»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

11.3.

DRONE BOMB ME-

Ich will das am allerliebsten eine Fantastillarde Mal untereinanderhinschreiben dürfen; das Video ist so schön und der Song noch so viel mehr!!! Und theoretisch darf ich es sogar: das Untereinanderhinschreiben der Worte DRONE, BOMB und ME in genau dieser Reihenfolge, weil das ja mein Tagebuch ist und weil es, vor allem, nichts kosten täte, aber zeitgleich befinde ich mich doch in einer Verantwortung vor einem angenommenen Gerichtshof der toten Künstler (Gerhard Merz), und spüre von daher, dass mein geplantes, aber nicht durchgeführtes Untereinanderhinschreiben der Phrase DRONE BOMB ME vor ihnen, den toten Künstlern, nicht statthaft wäre, oder aber ich würde von ihnen ausgeschlossen aus deren Gerichtshof, beziehungsweise, und noch schlimmer: niemals dort aufgenommen. Und das auch zu Recht, denn wenn ich tatsächlich eine Fantastillarde Mal DRONE BOMB ME untereinander schriebe und abspeichern würde, dann sähe das einfach nur gut aus, aber zugleich auch nach Konzeptkunst (lustigerweise, falls man sich auf den Tastaturen vertut, erscheint damit anstelle von Konzeptkunst 8€ usf).

Was Tippfehler anbetrifft: Ich liebe die, aber gleichzeitig erwarte ich auch sehnsüchtigst die Berichtigung von Hörverständnisfehlern durch Siri und Konsorten,  jedenfalls stand es exakt so im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Weitere 850 bis 870 Millionen Dollar sollten folgen. Aber dann machten die Hacker einen Tippfehler bei der Überweisung, die an eine Stiftung in Sri Lanka gehen sollte: Statt „foundation“ schrieben sie „fandation“. Dies veranlasste die für die konkrete Abwicklung zuständige Deutsche Bank zu einer Nachfrage bei der Zentralbank Bangladeschs, die die Transaktion stoppte. Zur gleichen Zeit wurde die Notenbank auch von der Federal Reserve von New York alarmiert. Diese war hellhörig geworden, da die Zahl der Überweisungsaufträge überraschend hoch war«.

Und bevor jetzt jemand »Drone bomb’em« sagt, sage ich DRONE BOMB ME.

Hochinteressant in diesem Zusammenhang ist die Einlassung von entweder Kerstin oder aber Sandra Grether - ich kann die beiden beim besten Willen nicht auseinanderhalten, sorry – zum Thema Indie-Politik: »Die alles entscheidenden Fragen aber lauten, ob es für sie als weiblich identifizierte Menschen theoretisch möglich wäre, sich innerhalb von Indie-Deutschland Strukturen zu schaffen, die ihnen zum Beispiel folgendes ermöglichten: ein Album nach dem anderen rauszubringen, mit namhaften Produzenten zu arbeiten, Artikel in den Musikmedien zu bekommen, und zwar mit jedem Album immer größere. Ein Label zu finden, das Geld investiert, auch in Promotion. Indie-Radio-Rotation. Entscheidend ist außerdem, ob ihr Name auch einen Monat nach Erscheinen des Albums noch fällt. Ob man sich ihre Lieder mehr als einmal checkermäßig anhört. Ob sie Schulen begründen dürfen und ob ihre Songtexte zu Überschriften werden«.

Und abschließend dazu und einfach weil ich es a) schön finde, und b) eigentlich megaschön, und ich es mir seitens der Muse echt spätestens zu meinem Geburtstag wünsche: DRONE BOMB ME.

10.3.

Im Flugzeug hörte ich Sonic Youth Unplugged in Moscow, einen Bootleg jenes sagenumwobenen Privatkonzertes zu Ehren Alexander Fedotovs, den mir Alexander Fedotov selbst gestern auf seiner Privatparty in Paris zugesteckt hatte. Ohne zu Zwinkern.

