Shavasana, Totenstellung

Essay
zuerst erschienen im September 2012 im Yoga-Journal

Einer der großen Topoi der Yoga-Philosophie, der mir während der Arbeit an meinem Film „Der atmende Gott“ immer wieder begegnet ist, ist der achtgliedrige Weg des Patanjali, der Ashtanga-Weg (von sanskrit ashta – acht, anga – Glied). Patanjali ist eine Schlüsselfigur in der Geschichte des Yoga. B. K. S. Iyengar widmete ihm einen Tempel in seinem Geburtsdorf, und Pattabhi Jois nannte seine Yogaschule ihm zu Ehren „Ashtanga Research Institute“. Die Patanjali zugeschriebenen „Yogasutren“, in denen sich der Gedanke des Ashtanga findet, sind ein philosophisches Traktat über Technik und Ziel des Yoga, möglicherweise von verschiedenen Autoren zwischen dem 2. Jahrhundert vor Christus und dem 4. Jahrhundert nach Christus kompiliert und zunächst nur mündlich überliefert.

Der Vers über den Ashtanga-Weg lautet in der eindrucksvollen Begriffsballung, die das Sanskrit (wie das Deutsche) erlaubt, „yamaniyamasanapranayamapratyaharadharanadhyanasamadhayo­stavangani“ und benennt die acht Glieder des Yoga-Wegs: seelische Reinheit, körperliche Reinheit, Körperbeherrschung, Atembeherrschung, Sinnesbeherrschung, Konzentration, Meditation, Erleuchtung. Üblicherweise identifiziert man diesen Yogaweg mit dem Lebensweg: Als moralisch gute und äußerlich reine Menschen vervollkommnen wir in der Jugend unseren Körper mit Yogaübungen, wenden uns als Erwachsene mit den Atemübungen unserem Inneren zu, blenden die Außenwelt schließlich aus, sammeln uns im Alter in Meditation und Hingabe, um am Lebensende die vollkommene Erkenntnis zu erfahren.

Als ich mich in den fünf Jahren der Arbeit am „Atmenden Gott“ immer mehr in die Yoga-Praxis vertiefte und die Anweisungen von Pattabhi Jois, Iyengar und Sribhashyam, aber auch von meinem deutschen Lehrer Patrick Broome umzusetzen versuchte, tat sich mir noch eine andere Interpretation auf. Vielleicht ist der Yogaweg nicht nur der Lebensweg eines jeden von uns, sondern auch der Weg jeder einzelnen Yoga-Praxis, jeden Morgen aufs Neue zurückgelegt.

Alle Lehrer bestehen am Anfang der Praxis auf der inneren Sammlung des Schülers, sei es in der in Indien üblichen Form des gesungenen Mantras – zu der die Inder selber einen Fremden nie drängen würden –, sei es in Form guter Vorsätze oder wirkmächtiger Gedanken an einen nahestehenden Menschen. Identifikation mit dem Guten als Beginn einer Yogastunde – leicht lässt sich das als billiger Ablasshandel abtun oder mindestens als narzisstischer Eskapismus, aber die Yogaphilosophie lehrt, dass gute Gedanken nicht ohne Wirkung bleiben (ebensowenig wie böse), und seien es auch nur die wenigen am Anfang der Praxis. Das wäre das Yama, die erste Stufe des Yogawegs.

Es folgt Niyama, die Reinigung des Körpers; in der Krishnamacharya-Tradition zum Beispiel die Übung Kapalabhati, bei der mit heftigen Atemstößen Nase und Nebenhöhlen gereinigt werden. In diese Phase fällt interessanterweise auch das Gebot der Heiterkeit.[1] Erst an dritter Stelle kommt das, was unter Yoga heute vor allem verstanden wird, die körperliche Praxis der Yogahaltungen (Asanas) in statischer oder dynamisierter Form. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Asana“ ist Sitz, und ihre Funktion ist traditionell die Einübung der rechten Haltung für die höheren Stufen des Yogawegs. Nur der in den Asanas geschmeidig gewordene Körper vermag den Meditationssitz „zugleich fest und leicht“ (sthirasukha) zu halten. Stufe vier ist das faszinierende Gebiet der Atemübungen (Pranayama), nach den Asanas das am weitesten entfaltete Glied des Yogawegs. Sie lenken die Aufmerksamkeit nach innen, wo das Bewusstsein nun mittels Pratyahara, einer geheimnisvollen, wenig erforschten Yoga-Technik, die Sinne als Fenster zur Außenwelt verschließt, so dass sich nach den rein geistigen Übungen Dharana (Konzentration) und Dhyana (Meditation) schließlich Samadhi einstellen soll – das sagenumwobene Ziel des Yoga.

