»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

11.5.

In ihrem Standardwerk Tweet like a Pro gibt Jenna Jameson zwar so allerhand Hinweise, aber entweder bin ich halt zu dumm oder eben auch gerade nicht, jedenfalls funktioniert es leider nicht. Was ich für einen Hammertweet halte (zum Beispiel »Ein Haus aus Sülze, flankiert von 2 Gewürzgurken«, oder so ähnlich), kommt bei meinen sogenannten Followern nicht nur mäßig an, sondern: gar nicht. Das macht ja nix, eigentlich will ich dabei, beim Tweeten, bloß sichergehen, dass ich meine Gedanken nicht etwa in ein sogenanntes schwarzes Loch freilasse. Als Protestant ist mir jeglicher Gedanke an Verschwendung halt super unangenehm und in dem Fall ließe ich es lieber.

Na ja, aber wozu kenne ich denn den erfolgreichsten Twitterer aller Zeiten (eTaZ) Justin Andre, der unter @dickebuerste53 (auch das bereits vermutlich ein Fehler, nachtglockenhaft, dass ich mir selbst einen derart einfallslosen Handle habe »nicht einfallen lassen«, denn ich heiße ja hüben wie drüben exakt genau so wie ich selbst) einen neutronenbombenhaften Tweet nach dem anderen aus seinen Ärmeln schüttelt – und dass schon since 2014.

DiBue also, wie allein ich ihn nennen darf, riet mir bei meinem von nicht gerade von Verzweiflung grundierten, aber schon ein bisschen davon angefassten Anruf, es mit einem radikalen Programm der Kundenfreundlichkeit zu probieren. Ergo: Die Follower, die er, DiBue, eine Ära lang als »Follieschnollies« adressierte (ohne dokumentierten Widerspruch), »dort abholen, wo sie sich befinden, mental«. Awwww!!!, klingt das grässlich, meinem Vater *rollen sich die Fußnägel auf*, mir auch übrigens auch schon beinahe, aber trotzdem: »irgendwo«, irgendwie hatte mein junger Schreiberfreund recht.

Was also, so dachte ich nach, könnte die Menschen dort draußen noch interessieren? Birnenbrause? Dazu hatte Sarah Kuttner einen Tweet lanciert, besser gesagt, über deren Verfügbarkeit (also Birnenbrause), der geliked wurde, bis der Arzt, der doch nie kommt, kam. Oder etwas zum Hashtag »Schönen Sonntag«? Das schaute ich mir ja selbst einmal wöchentlich zum Honigbrot im Bett gerne an. Dennoch: Immerhin hatte ich ja noch einen Ruf zu verlieren. Als Vorzeigeintellektueller dürfte mein Megatweet nichts weniger sein als das: megainteressant und Mind-Boggling, Evening Post. Hatte ich doch Max Goldt höchstselbst neulich erst am Muttertag gesehen, wie er sich in hochgekrempelten Flanellhosen von einem noch tatteriger den Anschein machenden Mütterchen, vom Wannseebad kommend, über die Schnellstraße hinüber zur Tankstelle (Agip) hatte helfen lassen.

Gut, aber: Na ja, also dachte ich ein wenig, und schrieb daraufhin ein paar Versionen eines, wie ich glaubte: Monstertweets. DiBue allerdings meinte, höflich: »wk« (Twittersprech für »wohl kaum«). Thema, um das meine sprachlichen Verknappungsüberlegungen kreisten: Woher kommen eigentlich diese ganzen schönen Menschen, die sich im Mai allerortens zeigen wie Pilze – beziehungsweise: Wo waren sie vorher; wo »haben sie gesteckt«? Ein, wie ich zumindest fand, breitentaugliches Thema. Na ja. Wie »man« sich irren kann.