In den Lebensjahren von 16 bis 44 war es die Stimme von Kim Gordon gewesen, die mir verlässlich all jene Gefühle bescheren konnte, die andere beim Telefonsex suchen. Insbesondere auf Tunic, der Hymne auf Karen Carpenter »another salad, another iced tea«. Aber auch auf Crème Brûlée, auf Schizophrenia ganz heftig, und nicht selbst, sondern vor allem mit der obskuren Karaokeversion von Robert Palmers Addicted To Love hatte ich jahrzehntelang eine heftige Amour fou bei wechselnden Kopfhörern.

Dann, es war im Frühsommer des vergangenen Jahres, machte ich den schlimmen Fehler, Girl in a Band zu lesen. Hätte ich lassen sollen. Mein Bild von Kim Gordon, also das, was ich mir da zusammenfantasiert hatte allein über den Klang ihrer Stimme, brach noch nicht einmal in Stücke, es war einfach fort. Jahre- und jahrzehntelang hatte ich auf anfänglich sehr viele, dann auf immer noch viele (aber irgendwann waren ja dann doch die meisten schon von sich aus davon überzeugt) eingeredet, wie großartig, einmalig und toll Kim Gordon sei, diese Bassistin, der ich noch nie in meinem Leben begegnet war. Einzig aufgrund ihrer Stimme und ihrer Funktion als eben Girl in a Band. Vor allem halt: in dieser Band. Als ich Sonic Youth zum ersten Mal live sehen konnte, im sogenannten Forum des Barockstädtchens Ludwigsburg, kaufte ich mir ein T-Shirt, das ich heute leider nicht mehr besitze. Und Kim Gordon trug ein schwarz-weißes T-Shirt mit langen Ärmeln und schwarzen Querstreifen auf weißem Grund, wie ich es in ähnlicher Form allerdings noch immer besitze. Aber die Optik war nicht das Entscheidende, es war die Materialschlacht, in deren Mitte sie aufragte, mal singend, mal nicht. Thurston Moore und Lee Ranaldo machten ja stundenlang laut mit Schraubenziehern und Schlagzeugstöcken so lange an ihren Gitarren rum, bis alles kaputt ging, dann reichte ihnen der Roadie die nächste Gitarre an, die wurde dann nach den Originalplänen Glenn Brancas verstimmt, und es ging sofort weiter. Zu beiden Seiten der Bühne, Drumstick und Schraubenzieher in dem Falle, schaute der Konzertbesucher bei Sonic Youth auf jeweils massive Lagerregalsysteme für elektronische Gitarren, jedseitig geschätzte zwanzig Stück beinhaltend, und erst wenn die letzte Gitarre zerstört, an ihr der letzte Hals gebrochen, sämtliche Wirbel abgerissen und zumindest eine, oft aber dann doch eher drei ihrer Stahlsaiten zerrissen ward, dann erst wurde ein Sonic Youth-Konzert für gewonnen erklärt. Gegen Sonic Youth hätte Google Deep Dream keine Chance gehabt, denn so etwas kann sich kein Algorithmus ausdenken.

Gehabt muss es ja leider heißen, denn wie es auf der Rückseite meines goldenen iPads so schön heißt: THIS MACHINE KILLS FASCISTS - aber Sonic Youth gibt es ja nun leider nicht mehr.

Grund steht in Girl in a Band. Es ist ziemlich trostlos.

Und wenn ich jetzt Kool Thing höre, und eigentlich genau weiß, wie oft ich mich mit dieser Zeichnung von Raymond Pettibon beschäftigt habe, auch innerlich und ohne hinzusehen, ja ich behaupte, dass, wenn es noch Wappensprüche gäbe, dann stünde besagte Sprechblase als der meinige dar, aber wenn Kim Gordon dann Chuck D zuruft »Fear of a Female Planet?«, dann war das jahrzehntelang Hardcore-ASMR. Aber seit letztem Sommer ist das, plötzlich, nur noch.

