Remember New Journalism 4

Kolumne
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Mugshots – Wie ich am Wochenende mit dem Schriftsteller Thomas Glavinic (44), der gerade zum Sexisten des Jahres gewählt wurde, die Premiere seines ersten Theaterstückes im Volkstheater erlebte, bei dem er die Scheinwerfer umdrehte, auf seine Kritiker, den Sexismus durchdeklinierte, neu definierte und nicht nur die feministische Szene blamierte. Fast nebenbei kam ein mitreißendes Stück dabei heraus, das in den Kanon des aktuellen Theaterrepertoires eingehen könnte

Thomas Glavinic feierte am Wochenende eine dreifache Premiere: Zum ersten Mal schrieb er ein Theaterstück. Zum ersten Mal führte er Regie. Zum ersten Mal widmete er sich explizit und mit künstlerischen Mitteln dem Thema Sexismus. Für jemanden, der es in langen Jahren geschafft hat, einzig durch seinen lockeren Lebenswandel zum roten Tuch für die Frauenbewegung zu werden, wurde es ein schöner Tag. Ein Tag der Genugtuung, der Rache, vor allem aber des verdienten Sieges. Denn seine KritikerInnen sehen nun wirklich alt aus. Sie, die die sexistischen Terror am Werk sahen, wenn ein harmloser älterer Herr ein Kompliment über ein Dirndl machte, wurden vom aktuell erfolgreichsten deutschen Schriftsteller mit dem Schicksal Hunderttausender junger Frauen konfrontiert, die in unseren Bordellen wie Vieh behandelt und mehr oder weniger zu Tode gefoltert werden: rechtlos wie Tiere, misshandelt und ausgebeutet wie Sklaven, mit Drogen ruhiggestellt und süchtig gemacht, körperlich ruiniert binnen zwei Jahren. Da blieb den mehrheitlich jungen bis mittelalten „Bobos“ im Publikum das Lachen im Halse stecken, irgendwann, nicht sofort, aber nach einer Stunde bestimmt. So lange nämlich lässt der geniale Glavinic die in ihrem Selbstverständnis politisch engagierten Mitbürger in dem Glauben, einer der vor allem in Wien üblichen Beziehungskomödien beizuwohnen, mit vielen Lachern und der in zahllosen Schwänken bewährten Alltagskomik.

Die Geschichte ist nämlich die, dass ein junger, sympathischer, ganz normaler und vom Typ her wohlbekannter Szene-Großstädter eines Morgens betrunken neben einem Mädchen aufwacht, das er nicht kennt. Er hatte wohl so viel getrunken, dass er die Erlebnisse der Nacht komplett vergessen hat. Aber hat einen Mordskater und die damit verbundene mörderisch schlechte Laune. Glavinic lässt den jungen Mann sogar eine Viertelstunde halbtot im Zimmer herumtorkeln, bis er überhaupt bemerkt, dass noch ein anderer Mensch, eben das Mädchen, im Bett liegt. Schon diese erste Szene zeigt meisterhaft, wie gut Glavinic seinen Stoff kennt. All die gespenstisch hilflosen Versuche, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden, meist mit Hilfe des Smartphones, kennt jeder im Saal aus seinem eigenen Leben. Schon hier könnte man ahnen, dass das Thema Sexismus nicht abgehoben theoretisch und von seiner so grauenhaft verlogenen, weil ideologischen Seite angegangen wird, sondern konkret. Nicht eine vermeintliche Traumatisierung durch eine gendermäßig inkorrekte Bezeichnung wird zum Thema – weder ernsthaft noch in der fast ebenso läppischen Form der Ironie – sondern eine erlebte Geschichte.

Es geht also um reale Gewalt gegen Frauen, nicht um eingebildete. Der Autor hätte sich auch, heute sozusagen naheliegenderweise, eine Geschichte mit einer muslimischen Frau ausdenken und auf die Bühne bringen können. Doch wie blitzschnell und brutal wären die Abwehrreflexe der bourgeoisen Bohemians dann gewesen! Das Stück wäre schon als reaktionär, islamophob und rechtspopulistisch abgeschmettert gewesen, noch ehe die weibliche Hauptdarstellerin den ersten Atemzug auf der Bühne getan hätte. Doch beim Thema Prostitution ist der Acker noch nicht zubetoniert. Hier liegt das Gewissen des ehrlichen Theatergängers noch unschuldig und aufnahmebereit vor den Schauspielern. Glavinic hat das ausgenutzt.