Tweetentwurf No 1:

»Wer weiß, wo all die schönen Menschen bis Mai überwintern – in einer Höhle bei Hameln, bei Flötenmusik?«

Tweetentwurf No 2:

»Wer weiß, wo all die schönen Menschen bis Mai überwintern – in einer Höhle bei Hameln, mit Flöten im Hintern?«

Tweetentwurf No 3:

»Höhlen bei Hameln, ist es etwa dort, wo die schönen Menschen überwintern? Kein Wort von der Flöte.«

Tweetentwurf No 4:

»Flötenmusik – Wenn schon Mai, dann denke ich an jenen Ort, wo schöne Menschen überwintern.«

Tweetentwurf No 5:

»Mai: Die schönen Menschen strömen aus ihrer Höhle bei Hameln. Und ich höre Flötenmusik.«

Tweetentwurf No 6:

»Flötenmusik begleitet den Auszug der schönen Menschen im Mai. Die Höhle harrt.«

Tweetentwurf No 7:

»Flöten, na gut, allein von deren Anblick wird mir winterlich. Bald schon, bald, werden die schönen Menschen nach Hameln geräumt.«

Tweetentwurf No 8:

»When in Hameln, do as the beautiful people do«

Tweetentwurf No 9:

»Wer schön ist, der muss leiden. Und das in Hameln (zu Flötenmusik).

Tweetentwurf No 10:

»Höhlen sind kein schöner Ort. Drum halte dich von Hameln fort. Und schallt es auch von noch so vielen Flöten — der Winter naht, will Schönheit töten.«

Tweetentwurf No 11:

»Im Griff des Winters sollte man, von der Natur her, Schönheit angetan, das Städtchen Hameln lieber meiden. Was dort für Musik gilt (insbesondere aus Flöten), wird andernorts den Frühling vom Winter grausam scheiden.«

Tweetentwurf No 12:

»Wer noch nie, so wie ich, die Dunkelheit der Hamelner Grotte erlitten, der kennt sie nicht, des Flöters Sitten, kaum dass des Winters Kältesturz die Schönheit bannt, des Lichtes kurz, und entführet uns des Anblicks Reiz — fahr‘ nie nach Hameln, im Oktober, my dear, weil dort, final, verliert die world ihren Reiz.«

(Abb. Emojis »Squared Okay«, »Squared Cool«, »Checked Ballot Box«)

10.5.

Riesengroße Liebe zu Radiohead flammt auf wie neu, beim Hören von Daydreaming. Radiohead: Always ultra — literarisch mein Programm. Ich will irgendwann aber auf jeden Fall noch ein textliches Karma Police schaffen. Das schöne Lied ist auch gerade volljährig geworden. Wie es wohl zustande gekommen sein mag?

Moment, nicht googeln! Wie Friederike ganz richtig feststellte, gibt es für das sich selbst etwas Erzählen nur zwei Methoden: Entweder man schaut sich dabei etwas an oder man macht die Augen dabei zu.

Ich bevorzuge Augen dabei zu. Und also:

Zu der Erzählzeit, 1996, am Ende der Neunzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, bot die Fahrt mit der Eisenbahn von Bangkok nach Chiang Mai noch eine angenehme Reiseerfahrung. Damals wie heute wird das Erlebnis im Wesentlichen von den mitreisenden Passagieren bestimmt, da es vor den Fenstern über sieben Stunden kaum etwas zu sehen gibt. Damals standen den westlichen Industrienationen noch mehrere gravierende Wirtschaftskrisen bevor. Die Stadt, in der Peter Gente starb, ist mittlerweile ein billigeres Florida. Betreute Wohnanlagen für ausländische Senioren werden erbaut. Das medizinische Gewerbe floriert. Besonders die Apotheken, die mit einer großen Auswahl an Präparaten gegen erektile Dysfunktion aufwarten. Massage Parlors florieren auch. Am anderen Ende der Altersskala findet sich die zweite Bevölkerungsgruppe nicht thailändischen Ursprungs. Es handelt sich um eine Variante des Rucksacktouristen, der dort eben nicht mehr in Wäldern hausen, kiffen und bald schon selbst ein Bergvolk gründen will, sondern: saufen. Große Teile des alten Chiang Mais wurden so einer blinkenden Vielfalt gut sortierter Spätkaufs geopfert. Pubcrawling floriert ebenfalls. Insgesamt ist die Fahrgastmischung also keinesfalls mehr geeignet, um sich mit ihnen auf einen siebenstündigen Trip einzulassen. Temps passé.

