Der Code der Oper

Essay
zuerst erschienen am 23. Oktober 2022 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Wenn man die Pausengespräche in einer Opernpremiere hört, wie zuletzt beim neuen »Ring des Nibelungen« an der Berliner Staatsoper, und die ersten Kritiken liest, scheint es in der Oper um vieles zu gehen, aber kaum je um das, was doch ihr Ziel sein sollte: Musiktheater.

Die Gespräche kreisen ums Bühnenbild, um das Setting, in dem der Regisseur das Stück anlegt – seine Deutung –, um die Stimmen der Sänger, um den Dirigenten. Was in den Bühnenbildern und dem Setting geschieht und in welchem Verhältnis das zur Musik steht, scheint keine große Rolle zu spielen, dabei ist es doch das, was wochenlang geprobt wurde und was die musiktheatralische Qualität einer Aufführung bestimmt.

Wagner selber hat sich kaum zur Opernregie geäußert, was erstaunlich ist, ging es doch fast keinem Künstler vor oder nach ihm so sehr darum, richtig verstanden und aufgeführt zu werden. Er veröffentlichte unzählige programmatische Schriften, erklärte sich in »Mitteilungen an seine Freunde«, Briefen und Gesprächsnotizen. (Diesen Selbsterklärungsdrang vererbte er übrigens auch seinen Figuren im »Ring«, vor allem Wotan und Alberich mit ihren Monologen.) Auch wenn Wagner zur Regie nichts publizierte, lassen sich aus seinen musikphilosophischen Überlegungen doch Hinweise ableiten, die bis heute inspirierend sind.

Alle Musik stellt für ihn die Frage nach ihrer ästhetischen Daseinsberechtigung, nach »jenem verhängnisvollen Warum?«, wie er schreibt. Absolute Musik, die das Warum? aus sich selbst heraus beantworten zu können glaubt, betrachtete er als eine ungesättigte Zwischenstation der Musikgeschichte, zwischen der aus dem Tanz geborenen Instrumentalmusik des Barock und, als geschichtlichem Höhe- und Endpunkt, dem – seinem – Musikdrama. In der Instrumentalmusik lieferte der Tanz die Begründung für die Musik, im Musikdrama das Geschehen auf der Bühne.

Für Wagner gibt es also eine zwingende Beziehung zwischen Aktion und Musik. Und zwar nicht nur eine der Synchronität (»dumm doppeln« nannte das der Regisseur Harry Kupfer), sondern eine von Ursache und Wirkung. Die szenische Aktion löst die Musik aus. Sie ist es, die den Komponisten zu komponieren, das Orchester zu musizieren und den Sänger zu singen legitimiert.

Übersetzt in die Praxis der Probebühne heißt das, dass der Regisseur der Musik ihr inhärentes szenisches Profil abzulauschen und es in Blicke, Gesten und Gänge, Lichtstimmungen und Verwandlungen zu übersetzen hat, in ein Geschehen, das nun wiederum diese Musik aus sich hervorbringt. Der Sänger muss mit seiner Aktion die musikalische Reaktion hervorrufen, er muss der Musik zuvorkommen, so dass idealerweise die gesamte Partitur im Jetzt aus der Inszenierung zu entstehen scheint. (Um wieviel muss er früher sein als die Musik? Tja, das ist eine Sache des Gespürs. Vielleicht um soviel früher, wie ein guter Operndirigent, sagen wir Antonio Pappano, seiner Sängerin den Einsatz gibt.)

Wenn Brünnhilde im neuen »Ring« zu Beginn der »Götterdämmerung« erwacht, dann darf nach dieser Überlegung nicht sie auf den ersten Akkord des Orchesters reagieren, sondern ihre Bewegung muss den Akkord hervorrufen. Für die Sängerin ist das natürlich viel schwerer, denn sie wartet nun nicht mehr auf ihr musikalisches Go!, sie muss alles neu erschaffen, auch im weiteren Verlauf des Abends, sie muss die Oper komponieren und dirigieren. Reagiert sie hingegen nur, entsteht der sehr häufige Eindruck, die Aktion erzähle uns etwas, was wir ohnehin schon wissen, und dem sei eine konzertante Aufführung vorzuziehen.

