»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

4.5.

Gestern zeigte mir Alfons einen wunderschönen Gegenstand, an dem ich mich gar nicht sattzusehen können glaubte. Ich wollte ihn auch immerzu anfassen. Es handelt sich um einen etwa dreißig Zentimeter langen Behälter aus mundgeblasenem Glas in Form eines Fieberzäpfchens. Darin befindet sich exakt ein Liter Wasser. Der Behälter wurde eigens für diesen Zweck, einen Liter Wasser zu umschließen, angefertigt. Die darin enthaltene Luftblase ist von daher sehr klein, vor allem, das steigert die Attraktivität des Objektes, einer Arbeit von Felix Kiessling, für mich extrem: Es gibt keinen Verschluss, das Wasser und die Luftblase sind nahtlos vom Glas umschlossen. Nur an der vorderen Wölbung des Zäpfchens ist die Narbe vom Abdrehen der Glaspfeife zu erkennen.

Zu dem gläsernen Objekt gehören leider, wie ich sagen muss, noch zwei Dokumente. Auf dem ersten erhält der Käufer des Liters eine Kalkulation, um wieviele Bruchteile eines Meters der Weltwasserspiegel abgesunken sein dürfte, da Felix Kiessling einen Liter Wasser aus dem Landwehrkanal entnommen und in das mundgeblasene Zäpfchen hatte abfüllen lassen. Dazu dann, so Alfons, erhält der Käufer noch ein Gedicht, das der Künstler für eine Frau verfasste, die er geliebt, sie ihn aber nicht.

Das fand ich schlimm. Alfons nicht. Sondern gerade gut: Es bekäme ja nur derjenige zu lesen, der es kauft.

»Gerade das ist doch das Unmoralische, dass er es verkauft«, sagte ich. »Er hatte es doch für sie geschrieben. Er hat es ihr übereignet. Weiß man denn, was sie dazu sagt; weiß sie denn überhaupt, dass er das macht?«

»Das ist mir egal«, sagte Alfons.

»Wie ist das Gedicht denn?«

»Natürlich sehr gut.«

3.5.

Es gibt kein anderes mir bekanntes Lied aus der Geschichte der Popmusik, bei dessen Entstehung ich so gerne vom absoluten Anfang her schon als Fliege an der Wand mit dabei gewesen wäre wie: I’m Not in Love. Auch dass es davon keine Dokumentation gibt, quält mich. Sehr. Ich habe sogar extrem große Lust, Kathy Redfern zu besuchen und sie eingehend zu befragen, wie das damals eigentlich war und überhaupt alles vor sich gegangen ist. All studio and production — die einzig guten Live-Versionen sind Playback und alle Coverversionen, sogar die von Diane Krall, sind Schrott.

Alles an 10cc scheint mir perfekt. Schon allein der Name der Band, dann erst die Persönlichkeiten der Mitglieder, und wenn es die großartige Serie der Deutschen Grammophon bloß noch gäbe, die Tim Renner in seiner damaligen Funktion als Chef der Universal ins Leben gerufen hat, dann wäre das doch jetzt das Megaprojekt der Stunde, wenn Ricardo Villalobos und Carl Craig zusammen die Masterbänder von I’m Not in Love remixen dürften und täten. Ich meine: Loops, vier Meter lang, aus Magnetbändern mit den Gesangsaufnahmen von Godley & Creme! Und mit der Stimme von Kathy Redfern, die sich angeblich zunächst strikt geweigert hatte, ins Mikrofon zu flüstern: »Don’t cry, big boys don’t cry«.

Robert Smith, den ich auch sehr gerne zumindest noch einmal treffen können würde, bevor er, wie ich hoffe, so bald noch nicht, gestorben sein wird, hat sich meines Wissens nach ebenfalls noch nie dazu geäußert, ob die Stimme Kathy Redferns ihm die Inspiration geliefert hatte, Boys don’t Cry zu dichten.

Godley & Creme gegoogelt. Interessant fand ich, dass es Personen gibt, die im Internet als inaktiv geführt werden. Und das auch noch, im Falle Godley & Cremes: seit 1988! Besonders angesichts dieses Monster-Œuvres. Cry ist ja tatsächlich eines der wenigen Lieder, die in puncto Kompatibilität mit der Königin der Substanzen I’m Not in Love noch das sogenannte Wasser reichen können. Aber halt auch bloß im Extended Remix.

