»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

23.4.

Friedrich Forssman, der Zettels Traum von Arno Schmidt gesetzt hat – zehn Jahre lang hat er die hektographierten Schreibmaschinenseiten der Originalausgabe in den Computer eingegeben und daraus dann die erste barrierefrei lesbare Ausgabe geschaffen - hat mir einmal erzählt, dass er diese zehn Jahre als eine wunderschöne Zeit empfunden hat. Aufgrund dieser Tätigkeit des Dienenden. Er sagte damals wörtlich: »Ich finde es einfach angenehm, dabei meine Gedanken vor sich hin dieseln zu lassen.« Damals machten wir ein Buch zusammen: Ich hatte On Drink von Kingsley Amis übersetzt, Friedrich Forssman hatte aus meinem Manuskript erst ein Buch gestaltet und die Alkilope Eugen Egner durfte dann über die makellos lesbaren Seiten mit blauem Kuli drüberkritzeln. Leider leider hatte kurz nach Erscheinen der Sohn des verstorbenen Schriftstellers, Martin Amis (Abb. Emoji »Face With Medical Mask«) ein Exemplar davon in die Hände bekommen und befahl dem Verlag, die gesamte Startauflage zurückzuziehen, da ich damit ja eindeutig das Andenken an seinen Vater, immerhin Sir Kingsley Amis, in den Schmutz zu ziehen trachtete. Stimmte zwar nicht, sowas von überhaupt nicht übrigens, kam aber anscheinend so rüber. Na ja, Humor. Schwierig.

Im September 2015, vielleicht auch schon im August, das lässt sich im Nachhinein bei Twitter nicht mehr so genau recherchieren, begann ich auf einen Hinweis Friederikens hin, @dickebuerste53 zu folgen. In der Vorweihnachtszeit veröffentlichte er, der sich damals noch Theophilus Knesebeck nannte, einen Tweet über Bügelwasser, den ich derart lustig fand, dass ich mir seinen gesamten Twitterfeed durchzulesen begann. Es waren damals bereits mehr als 11.000 Texte à 140 Anschläge. Einige, sehr viele davon, waren so gut, so seltsam erdacht, dass ich Anne und Ingo bat, @dickebuerste53 als Autor auf waahr.de veröffentlichen zu dürfen. Mittlerweile nannte er sich Justissimo, dann später später noch einmal anders, aber das änderte nichts an der Qualität der Texte von @dickebuerste53. Es ist hier ein Autor zu entdecken, der  – Methode Matthew Barney – die Zeichenbeschränkung des angeblichen Kurznachrichtendienstes Twitter entdeckt, adaptiert und zu einer Kunstform entwickelt hat.

Ich habe einige Tage meine Gedanken vor sich hin dieseln lassen dürfen. Ich habe oft und sehr viel gelacht. Manchmal auch schon beim bloßen Gedanken daran, gleich wieder an meine Arbeit gehen zu dürfen. Das war eine sehr schöne Zeit, Tage wie ausgeblasene Eier sozusagen, aber noch schöner fand ich es dann, als Stefanie gestern mit dem Korrekturlesen fertig war und wir nun ab heute den entschlackten und polierten Twitterfeed von Justin Andre, so lautet der Klarname dieses Autoren, den Freunden der Literatur in einer leicht lesbaren Form zugänglich machen können. Ich bin mir recht sicher, dass ich nicht der einzige sein werde, der sich an seinem Text erfreuen können wird.

22.4.

Ich bin mondsüchtig, wie es heißt. Also nicht über mich, ich weiß ja zum Glück zwar nicht alles, was die Leute über mich zu wissen glauben, aber meine Mondsüchtigkeit etwa ist den meisten, die ich kenne, und von denen ich von daher auch weiß, was sie über mich zu wissen glauben, vollkommen unbekannt. Glaube ich zumindest. Der schöne Film mit Cher in der Hauptrolle ist auch unbekannt, da zu lange her, sodass ich beinahe schon davon ausgehen kann, dass Mondsüchtigkeit an sich als Gesprächsthema in der Berliner Gesellschaft momentan keine Rolle mehr spielen dürfte. Eventuell sollte ich am nächsten Donnerstag, wenn die Fürstin Gloria von Thurn und Taxis im Modeshop The Corner ihre aquarellierten Gesellschaftsportraits ausstellt, meine Mondsüchtigkeit thematisieren.