In der Yoga-Praxis entspricht die fünfte Phase (Pratyahara) der Totenstellung, Shavasana, bei der der Schüler regungslos auf dem Rücken liegt und die körperliche und geistige Praxis der vorausgegangen dreißig bis sechzig Minuten zur Wirkung kommen lässt. (In den Yogastudios des Westens spricht man hier auch von Tiefenentspannung, die nach der oft körperlich sehr fordernden Yogastunde höchst willkommen ist.) Shavasana ist der Name eines Asana – des schwersten, wie oft zur Verwirrung der Schüler behauptet wird –, aber ich möchte es nicht der Phase der Asanas, sondern der späteren des Pratyahara zuordnen, denn hier lerne ich die Zurücknahme der Sinne, oder zutreffender das Verschmelzen meiner mit der Außenwelt, so dass die Sinne ihre vermittelnde Funktion verlieren. Von den vielen beglückenden Erfahrungen und Erkenntnissen, die ich Yoga verdanke, ist dies bisher die tiefste und geheimnisvollste. Sie vollzieht sich in sechs Schritten:

1. Sinken

Ich lege mich auf den Rücken, die Arme neben den Körper. Ohne irgendetwas zu korrigieren, nehme ich die Position an, die mein Körper zufällig gefunden hat. Ich registriere, wie die Schwerkraft ihr Werk tut und allmählich alle Glieder ins Gleichgewicht bringt. „Wir sollten in uns selber bequem sein, statt unsere Möbel bequem zu machen“, sagt Moshé Feldenkrais[2], und so vertraue ich darauf, dass mein innerer Leib sich im äußeren verschiebt, bis ich „zugleich fest und leicht“ daliege. Auf der Matte ist diese Phase nicht spektakulär, weil die Variationen des Liegens begrenzt sind. Im Bett oder auf einem Stuhl ist es schon anders. Zuhöchst mag es sogar im Stehen möglich sein, sich ganz der Schwerkraft hinzugeben, ohne zu fallen.

2. Wahrnehmen

Ich durchwandere meinen Körper im Geiste, erspüre seine Grenzen und lege eine innere Landkarte an. Schmerzt die Schulter, spüre ich Zugluft am Fuß? Wo liegt das Bein auf, wo nicht, liege ich gekrümmt oder gerade? In welcher Haltung befindet sich der Kopf, der Mund, die Zunge? Wo ende ich?

3. Lösen

Ich nehme jede Spannung aus den Muskeln, aus Stirn, Augen, Mund, Hals, Rumpf, Armen, Beinen. Mit einiger Übung gelingt es mir auch, den Schädel zu entspannen und, am schwersten und sehr störanfällig: die Gedanken. Immer weiter spüre ich in die Enden des Körpers hinein und entdecke tiefer liegende, gleichsam ältere Anspannungen, die ich lösen, Kanäle, die ich öffnen kann. Ich begegne Echos früherer Entscheidungen, die sich im Körper abgelagert haben. Auch hier ist Form „sedimentierter Inhalt“ (Adorno[3]). Es zeigt sich, dass diese Felder oder Knoten der Anspannung meine Individualität bilden, meine Geschichte, jenes Netz von Abgrenzungen, das mich im Wortsinn konturiert und mir Profil gibt. Indem ich sie löse, gebe ich meine Subjektivität auf und gewinne dafür die Teihabe an einem noch unbestimmten Strom des Allgemeinen. Ist dieses Loslassen ein Ausfließen, ein Mich-Verlieren? Wahrscheinlich kann man es so empfinden, und hier – wie bei vielen entscheidenden Wendungen dieses Yogawegs im Kleinen, kommt es auf die Deutung an und auf die Entscheidung für diese Deutung. Ich erlebe das Loslassen als ein Angefüllt-Werden mit Nektar, der in mich einströmt.

