Remember New Journalism

Kolumne
alle zwei Wochen auf waahr.de
Das feine Abendessen am Wannsee am Vorabend der US-Präsidentenwahl

Es ist nicht schön, wenn man selbst viel sagt und die anderen dazu schweigen. Also für mich. Ich mag es nicht. Es gibt für mich eigentlich nichts Deprimierenderes, und ich erlebe es auch selten. Andererseits kennen wir Schriftsteller alle das Phänomen der »Muse«. Das sind Wesen, die sitzen irgendwo mit am Tisch, sagen nichts, sind schüchtern, werfen manchmal beherrscht die Haare zurück, ja, und natürlich sehen sie gut aus, das muss nicht extra erwähnt werden.

Thomas Draschan, mit dem ich heute ein paar Bilder einsammelte, kam von sich aus auf das Thema. »C.G. Jung erklärt die Muse als den unbewussten männlichen Anteil in der Frau, der den kreativen Anteil im Mann fickt«, wusste er. Solche Sätze konnte er stotterfrei und vor allem ohne jede Ironie sagen, was ihn als ernsten Menschen auszeichnete. Ich fand den Satz angenehm, weil anregend. Ich stellte mir augenblicklich den Vorgang vor, erst den unbewussten männlichen Anteil, dann die Kreativität im Gehirn, bis ich wieder fand, dass alle psychologischen Begriffe einfach nur Wortkrücken waren, grundsätzlich, und zwar für etwas, das hundert oder sogar tausend Mal feinstofflicher, sensibler und komplexer war. Ausdrücken konnte man seelische Vorgänge nur literarisch.

Wirklich? Schon am Abend wurde ich überraschend mit einer echten Muse konfrontiert. Dr. Joachim Bessing hatte eine Einladung ausgesprochen. Es ging um ein Essen zu meinen Ehren und fand in seiner gediegenen Villa am Wannsee statt. Dr. Bessing glaubte an mich, er wollte mir eine berufliche Chance geben, und ich nahm mir fest vor, sein Vertrauen, also diesen Vertrauensvorschuss, nicht zu enttäuschen. Das hatte ich auch meiner Frau gesagt, einer Österreicherin, die in Wien geblieben war. Sie wusste von der wichtigen Einladung und zitterte mit mir. Gegen Mitternacht wollte sie mich auf dem Handy anrufen, um zu hören, wie es gelaufen war. Meine Frau war übrigens selbst von großer körperlicher Attraktivität und Anziehung, aber zum Glück keine Muse. Natürlich nicht.

Ich war schon frühzeitig aufgeregt. Bereits drei Stunden vor dem Beginn des Abendessens saß ich im Auto, fertig angezogen, mit allem versehen, was ich für das Treffen brauchte. Manuskripte, eine Flasche Eierlikör, einen Becher Actimel, ein Ersatzhemd. Um die Zeit zu verkürzen, half ich wie gesagt dem Maler Thomas Draschan dabei, ausgestellte Werke abzuhängen und zurück ins Atelier zu fahren. Draschan war viel erfolgreicher als ich. Er legte eine erstaunlich schwere, alte Landarzt-Ledertasche auf den Beifahrersitz, und als sich einmal beim Bremsen der Klappmechanismus öffnete, sah ich, dass sich keine medizinischen Geräte darin befanden, sondern, dicht gedrängt, von oben bis unten, Hunderteuroscheine. Ich hätte nie gedacht, dass Geld so schwer sein konnte, in der Masse.

Das Auto rollte auf die Villa zu. Knirschend gruben sich die die Gummireifen in den Kies. Das Faktotum des Anwesens, ein Veteran aus England, lief humpelnd zum schmiedeeisernen Tor und übernahm das Fahrzeug, besser gesagt, er wollte es übernehmen, kam aber mit der Technik des Auto Union nicht zurecht. Ich lenkte dann selbst den Zweitakter auf den letzten Metern, bis der Motor majestätisch einschlief.