Es heißt ja, dass sich Paare mit der Zeit immer ähnlicher werden. Im Falle der Muse und mir scheint das tatsächlich zu stimmen, denn in letzter Zeit gähne ich zunehmend gerne und viel und vor allem auch in der sogenannten Öffentlichkeit. Von daher nehme ich an, dass sich auch unsere Stimmen mehr und mehr aneinander angleichen werden. Das stelle ich mir im sogenannten Endeffekt lustig vor, aber auch verwirrend, denn dann hört man ja andauernd Echo, aber das Echo sagt etwas ganz anderes, als man hineingerufen hat in das gedachte Bergpanorama. Was nun die Stimme der Muse bis dato betrifft, so kann ich sie immer noch eindeutig und klar von allen übrigen unterscheiden (gibt’s das überhaupt - Stimmdoppelgänger? Siri macht eine Notiz zu einer Vorstufe für einen Bestseller mit dem Arbeitstitel Der Fünfundvierzigjährige, der seine Stimme mit der eines anderen verwechselte und in dessen Ohren verschwand).

Noch etwas wichtiger als die Minne erscheint mir in diesem Zusammenhang die etwas in Vergessenheit geratene Kunst der Alba. Der Taglieder also, mit denen die Liebespartner bei Sonnenaufgang die anstehende Entflechtung ihrer Leiber besingen. In unserem Fall bedeutet das dann die Lösung unserer Stimmen aus ihrer liebenden, wie umeinander werbenden Umschlingung. Es hat sich von allein ergeben, dass der unselige Mexican stand-off, wer denn nun auflegen solle oder möge, ganz schmerzlos dadurch erledigt wird, dass wir die Telefone beiseite betten und dann bleibt der jeweils andere zwar anwesend, aber es kommt auch etwas Ruhe ins Spiel, die zur Regeneration ja doch nötig bleibt, wenngleich man sich sehr wohl von Luft und Liebe alleine ernähren kann. An den Enden der Leitung wird es dann still, doch das bedeutet keinesfalls Schweigen. Denn es wird ja geschwiegen, gleichzeitig aber eben doch nicht. Die Verbindung wird stimmlos gemacht, aber sie bleibt dennoch bestehen.

9.3.

Passkontrolle für alle bei der Einreise nach Frankreich. Es hatte sich bereits eine Warteschlange gebildet, die durch ein Zickzacksystem aus Bändern gefädelt wird. Die Zollbeamten waren sehr freundlich. Mein Passbild wurde gründlich studiert und mit dem angeblichen Naturvorbild verglichen. Abschließend wies man mich darauf hin, dass es am nächsten Tag einen Generalstreik geben würde bei Métro, Bussen und Zügen. Hinter der Grenze dann, wie schon in Belgien, wie neulich an der Côte d’Azur: überall Soldaten.

Und ich fragte mich schon, weshalb man in Deutschland, also in Berlin zumindest, nie welche sieht. Brauchte es dafür erst einen Präzedenzfall, also muss zuerst etwas Schlimmes geschehen, bevor man sozusagen die Bewaffneten rausholt? Die vor Berliner Synagogen wirklich Wache schiebenden Polizeibeamten waren ja eher mitleiderregend. Die könnten gut jemanden gebrauchen, der wiederum auf sie aufpasste. Ich weiß allerdings nicht, ob das in anderen Städten Deutschlands anders ist, also ob da immer die Kettenraucher und die Dicken vor die Synagogen abkommandiert werden wie in Berlin. Beim Schwelgen in Berliner Szenerien fiel mir der bevorstehende Umzug ein und die ganzen Habseligkeiten im Keller und dass ich dann endlich mal wieder einen Nachmittag dem Studium des Prachtbandes Disrupted Pattern Material widmen würde. Und dem Betrachten des Geheimen Wissens der Frauen.

Es regnete ausnahmsweise nicht.