4. Schmelzen

Wo es mir gelingt, alle Spannung zu tilgen, lösen die Grenzen meines Körpers sich auf. Außen und Innen verschwimmen. Ich verschmelze mit Matte, Bett, Stuhl. Wie auf einem alten Geister-Photo, das denselben Körper in Doppelbelichtung zeigt, schwebe ich über mir. Was vorher Knie und Mund und Hände waren, ist jetzt ein einziger friedlicher Organismus. Und auch der nicht mehr, sondern nur noch eine Art Kraftfeld im Übergang vom Ich zur Welt. Jetzt werde ich nichts ändern: Jede Bewegung wäre eine überflüssige Zutat meiner, die den Fluss zum Stocken brächte. Ich fiele zurück ins Individuelle, und augenblicklich würden die gefallenen Grenzen sich wieder aufrichten.

5. Zusehen

Gerade nach einer anstregenden Asana-Praxis kann es schwerfallen, regungslos in der einmal eingenommen Haltung zu verharren und dem verführerischen Impuls zu leichten Korrekturen zu widerstehen. Gerade habe ich noch geschwitzt, und das Salz juckt auf der Haut. Ich versuche, den Reiz weder auszublenden, noch in den Vordergrund treten zu lassen. Ich betrachte ihn gleichmütig, wissend, dass er flüchtig ist. Und tatsächlich gibt er den Versuch, mich zurückzuholen, nach einiger Zeit auf: er lässt nach und löst sich schließlich ganz auf. So betrachte ich Wolken, die kommen und gehen. Und jede dieser Wolken lässt mich tiefer sinken und rückstandloser schmelzen.

6. Anvertrauen

Und so komme ich – in den seltenen Fällen, in denen es mir glückt, diesen Prozess bis zu einer Art Ende zu gehen, oder fast möchte ich sagen: mich bis zu diesem Punkt zu begleiten – in einen Zustand tiefen Einsseins mit der Welt, in dem ich mich getragen weiß. Getragen wovon? Das ist wieder eine Deutung, sehr persönlich und wohl nicht übertragbar. Bei mir ist es ein Bild. Ich liege auf einem Blatt, einem großen Eichenblatt vielleicht, in der Hand Gottes.[4]

Schildere ich hier, was Patanjali unter Pratyahara, dem fünften Schritt des Yogawegs versteht? Wörtlich bedeutet Pratyahara „fasten“, in Desikachars Übersetzung „sich von dem zurückziehen, was einen ernährt.“[5] Patanjali überträgt diesen Begriff auf das Verhältnis von Bewusstsein und Bewusstseinsgegenstand und definiert Pratyahara als das Zurückziehen der Sinne von der Außenwelt. Unsere Sinne „lassen sich nicht mehr von ihren Gegenständen füttern.“ (Desikachar) In Patanjalis Worten: „Im Pratyahara wenden die Sinne sich von ihren ureigenen Objekten in der Sinneswelt ab und nehmen stattdessen die Form des Bewusstseins an.“[6] Mit diesem Gedanken sind wir im Zentrum des Yoga, dessen Ziel es ist, das Denken von der kontingenten Welt der Erscheinungen zu emanzipieren. Nach Auffassung des Yoga verbirgt sich unter dem Anschein des Denkens „ein unbestimmtes ordnungsloses Flimmern, das sich aus den Empfindungen, den Worten und dem Gedächtnis speist. Die erste Pflicht des Yogin ist: zu denken, das heißt sich nicht denken zu lassen.“ (Mircea Eliade[7]) In der vollkommenen Yogahaltung wird nun nach Patanjali „das Bewusstsein nicht länger durch die Anwesenheit des Körpers gestört.“[8] Und sein Kommentator Vyasa (7. bis 8. Jahrhundert) schreibt dazu: „Das Asana wird vollkommen, wenn die Anstrengung bei seiner Ausführung verschwindet und es keine Bewegung im Körper mehr gibt. Seine Vollendung wird erreicht, wenn der Geist sich ins Unendliche verwandelt, das heißt, wenn er die Idee des Unendlichen sich selbst zum Inhalt macht.“[9]