Dr. Bessing war die Liebenswürdigkeit selbst. Die Köchin war eine Stunde zuvor krank geworden - eine »Unpäßlichkeit, sie als Frau betreffend« - und er hatte selbst gekocht. Am Tisch saßen außer ihm und mir noch Jan Schmidt-Garre, dessen Gemahlin Philomene, und, nicht nur zufällig mir gegenüber, die Muse. Das war ein typisch goethe’sches Mignongeschöpf, ein hübsches Mädchen mit Garçonfrisur, knabenhafter Kleidung und einem überirdisch schönen Gesicht. Natürlich hatte sie auch einen seltsamen Namen, denn solche die Phantasie beflügelnden Wesen heißen meistens nicht Anna oder Pia.

Bald merkte ich, dass ich oft von mir sprach. Normalerweise stelle ich lieber kluge Fragen und lasse die anderen reden. Aber auch Dr. Bessing schien unter zwanghaftem Mitteilungsdrang zu leiden. Wenn ich mehr als drei Sätze sagte, sprang er auf und füllte den beeindruckenden Raum mit Sätzen, meist deklamatorischen Ausrufen. Er hielt eine Rede auf Arno Schmidt, den Eigenbrötler aus den 60er Jahren, der nach dem Krieg noch ganz ordentlich geschrieben hatte. Der hatte in seinem ganzen Leben weniger verdient als Thomas Draschan an einem Tag. Ich musste an meine eigene Situation denken. Zehn Jahre lang hatte ich mit 88 Euro im Monat auskommen müssen, die mir die Tageszeitung taz zahlte. Bessing hingegen war mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen - eine Hypothek auch das. Mitarbeiter seines Verlages und des Feuilletons hatten sich bereits über sein Vermögen beschwert. Einige Medien wollten ihn nicht mehr drucken, weil sie, wortwörtlich, »lieber jungen Künstlern, die keine Yacht auf dem Wannsee haben, unterstützen« wollten.

Das war hart. Bessing schluckte heftig, als er es erzählte, und guckte dabei verstohlen zur Dame mit der Hosenrolle, die aber mit keiner Wimper zuckte. Oder doch? In ihrer unteren Gesichtshälfte glaubte ich ein winziges abfälliges Verziehen der Mundwinkel wahrgenommen zu haben. So reagierte sie übrigens auch, wenn ich etwas Ungewöhnliches oder Persönliches oder besonders Geistreiches gesagt hatte. Das Ehepaar Schmidt-Garre beteiligte sich nicht an dem Wettbewerb, also am Tischgespräch. Auch das war nicht gut. Im Grunde gab es drei Personen, die auf das Gesagte nicht reagierten, was in der Summe vernichtend wirken musste. Je länger der Abend dauerte, desto mehr kamen Dr. Bessing und ich ins Schwitzen. Frühzeitig schraubte ich die Flasche Verpoorten auf, um mich locker zu machen. Bessing schüttete achtlos teuren Rotwein in sich hinein.

Ich erzählte Anekdoten über Fritz Brinckmann. Das war ein legendärer Fotograf, Frauenverführer und Seelsorger aus einer anderen Zeit und Welt, den aber das Ehepaar Schmidt-Garre gut kannte. Oder gekannt hatte. Der Ehemann war als blutjunger Bursche die rechte Hand des charismatischen Schamanen gewesen, eben des legendären Fritz Brinckmann, der schon im Alter von 18 Jahren jungfräuliche Mädchen auf der Straße auflas und sie zum Christentum sowie einer offensiven Sexualität bekehrte. Gleichzeitig. Ein neo-struktualistischer Messias, der aus jeder unschuldigen Schülerin eine Maria Magdalena machte. Weil er reden konnte bis zum Umfallen. Vielleicht war Schmidt-Garre dabei in ein finales Schweigen verfallen, das noch immer, nach fast einem ganzen Leben, anhielt.

Meine Anekdoten brachten ihn nicht dazu, aufzutauen. Aber immerhin sagte er auf meine diesbezüglichen Fragen hin, wann er Fritz Brinckmann aus den Augen verloren, seine Frau Philomene kennengelernt, dieselbe geheiratet hatte, und in welchen Städten er mit ihr seitdem gewohnt hatte. Er war an sich ein überaus sympathischer Mann, und wenn er von an etwas mehr geredet und getrunken hätte, wäre der Abend noch gut ausgegangen. Er war der wichtigste Mitarbeiter Dr. Bessings.