Die Website von Eric Stewart ist seit 2014 offline. He is »considering whether he wants to have a new website.«

(Abb. Screenshot aus dem Internet: The Gizmotron)

Und dann schicke ich meiner Übersetzerin die aktuelle Kolumne und mache den ersten Satz dann doch wieder auf Deutsch, weil ich gespannt bin, ob es für »Seltsam, oder« vielleicht einen noch besseren Ausdruck gibt.

2.5.

Zeit der Mahonienblüte. Die traubenblauen Beeren kamen früher in die Erbsenpistole, um damit »auf die Mädchen« – natürlich »auf die Mädchen« – zu schießen, die diesen Brauch ablehnten und hassten, weil die Flecken aus dem Fruchtsaft der Mahonien sich mit überhaupt keinem Waschmittel mehr entfernen ließen. Dafür flogen die vergleichsweise winzigen Mahonienbeeren aber auch nicht so weit wie getrocknete Erbsen, man musste also ziemlich nah heran an den Feind, um einen Treffer anbringen zu können.

Mit der Verbreitung elektronischer Bestellsysteme in der Gastronomie stirbt leider auch die Frage nach »Zettel und Stift« aus. Kann sogar sein, dass dadurch letztendlich sogar der Brauereiblock an sich in den Abgrund gerissen werden wird. In meinem Leben war diese Frage zumindest noch ein Standard gewesen in gewissen Situationen des Sozialen, beispielsweise, wenn ich jemanden kennengelernt hatte. Dann fragte man das Barpersonal nach »Zettel und Stift« (um eine Telefonnummer oder, noch vorgestriger, eine Wohnadresse zu notieren). Die Frage war üblich und wurde selbst bei Lautstärke Rave noch von den Lippen abgelesen. Es gab sogar eine dazu gehörige Pantomime, die sich nur in einem Detail, das aber wesentlich war, von der Pantomime für »Könnten wir bitte die Rechnung haben« unterschied.

Auf den Brauereiblöcken wurde die Abrechnung einer Nacht erstellt. Für einen Zahlenmagier wie Roman, einen der Kellner im klassischen Schumann’s an der Maximilianstraße, war der Brauereiblock das wichtigste Arbeitsgerät. Auf Brauereiblöcken wurden aber auch Ausschnitte aus Stadtplänen skizziert, Lebensentwürfe, Geschäftsideen, Anträge aller Art (selbst ich, Reinhold Böh war sozusagen mein Zeuge, schrieb einst der schönen Mathematikerin, die ich nie kennengelernt habe, auf einem Brauereiblockzettel von, das weiß ich noch: Augustiner »Willst Du jetzt mit mir spazieren gehen — Ja,  Nein, Vielleicht«. Darunter, wir schrieben bereits das 21. Jahrhundert, meine Mobiltelefonnummer bei Debitel, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Woraufhin, wir befanden uns in einem room full of people, sie, die schöne Mathematikerin, mir Reinhold, der ihr meinen Brauereiblockszettel überbracht hatte, mit einem von ihr beschriebenen Brauereiblockszettel zurückschickte: »Wie soll ich das entscheiden, wenn ich gar nicht weiß, wer Du bist?« Darauf hatte ich, entgegen des Ratschlags Reinholdens eine mögliche Vorgehensweise betreffend, den Heimweg angetreten. Es war ohnehin ein durchwegs bizarrer Abend gewesen, da der DJ als Kommentar zu dem damals gerade erschienenen Barockalbum von Daft Punk das Spätwerk der Wings aufgelegt hatte. Woraufhin ich zu Andreas Neumeister sagte: »Das nächste große Ding wird Rondo Veneziano«. Wurde es halt aber einfach original gar nicht).

1.5.

So lange geschlafen wie schon lange nicht mehr.

Zum ersten Mal Erdbeeren bekommen in diesem Jahr. Schon als Kind habe ich, wenn überhaupt, dann unreife Früchte gegessen. Am liebsten die Pfirsiche. Aber auch Haselnüsse. Tröstlich, dass es Erdbeerhäuschen gibt, rot lackiert, mit aufgemalten Sporen in gelb und einem Stiel auf dem Dach. In die Eingangstür des Häuschens mit der Erdbeerhäuschennummer 165 ist ein Schild genietet: »Einbruch lohnt nicht! Der Verkauf-Stand wird täglich ausgeräumt.«

Schöner, warmer, weicher Wind. Das Blau ist nicht gründlich durchgerührt und die Zweige der Birke zeigen sich girlandenhaft als die leichtgewichtigsten Zweige von allen. Eine Hornisse, die erste in diesem Jahr, gräbt in der Erde des Blumentopfes. Scheinbar ergebnislos. Dann muss sie weiter.

Die Berliner Polizei twittert unter dem Hashtag Walpurgisnacht.

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