Oder halt Cher. Die sich ja, wie jedermann weiß, einst zwei Rippen hatte heraussägen lassen, um eine sogenannte Wespentaille zu erhalten. Prince Roger Nelson hat sich vor seiner conversio zum Zeugen Jehovas übrigens der selben Prozedur unterzogen (also unter die Säge gelegt), sogar aus dem selben (weltlichen) Motiv: nämlich, um an sich selbst die Fellatio ausführen zu können. Damals gab’s ja noch so gut wie gar kein Yoga. Mick Jagger hingegen, some guys have all the luck, konnte bereits in den frühen Siebzigerjahren auf der sogenannt offenen Bühne eines Festivals vorführen, dass er ein zwischen seine Oberschenkel gestecktes Mikrofon ganz in den Mund zu nehmen fertig brachte. Ganz so weit würde ich nicht gehen. Aber ich bin jetzt schon sehr gespannt* auf den Fürstentalk. Was mich nicht um den Schlaf bringen kann, da ich ohnehin mondsüchtig bin.

Also auf zur blauen Tanke, um die Wochenzeitung Die Zeit zu kaufen (die Tageszeitungen treffen dort leider erst um sechs ein, und das auf eine Weise, die keine Art ist, unter Zeitungsliebhabern gesprochen. Ich weiß das, habe es bezeugt und könnte, wie es heißt, sogar: ein Lied davon singen, tue das aber nicht), aber leider war sie bereits ausverkauft. Ob es in meinem Kiez etwa noch einige Mondsüchtige mehr gab? Prinzipiell könnte es sogar sein, daß Cher hier in der Nachbarschaft wohnte. Denkbar war das immerhin.

Ah ja, jetzt meldet sich das iPad »von sich aus« mit einem Hinweis: »Apple Pencil Batterie Aufladen (5%)« – woher weiß es das denn? Der Stift liegt doch ganz woanders. Aber klar: sie sind ja über Bluetooth verbunden. Um den Stift aufzuladen, muss ich ihm hinten die magnetische Kappe abnehmen, und ihn dann mit seinem Mini-USB-Stecker in den Schlitz des iPads einzuführen. Das sieht immer aus, als würde er im iPad Fieber messen.

Die beiden Süßen! Also ein Planet mit zwei Monden, auf dem nur noch Geräte leben: stelle ich mir ganz schön idyllisch vor.

»Für Morgen«, sagt Notifications »steht kein Ereignis im Kalender«.

(* in etwa so, wie ein Gummiband um einen Elefant)

21.4.

Gestern nachmittag bestellte ich mir zum ersten Mal in meinem ganzen Leben Banana Bread und war hingerissen von dieser mir bis dato unbekannten Köstlichkeit. Wie konnte das sein? Banana Bread war mir über die Jahre ja nicht gerade selten angeboten worden und immer hatte ich, ohne es je probiert zu haben, abgelehnt: Banana Bread, nein danke. So in etwa – ohne es je probiert zu haben. Dumm. Ich hatte halt immer geglaubt, dass es sich dabei um etwas handeln dürfte, das mir nicht schmecken konnte. Wie Cupcakes zum Beispiel. Die ich auch noch nie probiert hatte. Oder Apérol Spritz, wovon ich tatsächlich schon einmal gekostet habe, denn angeblich war darin etwas Alkohol enthalten, es schmeckte aber trotz allem einfach bloß ekelhaft. Banana Bread allerdings, im Café gegenüber wird es in Form eines mit Kouvertüre übergossenen Miniaturgugelhupfes verkauft, schmeckt herrlich! Und kein bisschen so ultrasüß, wie ich es mir ausgemalt hatte. Dazu passt ein Hefeweizenbier.

