Sofia Gubaidulina

Interview
zuerst erschienen im Januar 2011 im Booklet der DVD „Sofia - Biography of a Violin Concerto“
Die Komponistin im Gespräch, ein Jahr vor der Uraufführung ihres zweiten Violinkonzerts

SOFIA GUBAIDULINA: Mich fasziniert der Name ‚Anne-Sophie Mutter’, also die Gestalt Sophia. Sie begleitet mich in dieser Periode der Komposition, weil meine Interpretin diesen Namen hat…

JAN SCHMIDT-GARRE: Und Sie ja auch.

Ich bin auch Sofia, und plötzlich sehe ich: Ah! Ich bin Sofia, und sie ist Anne-Sophie, und da erscheint die Gestalt Sophia, der göttliche Aspekt. Also vielleicht wird es auch ein Selbstportrait. Vielleicht, ich bin noch nicht fertig. Die Gestalt der Sophia ist geheimnisvoll und sehr bedeutend in der Welt. Geboren ist sie bei den alten Griechen, aber da ist sie noch ziemlich abstrakt. In der alttestamentlichen Literatur fühle ich sie schon mehr persönlich. Und bei den Russen spielt sie eine große Rolle. Einige Gelehrte schreiben, dass Sophia als Verteidigerin, als Beschützerin zur Taufe Russlands gekommen sei.

Sophia ist für Sie mehr als die Weisheit?

Sie ist Weisheit und außerdem der weibliche Aspekt Gottes, das schöpferische Prinzip der göttlichen Existenz. Gott betrachtet seine eigene Vollkommenheit, aber das ist nicht genug. Er muss diese Vollkommenheit verwirklichen, und Sophia ist die Initiatorin der Welt; ihre Kraft, die Sophienkraft, gilt als schöpferische Tätigkeit. Sie ist nicht Gott, Göttin oder Engel, nein, sie ist das schöpferische Prinzip, und es ist sehr günstig für ein musikalisches Werk, dieses schöpferische Prinzip als Schicksal darzustellen. Ich glaube zwar nicht, dass ich etwas inhaltlich Bestimmtes komponiere. Aber in Andeutungen, metaphorisch, steht dieses Antlitz von mir.

Das schöpferische Prinzip wird selber zum Thema der Komposition?

Zum Beispiel können das musikalische Thema und der Krebs des Themas als die ambivalenten Kräfte Sophias gelten. Warum ambivalent? Weil sie als weiblicher Aspekt hinsichtlich Gottes auftritt, dann aber in die Welt kommt, die Welt schafft und beschützt als männlicher Aspekt. Es gibt viele, viele tiefste Gedanken zu diesem Thema. Zum Beispiel das Problem von Einheit und Vielheit – ein sehr wichtiges philosophisches Problem. Sophia erscheint als weiblicher Aspekt, um die Vielheit zu schaffen, die Welt in Vielheit. In der Welt strebt sie aber wieder zurück zu Gott, zur Einheit, und das ist genau das künstlerische Problem: Jedes Werk, das wir schaffen, stellt diesen Prozess von Einheit zu Vielheit dar - musikalische Form - und dann wieder zur Einheit als dem Wort Gottes. Das ist der Sinn des künstlerischen Werkes. 

Diese Einheit, zu der es zurückkommt, ist das die Geschlossenheit des Werkes?

 Ja. Das Werk als Ganzes wächst zur Einheit. Der Kulminationspunkt, das künstlerische Gebäude erscheint in unserem Gedächtnis als etwas Ganzes und Einheitliches, aber zuvor kommt die Form, die zu dieser Einheit führt. Und gerade Sophia schafft diesen Prozess. 

Wenn Sie arbeiten, ist dann die Idee des Ganzen schon da, oder sind da zunächst Einzelteile, die Sie im Laufe des Prozesses vereinen?

Zuerst höre ich das Ende des Werkes, erst dann komme ich zurück zum Anfang. Und es ist schwer zu sagen, was die Reihenfolge ist. Es ist absolut gemischt, weil es zu intuitiv geschieht. Auf intellektuelle Weise ist das schwer zu begreifen und schwer zu erinnern. Jedenfalls habe ich bemerkt, dass ich jedes Werk umgekehrt beginne: nicht vom Anfang her, sondern vom Ende. Und das Ende höre ich, oder irgendetwas vor dem Ende, und es klingt zusammen, alles zusammengemischt und schwer erkennbar.

Das klingt, als sei das Werk in irgendeiner Realität schon da, und Sie müssten es herunter auf die Erde holen.

 

Die Form des Werkes klingt zunächst nicht als Form, sondern ohne Zeit, außerhalb der Zeit. Es ist also nicht das Werk. Ich kann nicht sagen, dass ich das Werk an diesem Punkt als Ganzes höre, aber alles zusammengebunden und zu kompliziert. Ich kann ihn nicht notieren, diesen Moment. Ich muss verdeutlichen und verdeutlichen, um allmählich zu diesem ursprünglich Gehörten zu kommen.