Was ging nur im Köpfchen der offensichtlichen Muse vor? Wer war sie? Was tat sie beruflich? Was dachte sie sich zu alledem? Von Fritz Brinckmann war sie jedenfalls gelangweilt, was für sie sprach. Es sprach ohnehin alles für sie. Bessing stand nun auf, holte ein Manuskript eines Romans hervor, den er veröffentlichen wollte, und begann zu lesen. Seine Stimme war schleppend, was mich überraschte, denn üblicherweise sprach er nuanciert, präzise und äußerst differenziert-entschieden. Seine Stimme konnte jeden Raum füllen, wie die eines Burgschauspielers. Doch jetzt hatte er Mühe beim Lesen. Weil der Rotwein schon wirkte?

Den Roman hatte ich geschrieben. Die Muse gähnte. Sie sah nun meistens auf die Tischplatte und reagierte überhaupt nicht mehr. Die Frau von Schmidt-Garre, Philomene, sagte, sie sei in Bonn geboren. Ich erzählte eine weitere Angebergeschichte. Wie ich einmal eine Frau aus der Psychiatrie befreit und gerettet hätte. Wie ich dabei selbst verrückt geworden sei. Die schöne Muse kratzte sich nur verlegen am Näschen und schaute aus dem Fenster. Danach war Bessing wieder dran.

Er führte mit bedeutungsvoller Miene aus, der neue Roman von mir sei mein erster wirklich autobiographischer. Der Titel laute Alles Lüge, und es gehe um einen Ich-Erzähler, der darunter leide, zwanghaft lügen zu müssen, und zwar beim Schreiben und auch sonst - genau wie ich! Ich sei der größte Lügner seit Baron Münchhausen, und jetzt hätte ich es endlich zu einem Roman gemacht. Mein Lebensproblem sei nun ohne Umschweife mein erstes echtes, verzweifeltes, äh, Thema geworden. So müsse ein Schriftsteller auf sein Lebensproblem reagieren, er müsse es zum Buch machen, und alles andere, alles Sublimieren und Phantasieren und Literarisieren fremder Probleme und fremder Themen, sei, äh, sei…

»Erst recht eine Lüge«, ergänzte ich.

»Sogar die wahre Lüge!« bekräftigte Besing mit schwerer Zunge.

So ging es hin und her. Man hätte aufhören sollen. Aber ich hatte bis zuletzt die unüberlegte Hoffnung, der Abend würde sich noch zum großen Erfolg umbiegen lassen. Ich sprach die Muse nun direkt an. Welche Schriftsteller sie denn möge? Welche Bücher sie gerade lese? Ob ihr ihre Arbeit gefiele und wo die denn sei? Gern hätte ich sie gefragt, ob sie persönlich und sexuell gebunden sei, also ob sie einen Freund habe, ließ es aber, weil mir die Frage zu direkt erschien.

»Du musst mir nicht diese Fragen stellen«, erwiderte sie sofort, »es ist alles okay, mir geht’s gut. Ich höre lieber zu.«

„Ja, klar. Aber trotzdem, sag’ doch mal, was du gerade liest.“

Sie nannte irgendeinen sehr, sehr speziellen Autor, den ich nicht kannte, und war damit aus dem Schneider. Jeder auch nur halbwegs bekannte Autor hätte sie ja einordbar gemacht, jedenfalls ein erstes kleines bisschen, und das ließ sie auf keinen Fall zu.

