»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

4.3.

Neulich, als ich Abfall für alle noch einmal gelesen habe, fiel mir auf, dass es da ständig um Computerprobleme geht. Hauptsächlich um Snafu, den Provider. Bei denen war ich in den Neunzigerjahren auch mal. Damals noch mit einem Modem von Robotics. Das hatte eine Reihe roter Leuchtdioden und machte diese charakteristischen Einwahlgeräusche. Kann ich mir nicht mehr richtig vorstellen, wie das war. Ich kann mich vor allem nicht mehr erinnern, was man da sonst noch gemacht hat, den lieben langen Tag über.

Ich hatte ja auch mal eine Faxfreundschaft mit Uwe Kopf. Daran kann ich mich noch ein bisschen erinnern, aber die Bilder sind vage. Mein Faxgerät stand auf einer Kommode im Flur und wenn ich nach Hause kam, hing oft ein Stück Thermopapier heraus und wurde von der Zugluft auf und ab geweht. Uwe schrieb auf der Schreibmaschine, kein Zeilenabstand (um Papier zu sparen). Inhaltlich waren es sehr häufig Beschimpfungen. Einmal hatte er das gesamte Mitarbeiterverzeichnis der Hamburger Morgenpost kommentiert. Unter das Bild, des, glaube ich, Sportredakteurs hatte er geschrieben: »Sieht aus, als ob er beim beidhändigen Wichsen erwischt wurde«. Unter das des Chefredakteurs: »Sieht aus, als ob er beim beidhändigen Wichsen mit Kondom erwischt wurde«. Glaube ich zumindest, dass das so war. Das Problem mit dem Thermopapier war ja, dass darauf die Schrift nach einigen Monaten gelblich wurde; noch später bereits verblasst war und schließlich warf man es in den Müll. Seltsam, dass ich den Kontakt zu Uwe komplett verloren habe. Ich weiß nicht einmal mehr, ob er noch lebt. Ich hatte nur diese Faxnummer von ihm. Und Geschriebenes, also Texte von ihm in Zeitungen, habe ich schon seit vielen Jahren nicht mehr wahrgenommen.

Nachher muss ich nach Schönefeld. Und das Einzige, was ich gerne mitnehmen würde, ist das schöne Buch, ein Prachtband, zum Jubiläum der Peanuts, mit dem ich mich in den letzten Tagen intensiv beschäftigt habe - und das würde ich auch in den nächsten Tagen gerne tun. Aber es ist derart groß und schwer, das müsste ich in einer Sondertasche als Gepäck aufgeben. Das geht nun wirklich nicht. Ich habe ja schon das riesige iPad dabei, das ja auf seine Art auch wie ein Prachtband ist. Es gibt keine digitale Version des Peanuts-Buches. Der Verlag heißt Baumhaus.

3.3.

Gestern: ein Tag voller Wunder. In etwa jeder Stunde ereignete sich eines davon. Ich betrachte den Tag gern als beendet, wenn die Sonne untergegangen ist, und kurz vor diesem Moment ereignete sich dann gestern noch, natürlich, eines jener herzergreifenden Farbspiele zwischen den Wolken und ihrem Hintergrund, der überraschend durchsichtig geworden war und die Bewölkung davor wirkte nun dunkel und so fest wie ein katholisches Bestrafungsraumschiff, von dem aus gelbe und bald auch intensiv rosafarbene Splitter übers Land einwärts getrieben wurden.

An den Fernsehturm hatte ich schon lange nicht mehr gedacht. In meiner Wahrnehmung hatte er meine Aussicht bloß noch möbliert und war so über die Monate, wie einst von Peter Sloterdijk prophezeit, selbst zu einem Möbelstück geworden, das ich, da es eh immer da war, nicht mehr wahrnehmen konnte. So fügte ich es auch den Scheinwerfern der Autos auf regennasser Fahrbahn zu; dem Strom ihrer Rücklichter, wenn sich das Geschehen auf der Danziger Straße zum Berufsverkehr verdichtet. Der Heiligabend fiel mir ein, noch vor Beginn dieser Aufzeichnungen, als ich alleine war und auf dem Heimweg von Penny sah ich vor dem Planetarium die Kirschbäume blühen.

