten ihrer Computer bemerkten, dass über Ostern ihre Passwörter geändert worden waren und ihnen noch eine Stunde an diesem Dienstagmorgen blieb, um ihre Schreibtische zu räumen. Als es passierte, dachte er, er würde gleich verrückt. Nicht weil alles so kam, wie sie es ihm vor so langer Zeit in dem schäbigen Konferenzraum dieses zwei Sterne Hotels in einer kleinen Stadt erklärt hatten, sondern vor allem, weil er auf der letzten Seite seines Drehbuchs angekommen war. Zwar wusste er was jetzt kommen würde: Neu Abschnitt D, ein schales Katerfrühstück am Morgen der Party. Aber in Neu D war kein Text mehr für ihn vorgesehen, er spielte dabei einfach keine Rolle mehr. Er hörte sie sagen, die Blase sei geplatzt, das Geld verschwunden ­ es ließ sich auch anders sehen, aber seltsamerweise fragte fast niemand danach. Das wundersam verpuffte Geld wurde einfach als Wirklichkeit angenommen. Wahrscheinlich hatte es das alles nie gegeben. Es fragte wohl auch keiner, weil sich fast alle in dieser Version des Neuen wie ein Fake vorgekommen waren. Zumindest darüber hatte er eine Gewissheit, er war einer gewesen.

Sicher, sein Honorar hatte er wie vereinbart zur Seite geschafft, aber was nützte das, gab es ihn doch gar nicht mehr. Er war verbrannt. Anscheinend wusste er jetzt nicht einmal mehr, was er mir jetzt noch sagen konnte, wahrscheinlich nicht einmal, warum wir uns eigentlich getroffen hatten. Er sprang auf, rannte zur Rolltreppe und verschwand im Bauch des Kaufhauses.