So war man wieder am Anfang. Das Ehepaar hatte das Essen aufgegessen, auch noch den letzten Gang und das Dessert, und hatte somit nichts mehr zu tun. Die Ehefrau Philomene sagte, die Flasche Eierlikör sei aus ihrer Heimatstadt Bonn, also die Firma Verpoorten sei es. Ich hatte sie bereits ausgetrunken und sah mich nach Ersatz um. Zu Eierlikör passte leider kein Whisky und auch sonst nichts. Ich nahm den Ball Bonn auf und erzählte von meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter in der damaligen Hauptstadt der Bundesrepublik. Dabei stierte ich immer wieder beifallheischend zu meiner immer noch entzückend aussehenden Tischnachbarin gegenüber, der gerade einschlafenden Muse. Als das nicht zog, brachte ich das Thema Trump und Hillary auf. Dabei konnten doch alle mitreden, dachte ich, zumal die Wahl am folgenden Tag - bei uns in der Nacht darauf - stattfinden sollte. Das klappte so leidlich, aber nicht bei ihr. Und das Babe sah leider wirklich besser aus, als der liebe Gott es erlauben sollte. Nie habe ich ein so edel ausgestaltetes Gesicht gesehen, fast hätte ich Antlitz gesagt, noch dazu im angetrunkenen Zustand. Sie sah schon wie Keira Knightley aus, nur noch besser, weil irgendwie intelligenter. Auch pressten sich, ganz anders als bei Keira Knightley, zwei feste, für mich nun magische Halbkugeln durch das engsitzende weiße Herrenoberhemd. Mein Blick flatterte immer öfter an diese Stelle des Oberkörpers, so sehr ich es auch zu verhindern versuchte. Die Muse gähnte inzwischen gänzlich unverfroren und rücksichtslos, wenn ihr danach zumute war, und in immer kürzeren Abständen.

Ich erzählte, wie mein Freund Richard gestorben war. Noch am Vorabend hatte er mich aufgesucht, um mir ein großes Geheimnis anzuvertrauen. Er war erst 28 Jahre alt und hatte den wichtigsten Roman der 80er Jahre geschrieben. Dr. Bessing schnitt mir das Wort ab und erzählte eine Geschichte über Claudius Seidl, den größten Kulturjournalisten der Welt, der die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erfunden hatte. Die Muse rutschte langsam unter den Tisch.

Nicht aus Müdigkeit. Auch nicht, weil sie zuviel getrunken hätte. Das Trinken hatte sie mir und vor allem dem Doktor überlassen.

Ich wollte den Abend immer noch retten. Es ging doch um etwas! Eine neue berufliche Chance in meinem Leben, ein langfristiger Vertrag, ein neues Großprojekt, nämlich die Kolumne Remember New Journalism. Vielleicht änderte sich die ganze Situation, wenn ich den Ehemann Jan Schmidt-Garre nicht als Menschen, sondern als Geschäftsführer des Verlages ansprach? So lehnte ich mich zurück, räusperte mich bedeutungsvoll und sagte laut:

»Also Jan, was ich eigentlich immer schon wissen wollte, ist, wie du denn so beruflich zum Verlag stehst, zu deiner Arbeit, oder zur Arbeit von Joachim, deinem Chef sozusagen?«

„Äh… wieso, welche Arbeit von ihm meinst du? Was er schreibt?“

»Zum Beispiel!«

Wie viele Verleger konnte auch unser Gastgeber nicht der Versuchung widerstehen, im eigenen Haus Selbstgeschriebenes zu veröffentlichen, was aber in meinen Augen nicht schlimm war, im Gegenteil, ich fand es gelungen und mochte seine Literatur. Schmidt-Garre dagegen verdrehte die Augen und sagte nichts. Bessing starrte ihn fassungslos an. Ich half nach:

»Er schreibt ja jeden Tag, und ich finde es wunderbar. Wenn man ihn nur kennt und nicht weiß, wie er schreibt, vermutet man vielleicht, er
könne etwas exaltiert schreiben. Aber nein, er schreibt hundertprozentig sauber, und ich muss ganz ehrlich sagen, NOCH besser als ich. Findest du nicht?«

Jan Schmidt-Garre schüttelte heftig den Kopf:

»Um Himmels Willen, nein!«

Bessing lag wie erschlagen in seinem erhöhten Tischsessel. Wie unter Schmerzen schob er den Körper wieder nach vorn und fragte seinen engsten Mitarbeiter noch einmal nach der Meinung über seine, Bessings, Schreibversuche. Der Befragte bekam einen roten Kopf:

»Langweilig. Nicht auszuhalten. Ich musste JEDE Zeile lesen!«

Seine Frau nickte heftig. Ich sprach nun lautstark dagegen, nicht weil ich das Verhalten unerhört fand, sondern, weil ich Bessings Literatur aufrichtig bewunderte, ja liebte. Im ganzen deutschsprachigen Raum gab es niemanden - außer vielleicht, in guten Momenten, Benjamin von Stuckrad-Barre, der zugleich so differenziert und entschieden formulierte. Wenn Bessing seitenlang über ein bestimmtes Detail schrieb, etwa über den Farbton der Augen des mir gegenüber sitzenden Beauties, war das alles andere als bloße Virtuosität; es war ihm ernst damit, er musste es so ausdrücken, die Sache verlangte es. Die Farbe war übrigens Blau, und zwar Hellblau, und kein normales Hellblau wie das von Kinderpyjamas, sondern ein Himmelblau, wie man es in bayerischen Heimatkapellen findet, wenn man die Augen schließt und es sich vorstellt. Wenn ich so etwas formuliere, wirkt es künstlich, obwohl die Muse wirklich genau solche Augen hatte, während man bei Bessing sofort spürte, dass es so war und zwar auf eine erschütternd präzise und wahrhaftige Weise. Das alles führte ich nun wortreich aus, angetrieben von einem halben Liter Eierlikör. Und tatsächlich konnte ich aus den Augenwinkeln beobachten, dass Bessing sich dabei allmählich beruhigte und wieder entspannte. Der Skandal war abgewendet. Die Muse hatte das alles ohnehin kalt gelassen, und Dr. Bessing war kultiviert genug, sich fortan so zu benehmen, als sei nichts geschehen. Er erzählte die nächste Angebergeschichte.

Um Mitternacht - Bessing referierte gerade über die sensationellen Pläne seines Verlages im nächsten Jahr - klingelte mein Handy. Wie verabredet war meine Frau aus Wien daran, ein süßes Mädel auch sie, ich sagte es schon, glaube ich. Das brachte mich innerhalb von einigen Minuten - immerhin - zurück in die Sphäre des Verstandes. Ich wurde wieder der, der ich bin. Wie ein krankhaftes Fieber kam mir vor, was mich eben noch umgetrieben, was mir den Hals zugeschnürt hatte. Mein kreativer Anteil war gefickt worden, und zwar stundenlang. Ich plauderte immer befreiter und lockerer mit meiner klugen - aber auch physisch bemerkenswerten - Frau und kehrte beschwingt zur Tischrunde zurück.

Doch was war dort inzwischen geschehen! Das Ehepaar Schmidt-Garre war schlagartig und spurlos verschwunden, und der Gastgeber hatte sich mit der Muse - ich hörte ihre Stimmen - im Waschraum eingeschlossen. Sie kamen aber sofort zurück, freilich sehr verändert.

Die Muse setzte sich wieder auf ihren Stuhl und schloss die Augen. Bessing konnte nicht mehr gehen. Das entsetzte mich, denn eben noch hatte er auf mich völlig klar im Kopf gewirkt. Vielleicht hatte er etwas langsamer als sonst geredet, aber an Niveau hatte er nichts eingebüßt gehabt. Jetzt lallte er wie nach dem ersten Schlaganfall. Er drohte zu stürzen, direkt vor die Füße der gelangweilten jungen Frau. Die rührte keinen Finger, sodass ich einen Satz auf ihn zumachte und ihn stützte.

Er lallte meinen Vornamen. Es klang erst einmal wie ein langgezogener Hilfeschrei. Es konnte aber auch heißen, dass ich gehen sollte. Ein paar Sekunden lang, vielleicht auch eine ganze Minute, blieb ich unschlüssig neben ihm stehen. Die Muse beachtete uns nicht.

»Oh, der Eierlikör ist alle«, sagte ich unschlüssig.

„Waaa… waa-haa… waa-haak!“ jaulte der Mann gottserbärmlich.

»Ja, hm, also ich geh’ dann wohl mal allmählich«, stotterte ich.

Ich ging.

