Eine Menge frisst einen Fleck

Essay
zuerst in englischer Übersetzung erschienen 2016 in Starship Nr. 14

Er starrt mich stumpf an. Sein Blick bohrt sich in mich hinein. Ich ertrage es nicht mehr und ziehe die Bettdecke über den Kopf. Aber selbst im Versteck hält er mich davon ab, zu tun, was ich möchte. Dafür muss er mich gar nicht zu sehen. Es genügt ihm, mich zu riechen. Er braucht mich nicht einmal zu riechen, es reicht die Vorstellung, er könnte es tun. Vielleicht ist er auch schon lange kaputt oder nur eine leere Hülle, die dazu führt, dass ich die Zigarette mit vorauseilendem Gehorsam in die Zukunft aufschiebe. Würde ich rauchen, könnte es zu einer Kettenreaktion kommen. Der Blinde täte das Einzige, was er kann: Rauch melden und Alarm schlagen. Sekunden später würde das Reinigungsmanagement dann gegen die Tür hämmern, um als menschliche Verlängerung, der mich überwachenden Riechmaschine, das Zimmer zu stürmen. Ich stelle mir das wild vor, dabei laufen solche Zugriffe meist diskret ab. Nach meinem Vergehen würde nichts passieren. Ich wüsste nicht einmal, ob der Melder meinen Rauch überhaupt wahrgenommen hätte. Bis zu meiner Abreise bliebe ich im Ungewissen, um dann fast erleichtert, da endlich im klaren darüber, tatsächlich erwischt worden zu sein, neben der Minibar die Bereinigung meines Geruchs in Höhe von hundertfünfzig Euro zu bezahlen. Der Portier würde sich nicht die Mühe machen, mir zu erklären, wie es zu der Inanspruchnahme des Services gekommen wäre, sondern, während er auf den Bildschirm starrt, allein auf mein Schuldbewusstsein setzen. Und falls ich doch nicht zahlen wollte, weiß er, bisher knickten alle ein, wenn ihnen gesagt wurde, man hätte gerochen, was sie getan hätten. Den Preis einer Geruchsbeseitigung habe ich in der Anleitung zum Hotelzimmer gelesen, die in einem Ordner auf dem Tisch lag. Eingewilligt habe ich in die als Service verpackte Strafe durch meine Kreditkartennummer, welche ich als Pfand hinterlegen musste. Langsam schiebe ich jetzt meinen Kopf unter der Decke hervor, zurück ins Licht und betrachte die Seriennummer 225/16 der elektronischen Nase meines Vertragspartners. Jetzt einfach am Fenster zu rauchen geht auch nicht, da die Fenster im 9. Stock, wegen der erhöhten Gefahr hinunter zu springen, fürsorglich verschlossen wurden. Der Aufschub der Zigarette trägt einen Wirbel in meinem Kopf. Die Lust zu rauchen besiegt den Unwillen mich anzuziehen. Ich springe in meine Trainerhose und verlasse das Zimmer. Auf dem Weg zum Fahrstuhl markieren Bleichmittelflecken am Boden vergangene Zwischenfälle. In den Auslöschungen soll verschwinden, was Blut, Rotwein oder menschliche Auswürfe einmal angerichtet haben. Die hell in den Teppich gefressenen Angriffe der Chemie erinnern mich an eine Arbeit von Laurence Weiner, die ich vor zwei Wochen gesehen habe. An Amount of bleach poured upon a rug and allowed to bleach war Teil einer umfangreichen Ausstellung über das Leben des Teppichhändlers und Galeristen Seth Siegelaub. Weiner hatte 1969 für dessen January Show die mit Schreibmaschine getippte Anweisung gegeben, auf der schwarzen Auslegeware der Galerie Bleichmittel zu schütten und das Mittel zur Wirkung kommen zu lassen. Die Galerie steht jetzt als Modell in Originalgröße im Stedelijk Museum und die Anweisung von Weiner wird noch einmal ausgeführt. Der reinigende Fleck wirkt frisch zwischen all den Werken, an denen