Alles wurde besonders und erinnerungswürdig in diesem Jahr, wie auch schon in dem Jahr zuvor, weil ich damals diese Person, dich eben, gefunden hatte, der ich von meinen Wahrnehmungswundern erzählen konnte. Einmal saß ich morgens ganz früh im House Of Small Wonder und trank eine Fanta Classic aus dieser schönen Flasche und Tabassom erzählte mir von einem Stuhl gegenüber aus, wie schwierig das Leben für andere sei, wie schwierig vor allem die Entscheidungen, die sie fortwährend selbst, ganz alleine und für sich treffen müsse. Es war im Prinzip eine Fortsetzung, ein Sequel, eventuell war es auch bereits ein Remix all dieser Gespräche zu diesem Thema, die wir seit achthundert Jahren nonstop führen, und am Nebentisch saßen zwei junge Frauen, die, als ihnen die Pfannkuchen serviert wurden, die Telefone herausholten, um von den Pfannkuchen und den Tellern und dem Holz der Tischplatte drumherum Aufnahmen zu machen und diese daraufhin zu posten, das wirkte auf mich wie ein Tischgebet.

In den Jahren 2014, 2013, 2012, 2011 und ganz außerordentlich im Jahr 2010 hätte mich dieser Anblick allein so ziemlich sehr außer Fassung gebracht. Glühbirnen zerspringen dann ganz leicht in zigtausend Splitter. Ich bin in diesen Jahren derart oft in Stücke gegangen, dass ich irgendwann auch nicht mehr wusste, wohin jetzt welches Teil gehört.

Ich kann dir, meiner Muse, nicht genug dafür danken, für das, was du für mich getan hat. Denn es war ja nicht gerade einfach, und du hast ja auch ansonsten schon genug zu tun.

Neulich haben wir grob geschätzt. Es war eine Dagobert-Duck-hafte Zahl an Stunden, die wir miteinander verbracht haben, in etwa die Anzahl von Stunden, so will ich zumindest hoffen, die andere Paare damit verbringen, ins Kino zu gehen, Netflix & Chill mit Keksen zu machen, mit anderen beieinanderzusitzen und einer hat schön gekocht; gemeinsam in die Ferien zu fliegen und sich dort in ein Café zu setzen, das eben nur ein bisschen – aber das entscheidende Bisschen halt –, anders ist, als jenes, in dem man in der Heimatstadt immer sitzt. Kuchen backen, Blätter sammeln und die zwischen Zewa, der Bibel und jenem Band über Mikroben zu pressen, den ich im Müll gefunden hatte und dann sagte Sarah: »Wow, das ist ja ein irres Buch!«; Kastanienmännchen, überhaupt der Botanische Garten zur Zeit der Laubfärbung. Im Winter das Kakteenhaus. Weihnachtsmarkt, Ostereier erst bemalen, dann halt zwangsläufig verstecken und, ja ja, nicht alle wiederfinden; dass es einen Schalttag gab in diesem Jahr – der kommt erst in vier Jahren wieder!!! –, es gab sogar schon eine Sonnenfinsternis, und am 9. April wird es um 9 Uhr 30 eine Venusbedeckung geben.

Tja.

Mit Küssen haben die anderen freilich ebenfalls nicht unwesentlich viele Stunden verbracht. Mit Anfassen und mit Hand-in-Hand durch den Botanischen Garten zu Zeiten der Laubfärbung spazieren. Hoffe ich zumindest. Also ich würde es ihnen ultradringendst anraten.