»So«, sagte Tim, ein Neuseeländer, der im Café am Tresen arbeitet. »Do your books sell well

»Could I otherwise afford to sit in a café all day

James, ein Amerikaner, der den Burger-und-Eiscreme-Posten besetzte, beglückwünschte mich zu meiner snappiness. Dieses Banana Bread war ja wohl der Hammer! Das reinste Zickigkeitsdoping. Herrlich!!! Dabei fiel mir ein, dass es tatsächlich in etwa auf den Monat genau zwanzig Jahre her war, dass ich meinen ersten Text an eine Redaktion verkauft hatte. Und zwar an die Stadtzeitschrift Prinz in Hamburg. Ich konnte mich leider nicht mehr genau erinnern, worin damals der Gegenstand des Textes bestanden hatte, aber es war definitiv eine Schallplattenkritik gewesen. Internet gab es schon. Ganz so alt bin ich also auch noch nicht.

20.4.

Gestern wurde in der Tribune de Genève, einer Zeitung, die ich nicht regelmäßig lese, der aktuelle »Facteur Suisse« veröffentlicht: »3,3 c’est le nombre de planètes nécessaires si tout le monde vivait comme la population résidente en Suisse« – die Menschheit müsste sich auf 3,3 Planeten von den Dimensionen der Erde verteilen, um dort dann jeweils so leben zu können wie die Schweizer.

Wer denkt sich so etwas aus? Ich brachte diese Zahl ein in das Tischgespräch, das ich am Abend mit dem Innerschweizer Beda Achermann und seinem Reisegefährten François Halard führte. Achermann, der extrem groß ist, hatte gerade den Kellner gebeten, ihm anderthalb Portionen Spargel zu bringen. Der Kellner hatte ihn zwar mit geweiteten Augen darauf hingewiesen, dass es sich damit dann um 600 Gramm Spargel handeln würde, aber das focht Achermann nicht an. Er nickte zufrieden. Im Grunde, erklärte er uns, war es in der Schweiz ausschließlich oben in den Bergen auszuhalten. Dort aber sei es herrlich und wild, dort gäbe es auch interessante Schweizer. In Zürich schlafe und esse man halt, aber leben ginge als Schweizer nur allein und in dieser abgeschiedenen und im Grunde ja zumindest lebensbedrohlichen Weltenthobenheit der Bergwelt. Vom Facteur Suisse hatte er, Achermann, noch nie gehört, fand die Idee aber lustig, weil absurd. Herr Halard, so stellte sich im weiteren Lauf des Abends heraus, liebte genau wie ich dieses einsame Waschbecken, das in dem Durchgang zwischen Bar und Speisesaal der Kronenhalle in Zürich an einer Wand angebracht ist. Es hat diese einmalig schöne Farbe. Ein mildes, leicht fluoreszierendes Grün.

Dass es irgendwo da draußen im Weltall noch 2,3 Exemplare dieses Waschbeckens geben könnte, hatte mich bei Lektüre der Tribune noch unangenehm stark beschäftigt. Auch durch das Lesen eines Interviews mit Gloria von Thurn und Taxis anlässlich der Veröffentlichung der Liebesenzyklika des Papstes in der Sektion »Z« der Zeit wurde mein vieles Denken an die 3,3 Heimatplaneten nicht gerade erleichtert, sondern mir schwanten auch 3,3 bigott daherplappernde Fürstinnen, ein um den Faktor 3,3 verstärkter Ausstoß ihrer mit dem Munde aquarellierten Gemäldeproduktion im Stile Elizabeth Peytons sowie halt leider auch 3,3 Päpste. Sowie 3,3 Doppelgänger mit Namen Greg Koch.

Klingt ausgedacht, aber nach der dritten Flasche Bordeaux winkte Beda Achermann den Kellner heran und fragte, während er eine Rechnung über 303 Euro bezahlte, nach einem Drüeli, also einer Kleinstflasche dieses Jahrgangs vom selben Weingut mit 0,33 Litern Inhalt. Wurde prompt serviert.

Früh zu Bett.

19.4.