Wenn ich, in Shavasana, der Totenstellung, mit der Außenwelt verschmelze, was tut dann noch mein Tastsinn? Er markiert eine Grenze, die sich aufgelöst hat. Wenn Innen und Außen eins sind und meine Sinne nicht mehr fokussieren, weil nichts mehr da ist, woran sie haften bleiben könnten, was sind dann noch mein Tasten, Riechen, Hören? Ob ich höre oder nicht, wird einerlei. Die Sinne werden zwar nicht ausgeschaltet, wie das ein naives Konzept des Pratyahara lehrt, aber sie werden aufgehoben. Ich ziehe sie im Sinne Patanjalis auf mich zurück, wobei ich selber mich zugleich in die Außenwelt hinein auflöse. Sie nehmen also „die Form des Bewusstseins an“, das mit seinem Gegenstand eins geworden ist, eines Bewusstseins, das keiner Sinne mehr bedarf, weil es selbst ganz und gar sinnlich geworden ist – und die es umgebende Welt zugleich ganz und gar geistig.

Einer der Zwecke der Yogapraxis ist das tägliche Überprüfen, Überwinden und Verschieben von Grenzen. Die Matte ist ein Probeschauplatz der Kämpfe des Lebens. Um welche Grenze geht es in Shavasana? Solange wir jung und vital sind, stoßen wir an keine körperlichen Grenzen und glauben, aus eigener Kraft zu existieren. Meist erkennen wir erst, wenn wir alt und schwach sind, dass die Kraft unserer Muskeln und auch die unseres Geistes nur scheinbar von uns stammen und wir bei jedem unserer Schritte in Wirklichkeit geführt und getragen werden – und es auch früher schon wurden, als wir uns stark wähnten. Das absolute Getragen-Werden ist der Tod, und Shavasana wäre dann tatsächlich das „schwerste Asana“, die Einübung in den Tod. (Das ist die tiefere Wahrheit des Namens Totenstellung, die sich nur äußerlich davon ableitet, dass wir regungslos wie ein Leichnam daliegen.) In Shavasana üben wir uns darin, „das Tor zum inneren Jenseits zu entriegeln“ (Heinrich Zimmer[10]) und zu erfahren, dass Leben und Tod dialektisch ein und dasselbe sind: ein einziges und – es so zu empfinden, kann uns Yoga lehren – seliges Getragen-Werden.

[1] Mircea Eliade: Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit, Frankfurt a. M. 1960, 58

[2] Moshé Feldenkrais in einem Vortrag, überliefert von Andrew Lutz

[3] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, 15

[4] Diese Füllung meines Bildes verdanke ich Jörg Splett

[5] TKV Desikachar: Yoga - Tradition und Erfahrung, Petersberg 1997, 177

[6] Patanjali: Yogasutren, Vers II, 54

[7] Mircea Eliade: Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit, Frankfurt a. M. 1960, 55f

[8] Patanjali: Yogasutren, Vers II, 48, in der zugespitzten Lesart Eliades (Eliade 62)

[9] Vyâsa, zu Yogasutren, Vers II, 47, zit. n. Eliade 61

[10] Heinrich Zimmer: Yoga und Buddhismus, Frankfurt a. M. 1990, 128. „Ein Zustand des Unbewusstseins tritt ein, in dem Welt und ich schwinden: sie sind nicht mehr. Ein Zustand vergleichbar dem traumlosen Schlafe ist willentlich hergestellt: alles als Gestalt individuell Umrissene, alles als Vorgang vergänglich Verfließende löst sich auf, zerschmilzt in seinem Gegensatze: einem Ungreifbaren, Gestalt- und Vorganglosen. Das ist der physiologische Sprung ins innere Jenseits, ins Sein hinter der Individuation, ins Sein schlechthin.“ (129)