Auf der Eisenbahnfahrt hatte The Girl With The Hitler Hairdo die Bekanntschaft eines ausgewanderten Schweizers gemacht, der eine bunte Vita vorzuweisen hatte: Nachdem er seine erfolgreiche Werbeagentur in Zürich verkauft hatte, arbeitete er nun als PR-Berater für den Dalai Lama. Da konnte er spezifisches Fachwissen einbringen, denn er war aus früheren Zeiten noch immer sehr gut befreundet mit den bekanntesten Mitgliedern der Rolling Stones. In Chiang Mai hatte er eine Prinzessin der Königsfamilie kennengelernt. Das war während er dort eine Haftstrafe absaß. In einer Phase, als die Schweizer Innenpolitik ein Outsourcing des Haftvollzuges in Billiglohnländer für testreif befunden hatte. Die Prinzessin und er würden bald heiraten. Zu ihrer Mitgift gehörte so ziemlich der ganze Norden des Landes. An den Ufern des größten Süßwassersees, in einer Gegend unberührten Palmfruchtanbaus, plante er unter ausschließlicher Verwendung umweltfreundlicher Materialien ein Resort zu errichten. Und er schrieb Gedichte. Seiner eigenen Beschreibung zufolge im Stile Heiner Müllers, den er mit jenem Erich Frieds fusioniert habe, um eine Verkäuflichkeit zu ermöglichen. Das Ganze als Haiku gefasst:

Die Strompreise steigen
In den asiatischen Städten werden bald die Lichter abgeschaltet
Kein Eis mehr im Sommer

Bedachtsam zog The Girl With the Hitler Hairdo einen Flunsch und bekräftigte seinen Vortrag nickenderweise. Sie überlegte, ob sie dem Schweizer für die zweite Zeile zu »In den Städten der asiatischen Sphäre werden bald die Lichter ausgeschaltet« raten sollte, um mit einer Dosis Gottfried Benn auch die dichterische Qualität zu ermöglichen, behielt das aber für sich.

Und Chiang Mai präsentierte sich dann als zauberhaft. Dass es sich bei asiatischen Straßenbildern um ein Gewimmel handeln sollte, bestätigte sich hier als ein rassistisches Argument. In Wahrheit bestand so ein hiesiges Straßenbild aus einer Ballung widersprüchlicher Motive, wahrgenommen in einem vor Hitze flirrenden Licht. Es war die Zeit der Erdbeerernte, und an den Kreuzungen gab es Stände, an denen die Früchte in Bambuskörbchen verkauft wurden. Der Fahrer war eigentlich Polizist, schob aber zwischen den Einsätzen kleine Touren als Taxifahrer ein. Das Polizeifunkgerät hatte er auf dem Beifahrersitz stehen. Der trug auch seine Uniform.

Im Stadtkern gab es viele Tempel. Und The Girl With the Hitler Hairdo sehnte das Ende des Sitzens herbei. Als sie in einer Nebenstraße ein Hotelgebäude entdeckte, das sie sympathisch fand, lenkte sie den Wagen dorthin. Duat Champa hieß ein schmales, mit seinen Verzierungen viktorianisch anmutendes Holzhaus, dessen Fassade und Innenhof in einem hellen Minzgrün gestrichen waren. Der Empfangstisch aus den fünfziger Jahren stand auf dem polierten Beton eines Außenbereichs, der von einem dort ebenfalls entspringenden Tamarindenbaum überschattet wurde. In einem hübschen Holzregal wurden alte Ausgaben des Time Magazine gestapelt. Auf der Ablage zwei gläserne Vasen mit Kampffischen. Zwischen die Vasen war eine Postkarte gesteckt: damit die sich zwischen den Duellen nicht sahen.

Mariam hatte ihr das Zimmer aus Bangkok telefonisch reserviert. Für wie lange?
Das wollte The Girl with the Hitler Hairdo noch nicht wissen.