Kurzer Mittagsschlaf und dann gleich ins Café Colibri, um etwas zu dichten. Das Café Colibri ist das schönste Café weltweit, weil es die allerniedlichsten Stühle der Welt hat. Und das, obwohl das Café Colibri tatsächlich nicht nur klein ist, sondern, wie sein Name ankündigt, zierlich. Aber die Stühle sind noch viel zierlicher und trotzdem sitzt man auf ihnen supergut. Daneben lockt der Flagshipstore von Maille mit diesem superschönen Schriftzug. Vis-à-vis steht mein Hotel, wobei: Dazwischen versperrt der Megaklotz der Madeleine eben diesen Blickwechsel zwischen Colibri und dem Hotel und um den Megaklotz fahren die Autos im Kreis – ich finde das herrlich! Wann auch immer das angefangen haben mag unter deutschen Intellektuellen mit dem Fußball gut finden und Paris bescheuert und dämlich - ich mache dabei jedenfalls nicht mit. Ich habe Paris immer geliebt und wunderschön gefunden, und ich tue das immer noch.

Ein Kellner, übrigens weder zierlich noch auffallend dick oder riesig, sondern einfach so, wie er gewachsen war, servierte zu den Erdnüssen ein Glas des Hausweins, der im Colibri ein Château Palmer Jahrgang 2011 ist. Das mit dem Wein war auch schon mal anders, beispielsweise in den Jahren vor 2011 und auch in denen im zwanzigsten Jahrhundert, so lange komme ich schon hierher; beziehungsweise so lange schon fröhne ich vor dem Café Colibri sitzend dem Hauswein.

Dann ging die Sonne unter. Um die Ecke würde, wenn ich um diese Ecke herumgehen wollte, ein Riesenrad aufgebaut stehen auf der Place de la Concorde. Und dieses Riesenrad leuchtete in seiner Gänze als eine einzige Riesentrikolore. Und dahinter begännen die Champs-Élysées bis hinauf zum Triumphbogen. Dahin würde ich nachher noch einen Spaziergang machen. Auf den Champs-Élysées pfeife ich gerne die Melodie des gleichnamigen Liedes, es heißt Champs-Élysées. Das ist so ähnlich wie mit Rosé, der nur in Südfrankreich wirkt: Die Melodie des Liedes über die Champs-Élysées entfaltet erst auf den Champs-Élysées gepfiffen den intendierten Effekt.
Und weil Glück, so sagt Jörg Splett, auch einen Adressaten braucht, öffnete ich mein Notizbuch und schrieb eine Ode an die Muse hinein:

Oh, Prinzessin ohnegleichen
mit den Augen klar und hell,
mit dem zarten, seidenweichen
wunderschönen Hasenfell.

Niemand ist dir zu vergleichen
Mit den Augen klar und hell,
mit dem wunderschönen, weichen,
zarten, braunen Hasenfell.
ad infinitum

8.3.

Neulich, es ist bereits wieder eine halbe Woche her, da saß ich vor dem Beginn der ersten Lesung von Ronja von Rönne auf einem schwarz angemalten Podest und lehnte meinen Kopf sozusagen diskursiv an die Schulter meines Freundes Jan. Und gedanklich gab ich ihm zu verstehen: Verstehst Du mich, ich will nicht nur nicht, ich kann eigentlich wirklich nicht noch einmal umziehen. Weder psychisch noch physisch (Helau, alle Kölner: Try this at home), denn mir tut bereits jetzt, beim bloßen Gedanken daran, alles weh. Das nicht Gesagte blieb dabei, natürlich, entscheidend.

Da dies eine gedachte Unterhaltung unter Freunden war, wie sie nur Freunde sich ausdenken können, die beinahe gar nichts mehr vor einander aussprechen müssen, gab mir Jan dazu keine Antwort, sondern schaute, wie ich selbst übrigens auch in diesem Moment: einfach drein.

Seit ich das iPad Pro besitze, frage ich Siri jeden Tag jeweils morgens und dann noch einmal zur blauen Stunde nach dem Sinn des Lebens. Oft zitiert sie Douglas Adams und sagt »42«. Manchmal rät sie mir zu Schokolade. Oder dazu »noch mehr nachzudenken«. Einmal sagte Siri: »Das weiß ich nicht. Aber wenn Du mir etwas Zeit gibst, schreibe ich dir ein sehr langes Theaterstück, in dem nichts passiert.« Ein Umschalten der Stimme von der weiblichen zur männlichen, wie mir die Muse anlässlich dieser Frechheit geraten hatte, bringt qualitativ übrigens, von mir korrekt und empirisch und stochastisch ermittelt: nix.