Im Laufe der vielen lustigen Szenen und Sketche in der ersten Stunde wird schnell klar, dass die beiden jungen Menschen sich einfach verlieben (müssen). Sie passen auf paradoxe Weise perfekt zueinander, der trotz sexuellem Abenteurertum recht verklemmte, moralisierende, in seiner eloquent wienerischen Art stark an Stefan Draschan erinnernde Frauenversteher und Gutmensch auf der einen Seite, die umwerfend schöne osteuropäische Studentin auf der anderen. Dem Schock für den Mann, dass sie eine Hure ist, folgt der Schock, dass er sie gern hat, und darauf der Schock, dass sie, obwohl doch eine Hure, eine gebildete, intelligente Person ist, ohne eigenes Zutun in diesen Beruf gepresst. Die Lage, in der sie sich befindet, ist so himmelschreiend ungerecht, dass er einschreiten muss. Natürlich kann er dabei nur scheitern und ebenso wie sie zum totalen Opfer werden. Spätestens hier beginnt den FeministInnen die gute Laune auszugehen. Es sind nicht viele, und wahrscheinlich sind sie nur gekommen, um ein Spruchband gegen den angeblich sexistischen Autor hochzuhalten, der dieser Tage von der politisch ambitionierten Frauenzeitschrift WIENERIN den „Goldenen Penis für Sexismus“ verliehen bekommt. Anlass für diese seltsame Einordnung ist ein Skandal, der im Sommer die Randrubriken aller deutschsprachigen Feuilletons bis hinauf zum SPIEGEL erschütterte, nämlich das gegenseitige Dissen Glavinics mit einer rappenden Kollegin namens Stefanie Sargnagel, die, als er sie einen sprechenden Rollmops nannte, die Nerven verlor. Genau das ist ja der Sinn solcher Veranstaltungen, also des Dissens im Rap-Modus, auch wenn mir bisher noch kein schwarzer Rapper bekannt ist, dem das passiert wäre. Auch bei Stefanie Sargnagel, die ich für eine phantastische und sehr erfreuliche, weil talentierte Schriftstellerin halte, hätte ich das nicht gedacht. Aber es war so: Nicht ihre Bemerkungen über Glavinics Schwanz und Ähnliches wurden als sexistisch gebrandmarkt, sondern sein Wort vom Rollmops. Er avancierte binnen Stunden, erst auf Facebook, dann überall, zum Sexisten des Jahres. So verrückt ist die Welt heute. Und so wird sie noch eine Weile bleiben. Wer es nicht glaubt: der Hashtag „Aufschrei“ mobilisierte schon vor Jahren Hunderttausende bis aufs Blut empörter BürgerInnen. Was sie so empörte, war nicht das Schicksal von Millionen muslimischer Frauen als Menschen zweiter Klasse mitten in Deutschland, sondern Opa Brüderles hilfloser Konversationsversuch gegenüber einer mächtigen Journalistin. „Das Kleid steht Ihnen aber gut.“ Er wußte einfach nicht, was er sagen sollte. Heute haben wir Donald Trump. Genau deswegen. Also im übertragenen Sinne. Viele Leute halten einfach die moralisierenden Vorhaltungen, mehr noch die Maßlosigkeit der Bestrafungen für “falsches Benehmen“ nicht länger aus, etwa wenn Mitbürger ihre berufliche Existenz (zum Beispiel Wulff) oder Ehre (Matussek) verloren, nicht etwa wegen eines Kapitalverbrechens, sondern einer falschen Wortwahl. Bei letzterem reichte sogar ein Smiley.