Es gibt eine Briefstelle bei Mozart, wo er genau das beschreibt. Ich weiß nicht, ob Sie das kennen? Da sagt er: Der allerschönste Augenblick ist, wenn das Werk in einem Punkt da ist.

Er hat es vielleicht als Form gehört, detailliert. Ich vermute, dass er das meint. Er beschreibt sogar Einzelheiten, die er gehört hat. Ich kann nicht sagen, dass ich Einzelheiten höre. Ich höre einen so komplizierten Akkord, dass ich nicht sofort Einzelheiten notieren kann. Es ist ein geheimnisvoller Akkord. Und dann allmählich komme ich ihm immer näher und näher. Aber niemals war für mich am Anfang irgendeine Melodie da, die sich dann weiterentwickelt… Das habe ich niemals erlebt.

Schaffen Sie es immer, dieses Bild einzuholen? Dieses erste Gehörte?

Das verändert sich, dieser Akkord verändert sich. Ich kann nicht wirklich zu diesem Akkord schreiten. Es ist zu kompliziert. Und außerdem ist dieser ursprüngliche Akkord, aus dem alles wächst, außerhalb der Möglichkeiten meiner Instrumente, meiner Stimmen. Zum Beispiel kommen in diesem Akkord zu hohe Töne vor; im Orchester habe ich diese Klänge nicht, keinen dieser Klänge. Ich muss also zu einem Kompromiss kommen. Und dann kommt die handwerkliche Arbeit, und ich weiß, was möglich ist und was nicht möglich ist. Dann setze ich nur die Noten, die ich im Orchester und in den menschlichen Stimmen habe. Realität und ursprüngliches Hören sind also verschieden. Nicht übereinstimmend.

An welchem Punkt sind Sie jetzt mit dem Stück?

Ich schreibe immer zuerst im Schwarz, damit alles im Schwarz da ist. Dann muss ich nochmal und nochmal alles hören, hören, hören, und genau nach dem Metronom ausprobieren.

Was heißt „im Schwarz“?

Was für mich sehr wichtig ist, sind diese schnellen Bewegungen. Wenn ich gleich rein komponiere und rein notiere, ist das für mich nicht günstig, weil in dem Moment, in dem ich über die Reinheit nachdenke, meine Intuition leidet. Im Schwarz gibt es die Möglichkeit, sehr rasch zu schreiben, fast zu zeichnen. Es ist die Partitur, aber nicht rein geschrieben. Es sind zwei Arbeitsgänge. Das ist nicht sparsam, aber für mich sehr wichtig. Zuerst habe ich alles im Schwarz, und dann höre ich es an, als ob ich schon die Interpretin wäre, damit alles bequem für die Interpretation wird, für den Dirigenten… Als ob ich Flötistin, Fagottistin etc. wäre, als ob ich auf dem Horn spielen würde. Nach dieser schwarzen Arbeit bin ich Interpret, und danach verwandele ich meine Partitur in Weiß.

Gibt es vor diesem Prozess im Schwarzen noch eine Phase der Konstruktion?

Ja, ich arbeite sehr viel an der Architektonik des Werkes. Die Form spielt für mich die Hauptrolle, gerade die Bauelemente, obwohl ich eigentlich mehr ein intuitiver Mensch bin und die Intuition in schöpferischen Sachen sehr hoch schätze. Aber das ist nicht genug für die Kunst.

Ich habe gesehen, dass Sie eine große Bibliothek mit mathematischen Büchern haben, ein Buch über Symmetrie zum Beispiel – sind das Einflüsse in Ihrer Arbeit?

Ich schätze die mathematischen Reihen sehr, z. B. die Fibonacci-Reihe und ihre Ableitung. Dieses Problem spielt eine sehr große Rolle für mich. In diesem Werk sind es die Zahlen der Bach-Reihe. Die Bach-Reihe hat im Zentrum die 9, nicht die 0 wie Fibonacci. Das ist faszinierend für mich, dass es hier ein Zentrum gibt und die 23 und die 32 symmetrisch sind.

Sie arbeiten ja oft nach solchen Plänen. Bleiben Sie dann im Prozess dabei?

Verschieden. Manchmal gelingt es mir, den Plan zu verwirklichen, manchmal nicht. Die Sache ist die, dass ich nicht intellektuell arbeite, sondern intuitiv, und man muss mit diesen Gesetzmäßigkeiten verbunden sein. Wenn es nicht gelingt, dann sage ich mich von diesen Zahlen los und beschreite nur noch intuitive Wege.

Aber Sie brauchen das als Landkarte für die Intuition, um anfangen zu können?

Wenn man nur noch intuitiv arbeitet, ist das nicht gut für die Kunst, weil dann irgendwelche Phantasien kommen, und das ist zu materialistisch. Wenn ich nur intuitiv gearbeitete Werke sehe, bin ich nicht so zufrieden. Aber unglaublich zufrieden bin ich, wenn ich Werke von Johann Sebastian Bach höre, die beides enthalten: die Gesetzmäßigkeit und den feurigen Strom der Intuition.