Doch dann stand ich mit meinem schmucken Rennwagen vor dem schmiedeeisernen Tor. Das Faktotum war nicht zu sehen. Ich konnte auch nicht klingeln, weil die Klingel auf der anderen Seite des Tores war, zur Straße hin, also zum Kiesweg hin. Und der war elend weit von der Straße entfernt. Und auf der waren keine Menschen mehr.

Ich rief Bessing auf dem Handy an. Er nahm natürlich nicht mehr ab. Es regnete, und mir wurde kalt im Wagen. Es war Anfang November.

Es half nichts, ich musste zum Schloss zurückgehen und an der Tür rütteln. Es grauste mir davor. Außerdem hatte ich meinen Mantel dort vergessen! Das wurde ja immer schlimmer. Naja, dann hatte ich einen doppelten Grund, zurückzukehren. Aber als ich den Wagenschlag öffnete und in die Stille der Nacht hineinhorchte, glaubte ich das Heulen Dr. Bessings zu hören, eine Art Weinen, oder wolfsartiges Jaulen, schwer in Worte zu fassen, eben wenn ein sehr ausgewachsener, großer Mann heult - was ja normalerweise nie vorkommt. Jetzt verstand ich sogar ein, zwei Worte, nämlich:

»…laaangwaailig!… schraaibn…!«

Und dann, etwas klarer:

»Auss! Auss! Essit auss! Schraaip nii wiiidaaa!«

Wahrscheinlich ging es Dr. Bessing um die Äußerungen Jan Schmidt-Garres über sein Schreiben, die ihn viel mehr verletzt hatten, als ich dachte. Der Arme! Ich klopfte an die Tür. Erst mit dem Knöchel, dann mit dem massiven Holzgriff des Regenschirms.

Die Muse, kein dummes Ding, erfasste schnell meine Lage. Sie brachte mich zum Tor, öffnete es, und dann drehte sie sich überraschend zu mir, drehte sich in einer gekonnten, theaterhaften Bewegung in mich und in meinen wiedererlangten, noch offenen Wintermantel hinein, sodass ich ihn instinktiv um sie schloss, sie und mich vor dem heftigen Regen schützend. In Gedanken war ich längst weit von ihr abgerückt, war schon bei der Heimreise und bei meiner Frau, die ich bei der nächsten Möglichkeit anrufen wollte. Die Muse war aber ausgerechnet jetzt zum ersten Mal zuvorkommend; ich sollte ihr einen freundschaftlichen Abschiedskuss geben. Anders war es nicht zu erklären, dass sie ihren Kopf und ihre Lippen vorschob, bei geschlossenen Augen. Sie schmiegte sich an mich. Ich sollte vielleicht ihren Oberkörper spüren, was ich auch tat. Den Bruchteil einer Sekunde lang überlegte ich, ob das ein richtiger Kuss werden sollte. Aber es war natürlich nur der ganz normale freundschaftliche Wangenkuss, den ich normalerweise auch mit Bessing getauscht hätte. Was denn sonst.

Ich fuhr los, verlogen-onkelhaft winkend. Nur Minuten später, auf der legendären AVUS, trat ich das Gaspedal voll durch. Der Dreizylinder dröhnte mit 5000 Umdrehungen über Feld, Wald und Stadtlandschaft. Ich fluchte laut, es konnte mich ja keiner hören, endlich ganz laut, endlich ehrlich, vulgär, endlich frei von jeder Lüge, fast wie in meinem neuen Roman:

»Diese verdammte Bitch! Dieses schlecht erzogene, unhöfliche, schlechte… schlecht geleitete Kind! Keine Kinderstube! Lässt einen vier Stunden alles aus der Seele leiern, alles raus reden, und guckt immer nur beleidigt und gelangweilt auf die eigenen Turnschuhe! Was für eine miserable Erziehung! Diese wahnsinnige Ignoranz! Bestrafen müsste man dieses Biest! Man müsste die dumme Kuh… ANSCHREIEN

Der Motor brüllte mit mir um die Wette. Bis zur Holm-Friebe-Straße, wo ich parkte und ihn, den hysterisch gewordenen Motor, auslaufen ließ und abschaltete. Wir hatten uns beide beruhigt.