der Zahn der Zeit genagt hat, und einem neuen Stuhl, ähnlich jenem, auf dem Siegellaubs Assistentin Adrian Pieper einmal gesessen haben soll. Ich stelle mir vor, der Fleck könnte auch in eine Ausstellung der vergangenen Jahre geschummelt werden, ohne das es groß auffiele. Ein Industrieprodukt greift ein anderes Industrieprodukt an. Es kommt zu einer ungleichmäßigen Zerstörung, deren fadenscheinige Aufhellung nicht mehr übertüncht werden kann. Die Textur liegt bloß. Das Gewebe verliert seine Glätte. Ein Gleichmaß löst sich in unterschiedliche Tiefen und Verläufe auf. Das Auge glaubt, durch kalkweiße Löcher in die transparente Materie hineinschauen zu können. Jetzt öffnet sich die Lifttür. Eine skandinavische Reisegruppe saugt mich in sich auf, um mich schon wenige Sekunden später wieder auszuscheiden. Vor dem Hotel werde ich Teil einer anderen Gruppe, deren Mitglieder genau wie ich, von Teetassen-großen Plastikteilen unter den Decken ihrer Vertragsräume eingeschüchtert wurden. Die Gruppe sieht schlimm aus. Ich schäme mich, werfe die Zigarette nach wenigen Zügen weg und eile in den Frühstücksraum. Auf dem stummen Flachbildschirm wird dort ein phänomenaler Afrikaner gezeigt, der mit seinen Zähnen Nägel aus Brettern reißen kann und sich anschließend von Autos überrollen lässt. Jetzt steigen sechs hellhäutige Männer in einen Landrover und rollen los, aber der Phänomenale knickt ein. Seine Leistungsgrenze scheint erreicht. Verstört starre ich auf meinen Teller und denke durch das Rührei an die von Seth Siegelaub entworfenen Verträge, mit denen der Verkauf immaterieller Projekte, als neue Warenform der Kunst, geregelt werden sollte. Zunächst stellte er jedoch einfach Räume zur Verfügung, bei denen es sich auch um ein Buch oder Poster handeln konnte, in denen definierte Gesten zu einer bis dahin unbekannten Form von Arbeit erklärt wurden. Im Falle von Weiner lässt sich das Geschüttete in seiner Wirkung bedingt kalkulieren, entwirft aber eine Dynamik des Unabsehbaren. Keine Bleichung konnte wie die andere ausfallen. Ließ sich der Vorgang in einem Satz definieren, blieb der Fleck unbeschreiblich. Die Arbeit wirkt so schön, weil sie mit ganz wenig, fast gar nichts, ein Gewebe der Widersprüche entspinnt. An Amount … folgt den Linien einer Konzeptkunst, die sich ins Immaterielle zurückzieht. In ihr materialisiert sich aber auch etwas, in dem ein Material Anteile von einem anderen wegnimmt. Die Ausführung der Instruktion frisst sich als Menge in den Stoff, löscht die Farbe aus und zersetzt das Gewebe. Was als Auslöschung bleibt, changiert zwischen amorpher Quasi-Natürlichkeit und der Banalität des Alltäglichen. Das von einem beliebigen Akteur ausgeführte Wirken der industriell hergestellten Menge hat den Anschein von persönlicher Anonymität, aber gleichzeitig eine Körperlichkeit, die für einen Moment an Körperflüssigkeiten erinnert, die weiße Spuren hinterlassen. Genau genommen besteht aber keine Notwendigkeit, den definierten Einbruch in die Oberfläche des Teppichs durch ästhetische Assoziationen zu erweitern. An Amount …  ist einfach da und dabei aber nicht „Gleichgültig gegenüber seiner materiellen Bedingung“, wie Suhail Malik die angebliche „Anti-Ästhetik“ der instruction pieces jüngst zu definieren versuchte. Maliks Wunsch, die Möglichkeit einer Anti-Ästhetik im spekulativen Themenpark zu neuem Leben zu erwecken, wirkt zwar ausgesprochen