Gestern um die Mittagszeit, das hatten wir so ausgemacht, verließ ich das Büro, um im benachbarten Gebäude eine Thüringer Bratwurst zu bestellen. Bis die kam, betrachtete ich die Kuckucksuhren an der Wand, von denen dort achtzehn verschiedene Modelle in ganz unterschiedlichen Bauweisen hingen. Die Kuckucksuhren waren so eingestellt, dass alle vier Minuten sich irgendwo an der Wand eines der Türchen öffnete, um dann, tja: Seltsamerweise machten alle dieser Kuckucksuhren ein identisches Kuckucksuhrengeräusch. Ob das wohl genormt war? Oder ob es, von ein und demselben Hersteller bezogen, bloß dieses eine eintönige Kuckucksuhrenwerk gab? Ich nahm mir einigermaßen fest vor, nach dem Verzehr meiner Bratwurst »Kuckucksuhrenwerke« zu googeln. Dabei fiel mir auf, dass ich nahezu nichts über Kuckucksuhren wusste, und das, obwohl ich in Kindertagen nicht selten in das Kuckucksuhrenmuseum im Schwarzwald gefahren worden war, wo unter anderem auch der mich unendlich stärker faszinierende mechanische Knödelesser ausgestellt wurde.

Dann kam die Wurst, die derart gut schmeckte, dass ich für einige Minuten die Ambientegedanken auszublenden schaffte. Danach aber, omni animal triste est, wurde mein Tisch von einem Typen in Schürze umschlichen, der mich freundlich fragte, ob denn »alles okay« gewesen sein bei mir.

»Klar«, sagte ich. »Total. Sehr sogar.«

»Greg Koch, nehme ich an?« So stellte er sich bei mir vor.

»Wer?«, fragte ich.

»Greg Koch«, sagte er. Und strahlte: »Sie sind doch Greg Koch?«

»Nein«, sagte ich. »Wer ist das denn?«

Der Geschäftsführer des Craft-Beer-Lokals entschuldigte sich. Riet mir aber, Greg Koch mal zu googeln, da der mir wohl derart ähnlich sähe, dass schließlich er selbst, ein Experte der Craft-Beer-Szene weltweit, mich zwangsläufig mit Greg Koch, dem Geschäftsführer der Stone Brewery, einer in der Craft-Beer-Szene als wichtig wahrgenommenen Figur in der Craft-Beer-Szene, verwechselt haben mußte.

Ich kritzelte den Namen auf die Serviette. Die Wurst ging trotzdem nicht aufs Haus. Heute früh habe ich Greg Koch gegoogelt. Meiner Meinung nach sehe ich exakt nicht so aus.

18.4.

In einem streng vertraulichen Telefonat teilte mir Joachim Lottmann neulich mit, wie Wladimir Putin riecht. Er muss es wissen, denn zum Zeitpunkt unseres Gespräches – ich hatte ihn angerufen – befand er sich in der Lounge eines Moskauer Flughafens.

Grund: – ah, ich liebe diese herrische Formulierung, die zu den glanzpolierten Instrumenten des hard baked Politbloggers gehört wie das Whistleblowing und noch so einige andere, geradezu widerwärtig und schauderhaft den Wackelpudding durch die Zähne strömend lassende Dinge mehr – war, dass er, Lottmann, an Bord der sage und schreibe tatsächlich mit »Austria One« beschrifteten Staatsmaschine des Österreichischen Bundespräsidenten nach Moskau geflogen worden war, um dort Wladimir Putin persönlich treffen zu müssen.

Joachim Lottmann, so muss man wissen, arbeitet ja derzeit an seiner Gesamtausgabe, deren krönender Abschluss in einem Band mit dem Arbeitstitel Der Zweite Faschismus beschlossen werden soll. Dies allerdings und lediglich vorläufig, denn wie jede gute Punkband können halt Die Lottmanns auch noch einen vierten Akkord und sind, ohne Zweifel, total geil auf die Zugaben.

»Wie riecht er denn genau, also Putin«, fragte ich.

»Extrem angenehm natürlich«, beeilte sich Lottmann zu sagen, nicht ohne ein »Mein lieber Joachim« hinterherzuschicken. Und danach das erlösende »Wie du dir denken kannst«.