Wir nicht. Noch kein einziges Mal. Das ist interessant. Denn es kommt mir gar nicht so vor, als ob. Mir kommt es, wenn ich überhaupt daran denke, manchmal so vor, als ob du etwas Dringendes erledigen musst - Menschheit retten, auf einem entlegenen Planeten Ackersalat züchten, suprafluide Magnetflüssigkeit destillieren oder etwas in dieser Art. Und ich weiß, dass diese Mission irgendwann auch vorüber sein wird. Als du noch gar nicht geboren warst, gab es einen Hit, der hieß Clouds Across the Moon.

Space Oddity war nämlich noch vor meiner Zeit!

2.3.

Ein Hey mit drei Ausrufezeichen stand in der Chatsprechblase der Muse. Es klang regelrecht empört. Also tippte ich ein fragendes »Dass ins Ficken 3000 nur Männer dürfen Fragezeichen« ein.

»Ja!«, schrieb sie zurück. Und: »Voll altmodisch.«

»Gewiß Punkt«, gab ich zur Antwort.

Dann lange nichts. Bei ihr ging wohl gerade die Sonne unter. Oder es herrschte diese Lichtstimmung kurz danach. Der Pazifik schlug seine Wellen, wie meine Zeit ihre Stunden.

»Ich find’s halt schon diskriminierend«, erschien in der Blase unter meinem »Gewiß«. Meine Blasen wurden in Blau dargestellt, ihre in Grau. Ihre Zipfel zeigten nach Schraubenzieher, meine nach nicht Schraubenzieher. Also schrieb ich: »Na ja, so ist das halt. Aber nicht nur in Berlin!!! Wo die Regenbogenflagge weht, herrscht strenge Segregation. Das geht hin bis zur Selektion, oder wie es einst vor den Toren des Front in Hamburg seitens des Türstehers hieß: Sorry, Mädels. Heute kein Fisch, bloß Fleisch.«

Kommando Zipfel auf Schraubenzieher schickte eine verschleierte Aubergine, die sich kurz darauf selbst in die Luft sprengte, mitten auf dem grauem Fond ihrer Sprechblase.

Nicht Schraubenzieher antwortete mit den zwei sich umkreisenden Herzen auf blauem Grund. Dazu Buchstaben in dieser Reihenfolge: »Klar, aber so ist das nun mal. Den Worten des Türstehers wohnt ja zugleich eine poetische Aussage inne. Was er beschwört, ist ein elementarer Unterschied, denn es ist mir kein Meeresbewohner bekannt, der es mit einem Landtier treiben könnte. Noch nicht einmal die Schlammspringer in den Mangrovensümpfen gelüstet es in ihren durch Ebbe verursachten Ruhepausen an der Luft nach einem Beischlaf mit Schmetterlingen. Also auch nicht quickiehaft.«

»Tiere bauen sich auch keine Darkrooms!!!«, gab sie mir prompt zurück. »Selbst solche Tiere, die zu quasiarchitektonischen Konstruktionen von nestähnlichen Dingen fähig sind, errichten diese unter, im Übrigen nicht zu unterschätzenden, Kraftanstrengungen, nicht bloß, um darin dann, und das meine ich so, wie ich es hier schreibe: zu FICKEN

Jaja.

Weil es ihnen ja nicht einmal möglich ist. Traurigerweise, wie ich finde. The Joy of Sex ist in der Sprache der Vögel unbekannt. Vögel masturbieren nämlich nicht. Fische übrigens auch nicht, soweit ich das weiß.

Nee, klar.

Also?

Tja.

Aha.

Ja.

Und woher, das solltest du jetzt aber schon beantworten können, rührt dann sozusagen diese übrigens nicht allein von mir so empfundene heftige Ablehnung des Tacos seitens der spektral gestreiften Auberginen?

(Lange nichts.)

Hallo!

Gleich.

Hey!!!

Ja-ha.

O Man.