Berlin ist in der vermutlich einmaligen Situation – die auch mit guten Argumenten kritisiert wird –, dass zwei der besten Opernregisseure fast gleichzeitig den »Ring« auf die Bühne gebracht haben, Stefan Herheim letztes Jahr an der Deutschen Oper, Dmitri Tcherniakov jetzt an der Staatsoper. Neben allen äußerlichen Unterschieden der Ansätze und Handschriften der beiden (genau gleich alten) Regisseure sind die Inszenierungen diametral verschieden in ihrem Umgang mit der Musik. Herheim inszeniert jede musikalische Wendung, Tcherniakov fast keine.

Am Ende des Prologs der »Götterdämmerung« verdüstert sich die Musik. Die mediokre Welt der Gibichungen kündigt sich an, der nahe Tod Siegfrieds, der Untergang der Götter. All das vollzieht sich in wenigen Takten. Die heitere Musik des Rheins und der Liebe Siegfrieds zu Brünnhilde wirkt auf einmal wie verschimmelt. Bei Herheim bedecken Alberich und sein Sohn Hagen während dieser Musik den die Räume dominierenden Konzertflügel mit einem weißen Laken und stellen sich, kurz vor dem entscheidenden Harmoniewechsel, einander gegenüber. (Für Nerds: das überraschende e-Moll im zwölftletzten Takt des Vorspiels.) Alberich scheint seinen Sohn auf den Mord Siegfrieds einzuschwören. Auf diese Weise antizipiert, entfaltet die Musik ihre Kraft, und es läuft dem Zuschauer kalt den Rücken herunter. Bei Tcherniakov geht dieser Moment innerhalb einer imposanten szenischen Verwandlung uninszeniert unter, und so hält er es mit beinahe allen musikalischen Impulsen. Er verweigert die szenische Motivierung der Musik, die nun, Wagner zufolge, die Frage nach ihrem Warum? stellt. Sie löst sich vom dramatischen Geschehen und regrediert zum atmosphärischen Soundtrack.

Wie kann es sein, dass einer der besten Opernregisseure der Gegenwart, der in Moskau und Paris einen bewegenden »Eugen Onegin« inszeniert hat, einen faszinierenden »Boris Godunow« in Berlin, letztes Jahr den spannenden »Fliegenden Holländer« in Bayreuth – dass dieser Regisseur auf das stärkste Mittel seiner Kunst verzichtet? Gehört für ihn die Verschmelzung von Szene und Musik ebenso zum alten Eisen wie Gold, Tarnhelm, Schwert und Feuerzauber, die in seinem »Ring« keinen Platz haben? Wenn die Musik nicht szenisch motiviert wird, ist das jedoch keine – jederzeit legitime und notwendige – Neuinterpretation des Werks, sondern eine Neuinterpretation der Gattung Oper. Zu ihrem Vorteil?
Die vielen Buhs gegen Tcherniakov mögen zum Großteil von konservativen Zuschauern stammen, die seine Entmythologisierung des »Ring« ablehnen. (Ob sie sich, wie immer unterstellt wird, einen Siegfried im Bärenfell von 1876 oder 1930 zurückwünschen, ist zu bezweifeln. Vermutlich ist es eher eine Bühnensprache der 70er/80er Jahre, nach der sie sich sehnen, die Sprache Patrice Chéreaus oder Harry Kupfers, vielleicht sogar Robert Wilsons.) Einige Buhs mögen aber auch auf die Entmusikalisierung dieses »Ring« zielen. Und die Mehrheit der Zuschauer kann den Grund ihres Unbehagens vermutlich gar nicht benennen, registriert aber eine gewisse Unberührtheit nach den vier Opernabenden – von der Begeisterung für die Sänger und den Dirigenten Christian Thielemann einmal abgesehen.

Und das mag genau daran liegen, dass Tcherniakov den Code der Oper nicht nutzt, trotz der vielen intelligenten, mit herrlichem Humor entwickelten Szenen wie dem Walkürenritt im Seminarraum, den Nornen als Kaffeeklatsch von Omas, die sich alte Geschichten erzählen, oder dem sehr bewegenden Trauermarsch, bei dem das gesamte Personal der Oper von Siegfried Abschied nimmt.

Wenn das Geschehen auf der Bühne die Musik aus sich hervorbringt, dann gelingt die allerunwahrscheinlichste Verschmelzung der disparaten Elemente Raum, Licht, Spiel und Musik. Dann kann das unmögliche Kunstwerk Oper sich ereignen. Prima la musica? Nein: Prima le parole, die auch den Raum, das Licht und das Spiel der Sänger enthalten, im Dienste der musica, und diese im Dienste des Theaters. Wenn das eintritt – nur dann, leider – kann Oper die größte Kunstform von allen sein.