Schokolade, 42 und nachdenken. Das machte ich also, während die S-Bahn sich allmählich jenem Bannkreis näherte, ab dessen Übertreten es mehr kosten täte. Doch genau auf der Grenze von AB zu ABC stieg ich aus.

Es ist die einzige mir bekannte Station, deren Schild noch in Fraktur beschriftet ist, und allein das machte mir meine neue Behausung sympathisch. Unter S-Bahn-Gourmets, von denen es einige gibt, hat auch die Architektur dieser Station so einiges zu bieten, aber das ficht mich nicht an. Der berüchtigte See zeigte sich werbend, er hatte Sonnenlicht eingefangen, das, untergehenderweise, in dumpfen Nuancen von Purple und Apricot den Philologen zu Denken gibt, weshalb wohl die alten Griechen Farbworte für alles mögliche hatten, nicht aber für Blau. Weswegen Homer die See als »weindunkel« beschrieb. Als das Meer noch Pontus hieß, und als ein Wesen erachtet wurde. Dann sank die Flotte und der Herrscher befahl seinen Soldaten, den Pontus mit elftausend Ruten zu peitschen, bis er die Flotte wieder herausspucken würde.

Auf der anderen Straßenseite wurden die abendlichen Gesänge der Vögel laut.

Das Tor der Klinik war elektrisch betrieben. Man zeigte mir ein Zimmer, das war größer als das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Und von meinem zukünftigen Bett aus sah ich ein Panorama des Sees. Es gab und es gibt eine Waschmaschine. Es gibt einen Herd. Es gibt einen Kühlschrank. Es gibt Treppenstufen. Es gab und es gibt sehr viel mehr von allem dort, als ich gebrauchen könnte. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich will mich einfach nur ausruhen. Ich will, das sagte ich der Klinikleiterin auch direkt – nicht bloß, weil sie mich nach meinen Wünschen gefragt hatte: eigentlich nicht mehr weg von hier. Und dass ich nicht will, dass sie das Schild auf dem Klingelknopf austauscht und eins mit meinem Namen dort einschiebt. Ich will nämlich nicht, dass hier jemand klingelt.

7.3.

Im Bordrestaurant des ICE von Köln nach Berlin befiel mich Melancholie. Auf dem bedruckten Tischset aus Papier war die Frikadelle vom Schwein und Rind in Pilzrahmsoße mit Salzkartoffeln (12 Euro 90) bezeichnet als »traditionell gut«, die Tandoori Hähnchenbrust auf buntem Gemüse und Wildreis (14 Euro 90) als »raffiniert anders«.

In einem Gespräch mit Claudia Roden hatte sie mir erzählt, wie das gewesen war, als sie mit ihren Eltern in den fünfziger Jahren des Krieges in Ägypten wegen nach London kam. Ihre Eltern hatten ein Essen ausgerichtet, wie sie es gewohnt waren, um sich in der Gemeinde vorzustellen, doch der Rabbi hatte die Gäste vor dem Verzehr der Mezze gewarnt, weil er a priori die Befürchtung hegte, dass nichts von dem, was in den zig Schälchen und Schüsseln dargereicht wurde, koscher sei. Damals in den Fünfzigern, so Claudia Roden, ernährte man sich in England von den grausigsten Dingen. Heute heißt das Nationalgericht Chicken Curry. Oder Pizza.

In Belgien gab es in jeder Frituur einen Snack namens ´t complementie, dabei handelte es sich um einen panierten Facebook-Daumen aus Hühnerbrustfleisch am Stiel von der Firma Mora, die auch den Snack Chick-in Chili herstellt: Ringe aus Hühnerbrustfleich, mit Chilisauce gefüllt und daraufhin zu einem Set aus mehreren solcher Ringe hintereinandergepresst orangefarben paniert; das Set aus acht solcher Ringe kommt also in einer rezenten Version des Stieleises Twister auf den Tisch. Der Gewichtheberschnauzbart ´Tache aus Hühnerbrustfleisch, ebenfalls in orangefarbenen Bröseln paniert und frittiert, wird, als To-go-Produkt ebenfalls an einem Eisstiel überreicht.