Nun hat Glavinic gewiß nicht nur den Zeitgeist aufs Korn nehmen wollen. Im historischen Rückblick erkennt jeder ohnehin rasch, wie unbedeutend aus dem Ruder gelaufene Ideologien waren. Komplett lächerlich erscheinen uns heute die sogenannten K-Gruppen, die in den 70er Jahren eine ähnliche Kraft und Deutungshoheit in den einschlägigen Zirkeln hatten wie heute die Gender-Feministen. Nichts davon wird bleiben, weiß Glavinic, dafür braucht es ihn nicht. Oder, noch weiter: Es ist sogar gut möglich, dass er nicht eine Sekunde an die laufenden Debatten dachte, als er „Mugshots“ schrieb. Dafür spricht, dass er die dem Stück zugrunde liegende Geschichte schon im letzten Jahrhundert schrieb, unter dem Titel „Rosi“. Sie beruht auf einer wahren Begebenheit, die Glavinic in seiner Zeit als Taxifahrer erlebte, als er noch jung, arm und besonders verletzlich war. Damals stieg ein junges Mädchen mit ihrem Zuhälter ins Auto. Er wurde Zeuge einer schrecklichen Unterhaltung und einer Nacht, die ihn dazu brachte, die Dirne zu befreien. Es folgten furchtbare Szenen, die den jungen Poeten bis heute prägen.

Nicht nur deswegen ist er wie kaum ein anderer prädestiniert für diesen Stoff und dieses Milieu. Auch, weil er Österreicher ist. Gerade den Wienern sagt man ja ein geradezu „natürliches“ Verhältnis zur Prostitution nach, wenn es so etwas überhaupt geben kann, zumindest ein traditionsreiches. Von den Mutzenbacher Romanen über „Hotel Orient“ bis hin zu John Irving, der seine Nuttenszenen in „Garp“ nicht zufällig in Wien spielen ließ, zieht sich ein buchstäblich roter Faden durch die Geschichte der Rotlicht-Literatur. Für den Leser – hier den Zuschauer – hat das den Vorteil, etwas Wahrem beizuwohnen und keiner erotischen Effekthascherei.

Zurück zu „Mugshots“. Das Wort heißt Polizeifoto und bezeichnet laut Beiheft jene Aufnahme am „Tag im Leben eines Menschen, der bestimmt sein schlechtester war“. Das Stück läuft von der ersten Minute an super über die Bühne. Kein holpriges modernes Regietheater, sondern echtes. Zum Mitfiebern und Mitleiden, tatsächlich so, wie Lessing es gewollt hätte. Die Hauptdarstellerin Nadine Quittner hat am Erfolg womöglich einen noch größeren Anteil als der Autor und Regisseur. Sie trägt den Abend. Timing, Pausen und Kunstpausen, Intonation, das Spektrum der Emotionen von leise bis laut, von allen Farben, die Panik, die Kraft, der Humor, die Verzagtheit, die nackte Angst, die Gelassenheit - man weiß nie, wie die nächste Sekunde aussehen wird, und meistens schwebt man einfach in einer namenlosen Spannung, die von dieser widersprüchlichen, weil tödlich gebeutelten Frau ausgeht. Atemberaubend könnte man das nennen, wenn das Wort nicht so verbraucht wäre. Ihr Kollege Christoph Rothenbuchner kann da nicht mithalten, soll es ja auch nicht. Er ist anders, er ist normal und soll es sein. Die Alltagsneurosen dürfen schon sein, die hektischen Bewegungen, Schrulligkeiten, und das macht er auch alles perfekt. Beide sehen gut aus, laufen viel durch die kleine, moderne, realistisch eingerichtete Wohnung samt Küche und Bad (Bünenbild Hans Kudlich), sind nackt zu sehen, was ja für jedes Theater ein wichtiges Element ist, um Karten zu verkaufen.

Am Ende triumphaler Applaus. Minutenlanges Chaos. Kontrollverluste bei allen Beteiligten. Blumen, Plüschtiere, Kondome fliegen auf die Bühne, auch Unterwäsche, sicher soll alles etwas bedeuten, aber was genau, wissen die Werfenden nach den verstörenden Eindrücken, nach dieser fundamentalen Unterrichtsstunde im wahren Sexismus, wohl selbst nicht mehr. Ich habe meinen Spiralblock geworfen. So musste ich diese Kritik heute aus dem Kopf schreiben. Es ging ganz leicht, wie man sieht. Ein Theaterstück, das sich so rasend schnell und auf überraschend vor meinen Sinnen ausbreitete, dass mir die Stunden wie Minuten vorkamen, und dessen Rezension sich wie von selber schrieb. Glückwunsch, Thomas Glavinic!