Die Tage in Chiang Mai waren vorübergeweht auf eine schön unaufdringliche Weise. Nachts waren vom nördlichen Ufer des Mekongs große Ballons aus hellem Papier in den Himmel gestiegen, wo die Sichel des Shiva Moon auf dem Rücken lag. Je weiter die kleiner werdenden Ballons von den Flammen ihrer Öllämpchen emporgetrieben waren, desto gelblicher und schließlich dunkelorange glosten sie in dem tiefdunklen Blau, als seien sie Glühbirnen in den zwanziger Jahren. Dann standen hundert glühende Planeten am Himmel und das Bild war zu einem Gemälde geworden, zu einem Matte Painting aus Return of the Jedi. Und dortvorüber trieb der Duft von Holzkohlenfeuern im Wind.

Eines Morgens lag in im Aschenbecher eine kleine gelbe Feder. Da beschloß The Girl with the Hitler Hairdo: Heute führe sie nach Pai.
Den Bus besteigend, meinte sie den Sänger von Radiohead erkannt zu haben. Sie traute sich nicht, hinzusehen. Vielleicht hatte sie sich geirrt?

Schlimmer wäre ja: falls nicht!

Der Haarschnitt kam hin, aber so sahen hier einige aus. Thom Yorke hatte diese charakteristische Gesichtslähmung. Die war eher selten. Also doch hinsehen – ! Dann stieg er vom Bus ab und lief auf einen Tempel zu.

Der kannte sich hier aus, denn offenbar hatte er nur eine Abkürzung genommen. Kurz vor Verlassen der Stadt stieg er wieder zu. Dieses Mal setzte er sich direkt neben sie. Als auf offener Straße zwei junge Soldaten mit Schnellfeuergewehren an Bord gelassen wurden, entfuhr The Girl with the Hitler Hairdo ein Flüstern. Es passierte ihr manchmal, unter großer Anspannung, dass ihr eine freche Bemerkung entkam. Wie, um die Anspannung dadurch lösen zu können, sagte The Girl with the Hitler Hairdo: »Die sind von der Karmapolizei.« Und kicherte, was ihr so peinlich war, dass sie rot wurde und ihre Lippen mit einer Handfläche verschlossen hielt. Er behielt die Jungs in seinem charakteristischen Auge, mit jenem Blick also, bei dem sich seine Gegenübers nicht sicher sein konnten, ob er sie ansah oder sonst irgendwas. Antwortete: »Du meinst, sie spielen Good Karma, Bad Karma?«

Da war es um sie geschehen, und sie lachte so laut und heftig auf, dass alle Mitreisenden bald mitlachen wollten, angesichts dieses Riesenmissgeschicks.

»Wohin willst du«, fragte er sie im vom Gelächter gefüllten Businnenraum.

The Girl with the Hitler Hairdo sah ihn an. »Wo wir alle hinwollen: Pai.«

Er nickte und sah dabei auf die Spitzen seiner Espadrilles. »Schon mal dort gewesen?«

»Nein. Ist es gut?«

Er nickte, danach sah er sie an: »Gut ist kein Ausdruck für Pai. Neigst Du zur Seekrankheit?«

The Girl with the Hitler Hairdo sah ihn an mit einem Blick, so als fragte er, ob sie sich jemals die Fingernägel lackiert habe. Das war, als der Bus sich die Berge hinaufzuwinden begann. Zunächst auf relativ gerade geführten Straßen, doch da die Berge des Nordens steil aufragten wie bewaldete Zuckerhüte, nahmen die Kurven, die bald zu Serpentinen wurden, zu. Beim Blick aus dem Fenster in talartige Schluchten, aus denen grüne Ranken wie Feuerstöße züngelten, schien die Gewalt, mit der hier die Plattentektonik zugeschlagen hatte, spürbar für sie, jetzt gerade, in diesem Augenblick, wie der imaginäre Zusammenprall mit einem heranrasenden Wagen, den The Girl with the Hitler Hairdo noch an jedem Zebrastreifen als bevorstehend befürchtete, ganz kurz nur – dabei war in solchen Momenten dort nie ein Auto zu sehen.