verständlich, aber letztlich kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, als ob Malik dabei eine Wahrheit für seine realistische Pointe, den „Grund für die Zerstörung der zeitgenössischen Kunst“ verrät. Zwar entstammt der bleiche Fleck jenem Kosmos, den Benjamin Buchloh einmal „Ästhetik der Verwaltung“ genannt hat. Auch ist das Ausgeblichene vertragsähnlich vorformuliert, es erschöpft sich aber nicht in dieser Definition. Durch die Ausführung der Handlung kommt es zu einem mehr. Die in das Gewebe eindringenden Menge führt zu einer sich materialisierenden Störung, welche die Ordnung durchlöchert. Was sich öffnet, sind Durchgänge, durch die sich Fluchtlinien entrollen könnten. Solche Nadelöhre scheinen vielversprechender als Maliks martialischer Ruf nach Zerstörung des Überbaus. Mag der Wunsch, einer in sich vergangenen Schlaufe zwischen Ding und Betrachter zu entkommen, höchst verständlich wirken, führen gebrüllte Aufrufe, die bestehende Ordnung in zu Klump zu hauen, meist nur dazu, Drei gerade sein zu lassen, damit die Pointe aufgeht. Auch stellt sich die Frage, ob man für die Flucht aus den Sackgassen der zeitgenössischen Kunst überhaupt soweit in die Vergangenheit zurückkehren muss?

Für Seth Siegelaub jedenfalls hatte sich das Abenteuer der Konzept-Kunst schon Anfang der siebziger Jahre erschöpft. Hier beginnt der Hauptteil der Amsterdamer Ausstellung Beyond Conceptual Art, was in einer Zeit, in der das Verlassen der Kunst en vogue scheint, nicht überrascht. Siegelaub sperrte die Galerie zu und arbeitete stattdessen an einer alternativen Zeitung in New York. Als diese nicht auf die Beine kommen wollte, übersiedelte er nach Paris und baute dort ein Archiv marxistischer Medienanalyse auf. Auf eine Art lässt sich sagen, er begann, sich von der Zukunft als konkreter Möglichkeit abzuwenden. Während die Galerie noch ein Raum oder Nicht-Raum war, in dem etwas bis dahin Ungeschehenes passieren konnte, kommentierte die Medienkritik Gegebenheiten und aus ihnen resultierende Annahmen. Die Bewegung vom Ermöglichen dessen, was bisher nicht war, hin zum untersuchen dessen, was ist, beschleunigte sich noch einmal Anfang der Achtzigerjahre, als Siegelaub begann, handgewebte Stoffe und Stoffe aus Regionen außerhalb des Westen zu sammeln. Er stellte damit das ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, womit er den Anfang seines Weges finanziert hatte. Anders formuliert, vollzog Siegelaub eine Kurve von der Auflösung der Materie in der Kunst, über die materialistische Kritik der Informationsindustrie, hin zum Sammeln von Stoffen, deren offene Enden schon lange verknüpft sind. Er sammelte materialisierte Geschichte und gibt seinem Leben damit buchstäblich eine konservative Wende. Die Gegenstände seine Aufmerksamkeit konnte er jetzt kontrollieren, was sich in einer Aussichtsplattform wiederspiegelt, mit der die Ausstellungsarchitektur den Besuchern erlaubt, die Vitrinen, in denen die Stoffe drapiert sind, von oben zu überblicken. In den letzten Lebensjahren kommt es jedoch zu einer weiteren Wende. Siegelaub verfasste mit Time and Causality ein Buch zur Theoretischen Physik und öffnete damit noch einmal eine andere Tür in eine Raum-Zeit-Welt, in der eins nicht mehr aus dem anderen folgte, in der sich aus dem wie es war, nicht mehr sagen liess, wie es sein würde.

Seth Siegelaub, Beyond Conceptual Art, Stedelijk Museum, Amsterdam, Ende 2015.