Als ich den Code dechiffriert hatte, wurde mir klar, mit wem wir es da zu tun hatten. Also nicht mit Lottmann, sondern mit Putin. »Die Eisente«, als die der Präsident der ehemaligen UdSSR längst in den Teekränzchen zu beiden Seiten der Hamburger Elbchaussee bezeichnet wurde. Freilich wusste ich um Lottmanns verderblichen Einfluss. Er selbst hatte mich schließlich vor ihm gewarnt. Also vor sich. Und dennoch. Mit seiner genauen Beschreibung des Intimgeruchs der Eisente hatte Joachim Lottmann es auf die von mir einerseits ersehnte, zugleich aber auch megagefürchtete Weise geschafft, den sogenannten Keim des Zweifels in meiner Brust zu nähren. Ich wollte diesen von Joachim Lottmann kolportierten Duft Wladimir Putins am eigenen Leib verspüren dürfen. Ich wollte wissen, wie sich das anfühlt, als Mann, wenn man nackt ist, und nach Haferbrei riecht.

Am Freitag wurde dann in meinem Leib- und Magenblatt Frankfurter Allgemeine Zeitung ein Artikel publiziert, in dem den von Joachim Lottmann gestreuten Gerüchten bezüglich des Intimgeruchs des Präsidenten der Pansowjetischen Konföderation Dr. (honoris causa) Wladimir Putin die für mein Sicherheitsbedürfnis dringend benötigten Fakten untergeschoben wurden. Die FAZ zitierte Putin wörtlich aus seiner Rede an die Pansowjetische Jugend: »Je weniger Zähne man hat, desto besser schmeckt der Haferbrei.«

Ich lief (ging also) schnurstracks zu Kaiser’s, wo man, einer spezifischen Eigenheit, investorentechnisch, meines Kiezes geschuldet (damit, also mit dem Wort geschuldet, beginnt nun der Shift vom Politblog ins Feuilleton) eigens ein Regal bereithält, aus dem heraus ausschließlich in Russland hergestellte Lebensmittel feilgeboten werden. Ich griff zu bei den Getreideflocken der Handelsmarke Myllyn Paras, auf deren Verpackung ein so was von eindeutig vom Kellogg’s Frosties-Tiger abgepauster Tiger abgebildet war. Wie viele Packungsinhalte zu 300 Gramm würde ich aufessen müssen, um den Intimduft der Eisente verströmen zu können? Ich schätzte grob über den Daumen und nahm derer zehn. Dazu eine Dose des lediglich in Russland bekannten Sonderfisches namens Sardinelle, aber bloß deshalb, weil ich die grafische (sic) Gestaltung der Dose so hübsch fand.

Überflüssig zu erwähnen, aber auch Fun Facts sind mir wichtig: Russischer Haferbrei schmeckt halt leider echt noch nicht einmal halb so gut wie Kellogg’s Corn Flakes. Und zwar weder mit Milch noch mit Tee (wie es auf der Packung unter anderen Zubereitungsvarianten empfohlen wird, so man denn des Kyrillischen mächtig ist). Körpergeruchstechnisch leider auch keine News: Wladimir Putin riecht genau so wie ich.

17.4.

Ich hatte von so etwas schon ein paar wenige Male gelesen, persönlich erlebt jedoch lediglich zwei Mal in meinem Leben: zum letzten Mal bei dem legendären Auftritt von Modeselektor vor dem Adidas-Laden in der Torstraße (ja, ich weiß, das klingt albern, war aber geil!). Und gestern früh am Abend dann wieder, als wir, es war schon kurz nach 20 Uhr, ich deswegen Catrin unerbittlich antreibend, die am Steuer des Jeeps saß, trotz ihres schmerzhaften Schleudertraumas, das es ihr unmöglich machte, zu nicken, oder den Kopf zu schütteln, ohne dabei gequält aufzuschreien, endlich den Karstadt am Hermannplatz erreicht hatten. Um dann, in die Karl-Marx-Straße einbiegend, feststellen zu müssen, dass es bereits zu spät war. Vor allem wir. Denn es hatte sich eine sogenannte Traube aus Menschen gebildet. Selbst auf dem Mittelstreifen der vierspurigen Straße drängten sich die Zuschauer. Sie schauten denen zu, die eine Traube bildeten und aus deren Formation heraus versuchten, sich ins Innere des Gebäudes pressen zu lassen. Es ging um die Eröffnung des Schnellrestaurants Dandy Diner.