Ey, das liegt doch auf der Hand, sozusagen. Der Taco der Mutter ist dort eben omnipräsent. Oder wie es in dem Lied heißt: Alles Tacos außer Mama.

Das find ich jetzt billig. Aber klar, billig ist halt oft die Wahrheit.

Ja. Ich frage mich vielmehr, was du dort vorhast, im FICKEN 3000. Also ich war dort einmal. Und ich gehe ganz bestimmt allenfalls einmal noch hin, dann aber nicht absichtlich. Es ist dort voll klebrig, man will sich gar nicht erst hinsetzen. Und wenn ich mich recht erinnere, dann waren dort sogar Frauen anwesend, so vom Typus neugierig, hihi, wollten mal schauen. Es kommt mir eventuell auch nur so vor, aber die ähnelten tatsächlich den Fischen an Land. Die sehen ja auch plötzlich nicht mehr so schön aus und funkeln auch nicht mehr so hübsch wie eben noch unter Wasser, wo eben das Licht noch auf andere Weise gebrochen wird und alle dort beheimateten Wesen schweben können. Inklusive der Pflanzen. Fische an Land sind plötzlich bloß noch Plastiktüten, gefüllt mit nassem Sand.

Du meinst, es gibt ganze Welten, in denen die Geschlechter zu Hause sind? Mit allem Drum und Dran? Eine für Taco und eine für Aubergine?

So ungefähr. Sagen wir: als Gedankengebäude. Das zumindest würde es mir zu erklären helfen, worin mein eigentlich unerklärliches Interesse für den Taco sich begründet. Die Welt der Aubergine kenne ich ja in und auswendig. Die Welt des Taco ist überraschend und - sorry: weit.

<4!!!

Same here.

Liest Du mir noch was vor?

Wie denn?

Ach stimmt, ist ja Chat. Ich hab’s glatt vergessen.

Pass auf: Datei.

(*palimpalim*, machte das Übertragungsgeräusch.)

»Haha«, schrieb die Muse. »Das gibts ja wohl nicht!«

»Tjaja«, schrieb ich zurück und ließ den blauen Fond blinken. »D a s wird noch nicht einmal im grundlegenden Standardwerk von Patrick Bahners erwähnt. Ich finde, wir sollten uns das tätowieren lassen.«

»You only live twice«, schrieb die Muse. »Von daher: gebongt!!!«

1.3.

Der Tierarzt meinte: »Da hilft bloß noch einschläfern.«

- Dann aber beide, sagte ich.

Auf der Quittung steht: »2 Schalentiere, geschlechtsreif / 120€«. Das ist nicht zu viel an Buße. Nie wieder Haustiere.

Der Tierarzt hatte mich der guten Ordnung halber darauf hingewiesen, dass es bei Strafe verboten sei, tote Tiere in öffentlichen Anlagen zu bestatten. Vor allem müsste das Grab, wenn schon, einen Meter und sechzig tief ausgehoben werden. Angeblich wegen einer ansonsten drohenden Vergiftung des Trinkwassers. Verstand ich nicht: Liegt das Trinkwasser denn nicht sehr weit unter der Erdoberfläche?

Ich habe die beiden in die Schachtel meiner neuen Doc Martens auf Styroporflocken gebettet. Als Grabbeigabe, wie es sich für Königspaare geziemt, den rätselhaften Gegenstand, diesen Prinzessinnenföhn, weil Rosa schön aussieht zwischen zwei dunklen Leichen. Ich kenne eine Baustelle hinter dem Planetarium, da fand ich ein passendes Loch. Und bedeckte die Schachtel mit Sand. Auf die Sandpyramide legte ich einen Strandkiesel aus Cagnes-sur-Mer. Darauf schrieb ich mit weißem Lackstift ein Motto, das Robert Stranz mir neulich auf seinem iPhone gezeigt hatte:

LIEBER NEN SCHWANZGIERIGEN

ALS NEN GANZ SCHWIERIGEN

So soll es sein.
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