Zum Dippen standen in der Frituur Alfredo folgende Saucen des Herstellers Pauwels zur Auswahl:

Mayonnaise
Ketchup
Curryketchup
Cocktail
Andalouse
Samourai
Americaine
Brasil
Joppie
Smocl
Hanibal
Mosterd
Tartaar Maison
Looksaus
Peppersaus
Loempiasaus
Stoofvleessaus

An Sättigungsbeilagen für Fritten und oder Snacks standen optional und frei zuwählbar zur Verfügung:

Stoofvlees Maison
Balletjes in Tomatensaus
Vol au Vent
Goulash Maison
Spaghetti petite
Spaghetti Grande
Demi Poulet

Zum Nachwürzen der Fritten standen Pfeffer und Salz sowie gewürzte Salzmischungen des Herstellers Chefs for Fun mit den Aromen Salt & Garlic Pepper, Cheddar, Ketchup, BBQ, Sour Cream & Onions, Garlic & Parmesan sowie Buffalo bereit.

Tja. Armes Deutschland irgendwie. Das Bordrestaurant ist ja auch nur ein Spiegel der Gesellschaft.

6.3.

DE ROYALE SCHUIMKRAAG

Onderan in elk Glas
Vind je een gegraveerde D
Geen onbeduiedende Detail
Of een Ornamentje
Maar de Lan ceer Basis
Voor een Tornado van
Fijne Koolzurbellen
Fantastisch om naar te kijken
Levensnoodzakelijk om
De royale Schuimkraag
Op te bouwen
Énte behouden
Perfectie zit in de Details

*

Später, kurz vor Sonnenuntergang, als sich die Farben umkehrten, das Meer grün schien und der Himmel dunkel und blau.

Es passierte exakt dasselbe, was mir zum letzten Mal vor sechs Jahren in einer beknackten Pizzeria in Cannes widerfahren war, in der ich mich von der Tortur einer festlichen Präsentation der Gucci-Jacht erholen wollte. Bloß saß ich halt dieses Mal in einer Kneipe an der Strandpromenade von De Panne. Und der zurückliegende Tag war kein bisschen quälend gewesen, sondern wunderschön. Ich hatte mir ein Pferd geliehen und war über den Strand bis nach Frankreich geritten. Das dauerte eine Viertelstunde. Calais ist nicht weit. Danach fing es heftig zu stürmen und zu regnen an. Also Dampfbad und danach ein Mittagsschlaf, bis es dämmerte. In meiner Abwesenheit hatte sich der Sturm noch verstärkt. Als ich aus dem Hotel trat, kam mir der Regen waagerecht entgegengeflogen und am Strand wurden die Drachen der Kitesurfer vorübergefegt. Die dazugehörigen Surfer selbst, irgendwo draußen zwischen den grünen Wellen, konnte ich nicht identifizieren.

Die Kneipe war die erstbeste, ich kriegte die Tür kaum wieder zu, derart riss der Sturm daran und heulte. In dem Geschäft nebenan gab es Aufblastiere und Strandtennisschläger. Das wirkte alles absurd.

Damals in Cannes war es eine südfranzösische Nacht gewesen, warm, der Himmel dunkelblau, und ich hatte beim Verzehr einer Pizza ein bisschen über SMS-Texte für eine Ausrede nachgedacht, weswegen ich nicht mehr auf die Cocktailparty zu Ehren der Jacht gehen konnte. Aber die klangen allesamt lahm und im Grunde auch unglaubwürdig und die Wahrheit wiederum war nicht zu vermitteln, denn die lautete: Neulich, auf dem Springreitturnier habe ich mich doch auch schon so unwohl gefühlt.

Und wie Keto von Waberer es mir einst in Rendsburg prophezeit hatte, habe ich plötzlich Lieferungen erhalten. Deren erste ich an jenem Abend auf die Papiertischdecke schrieb.