Das volle Ausmaß dieses Gastro-Raves konnten wir natürlich erst ermessen, als wir die leidige Parksituation bewältigt hatten. Der benachbarte Spätkauf machte bereits Bombengeschäfte. Sämtliche Familienmitglieder des Inhabers packten mit an, um Flaschenbier an die überzähligen Gäste der Eröffnungsparty zu verkaufen. In den Genuss der von Carl Jakob Haupt und Kurt Karl David Roth ausgelobten Gratisgetränke konnten ja nur die wenigsten gelangen, denn auch im Inneren des ganz in Fleischrosa gekachelten Schnellrestaurants war es gesteckt voll. Aus dem mit Menschen gefüllten Raum drang bei ausgehängten Terrassentüren derart laut die Musik, dass man sich selbst auf dem Mittelstreifen der Karl-Marx-Straße gegenseitig sehr laut anschreien musste, um sich überhaupt verständlich machen zu können. Im Hintergrund, hinter hunderten von Rückenansichten und Hinterköpfen blinkten fleischfarben die beiden Flachbildschirme. Darauf war das hübsche Logo des zwinkernden Schweinchengesichtes zu sehen.

Um die ebenfalls versprochenen Babyschweinchen zumindest einmal kurz berühren zu dürfen, wagten wir nach drei Minuten einen Vorstoß ins Schnellrestaurant hinein. Wir kamen in etwa bis zur Mitte des großen Raumes, weit hinten war auf einem Podest Carl Jakob Haupt zu sehen, wie er, in der wirklich sehr lustigen Uniform seiner veganen Schnellrestaurantkette (das Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte im Vorwege bereits exklusiv über diese Pläne berichtet) Freibier in Flaschen an die Menge verteilte. Er sah, eine Viertelstunde nach der offiziellen Eröffnung, bereits ziemlich erschöpft aus. An zugerufene Grüße war angesichts des massiven Musikpegels nicht zu denken. Also schickte ich meine Glückwünsche über Twitter. Immerhin konnte ich ihn dabei beobachten, wie er sie favte und retweetete. Dann aber gleich weiter im Akkord. Von Kurt Karl David Roth war indes überhaupt nichts zu sehen. Die Schweinchen waren wahrscheinlich bereits tot.

Einen jener Glücklichen, die eines der ebenfalls gratis verteilten Avocadobrote ergattert hatten, konnte ich mühelos davon überzeugen, mir das mit dem Schweinchen-Logo bedruckte Umwickelpapier zu schenken. Mit dieser Devotionalie, die ein megawertvolles Briefpapier abgeben würde, traten wir den Weg zu unserem Parkplatz an.

Das erste Mal, dass ich so etwas erleben durfte, hatte sich in jenem Sommer ereignet, als auf der Lautenschlager Straße in Stuttgart der Palast der Republik eröffnet wurde. Das war ja eigentlich ein größerer Zeitungskiosk gewesen, in dem dann plötzlich Getränke ausgeschänkt wurden. Zum Beispiel erstmalig Caipirinha – damals, in den Achtzigerjahren ein exotischer novelty gag. Am Morgen nach meinem ersten Besuch dort (es gab nicht einmal Stühle, man saß auf dem Trottoir), fand ich einen von meiner Mutter in vorwurfsvoller, auf jeden Fall mahnender Absicht auf meinem Frühstücksteller plazierten Artikel aus der Stuttgarter Zeitung, die in bewährter Manier von der Eröffnung des neuartigen Nachtlokals berichtet hatte. Schon in der Überschrift war von »Bürgerkriegsähnlichen Zuständen« die Rede gewesen.

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