So ähnlich vom Prinzip her, dabei aber ganz anders, lief es auch gestern in De Panne kurz nach Einbruch der Dämmerung im Bistro Mc Arthur, als ich mein Notizbuch aufschlug und eine Überschrift hineinschrieb »Arbeitstitel Kendrick Lamar«, darunter »1. Kapitel«, darunter den ersten Satz: »Es war Liebe auf das erste Wort«.

5.3.

Ich sitze in einem Bademantel auf dem absurd hoch angebrachten Fensterbrett und wenn ich geradeaus schaue, geht dort die Sonne gleich hinter dem Hotel Fox auf. Schaue ich über die Schulter zur Seite, ist dort das Meer.

Am Flughafen parkten wir neben einer marineblau lackierten Maschine und aus meinem Fensterchen sah ich über die orangefarbene Flügelspitze hinweg auf rote Buchstaben: »Willkommen im Land von Tim & Struppi«. Im Terminal gab es einen Wegweiser zum Kiss & Fly, darunter war das Piktogramm eines Männchens, das in der einen Hand einen Koffer hielt und den anderen Arm steil in die Höhe reckte. Ich hatte ganz vergessen, dass hier noch immer der Ausnahmezustand verhängt ist. Überall Soldaten in Camouflage mit Sturmgewehren. Erst zwei, dann noch einer, an jeder Ecke mindestens ein weiterer - es war wie in einem Videospiel. Mitten in der großen Halle ragte, vier Meter hoch circa, in schönstem Rot und Papierweiß kariert, die nach den Zeichnungen von Hergé gebaute Mondrakete auf. Makellos und auf Hochglanz poliert. Dort sehr viele Soldaten.

Dann stundenlange Fahrt an die Küste. Dabei ist Belgien klein, aber es herrschte Dauerstau. Und der Mann am Empfang des Hotels sagte: »Ja, das ist hier jeden Abend so. Kleines Land, viele Leute«. Das Hotel ist vollkommen leer. Zumindest auf dem Stockwerk, auf dem sich mein Zimmer befindet. Es ist nicht nur ein Zimmer, wie ich herausfinden werde, es ist ein Labyrinth aus Räumen. Hätte ich eine Schar Kinder dabei, könnten die hinter den nächsten zwei Badezimmern in weißen Stockbetten schlafen. Habe ich aber nicht. Schon als ich das Bett sehe, werde ich unfassbar müde, dabei ist es gerade mal kurz nach neun. Aber ich habe viel vor in den nächsten zwei Tagen. Zum Beispiel schlafen. Noch viel mehr Fritten essen. Trappistenbier trinken. Und Muscheln sammeln. Außerdem will ich herausfinden, wie die hiesigen Fischer das machen, denn angeblich ist dieser Ort hier berühmt für seine Tradition einer Krabbenjagd zu Pferde. Ich bin sehr gespannt.

Irgendwann in der Nacht wachte ich noch einmal auf, weil das Telefon klingelte. Die Muse sagte, dass sie mich liebt. Und dass sie ganz nasse Haare hat, weil sie im Regen spazieren war. Und ich hatte bis zum Telefonklingeln geträumt, dass ich an einem Fenster sitze und hinausschaue, einfach bloß schaue und draußen regnet es ununterbrochen und das schaue ich mir an. Jetzt wusste ich, dass ich aus dem Fenster zu ihr hinübergeschaut hatte.

Und in dem Traum nach dem Telefongespräch ging es um einen kleinen Hasen, der war winzig klein und trug einen Wollpullover, der war rosa und gelb gestreift und ich sah ihn an einem Strand, wie er aus Löchern herausgehüpft kam und über Sandhügel kletterte. Der Hase trug einen Sonnenhut und hatte ein sehr langes Schwänzchen, weil es Mortimer aus den Bilderbüchern war, die ich früher extrem ausführlich studiert hatte, weil ich sie auswendig kennen wollte, um sie immer bei mir zu haben. Anders als in den Büchern, wo sich Mortimer, weil es sogenannte Wimmelbilder waren, durch eine vollgestopfte Welt im Dauerstau bewegte, war der Strand in meinem Traum menschenleer.

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