So gut das war, unfassbar eigentlich, neben Thom Yorke im Bus zu dem Ort, an dem selbst der Staub langsamer zu Boden sank, unterwegs zu sein, so anstrengend war diese Situation auch für The Girl with the Hitler Hairdo. Kniffligerweise hätte sie noch viel lieber Musik gehört zu den grandiosen Bildern, die sich vor den Busfenstern abwechselten. Aber sie konnte ja schlecht, das ginge doch gar nicht, vor ihm den Discman auspacken und die Kopfhörer. Oder sah sie da bereits ein Zuviel an Verbindlichkeit ihm gegenüber? Zudem käme die Geste pietätlos. Würde sie es denn nicht stören, wenn er nun in What Is it Like to Be a Bat? zu lesen begänne? Komischerweise nicht. Also fragte sie ihn, ob es ihn störte. Wie ein Raucher das getan hätte. Sie glaubte, er habe dabei woanders hingesehen. Sie erwachte mit dem Gesicht zur Hälfte in seiner Armbeuge. Die Kopfhörer hatte sie immer noch auf. Da lief Cowgirl in the Sand. Sie tat so, als schliefe sie und hörte Musik. In der Dunkelheit kamen sie an.

Das dunkle Holz der Häuser war gelblich beleuchtet von Hunderten von Laternen, dazwischen auch grünliche Gasbrenner, von Insekten umschwärmt. Da sie ihre Zimmer in benachbarten Pensionen gebucht hatten, verabredeten sie sich für den späteren Abend zum Essen. Gleich hinter der nächsten Kreuzung war dort nach Einbruch der Dunkelheit ein Markt aufgebaut, auf dem ausschließlich mit Essbarem gehandelt wurde. Als Rohware, aber vor allem in zubereitetem Zustand. Eine Spezialität bestand in grotesk überdimensionierten Fröschen, nach denen eine extreme Nachfrage zu bestehen schien, da die lebenden Tiere zu Hunderten in Maurerkübeln gehalten wurden. Auf Zweigen hielt ein Jäger eine Beute aus zwei Eichhörnchen und einem Flughund feil. Thomas lebte vegan. The Girl with the Hitler Hairdo ganz plötzlich auch.

Beim Essen sagte er ihr, wie sehr er es zu schätzen wisse, dass sie ihn bislang noch nicht darauf angesprochen hatte, dass – und hier schien er zu überlegen, nicht abzuwägen, sondern wirklich nicht darauf zu kommen, wie es sich auf unaufdringliche Weise ausdrücken ließe, wer er sonst noch war.

The Girl with the Hitler Hairdo sagte dazu nichts.

»Aber du weißt, was ich meine?«

»Ich ahne es«, sagte The Girl with the Hitler Hairdo nach einer Pause. »Aber nur zu einem Teil.«

In den nächsten Tagen gab sie sich nicht direkt Mühe, aber wundern tat es sie schon, dass er so mir nichts, dir nichts verschwunden war (das mit dem »aus dem Staub gemacht« musste sie sich untersagen, obwohl sie es zum Schreien lustig fand.) Immerhin war ihr zugetragen worden, dass er das Zimmer hielt. Konkret, als sie sich danach am Tresen seiner Pension erkundigt hatte. Aber wo der hier steckte? Groß war Pai zwar nicht, dafür weitläufig. Stellenweise direkt unübersichtlich. Einige Male glaubte sie lediglich, ihn gesehen zu haben. Sie unternahm ein paar Touren, auf manchen der Wege waren nicht einmal mehr Fahrräder erlaubt. Seltsam, dass es hier in den Bergen, so nahe bei Laos, keinerlei Minengefahr geben sollte. Ein paar Kilometer weiter war das Unterholz gespickt voll. Wie konnte das abgelaufen sein? Die hatten nach Karten navigiert. Als sie an einem kleinen See Rast machte, begann es in einem Gebüsch hinter ihr zu rascheln. Als sie sich bewegte, wurde das Rascheln hektischer. An der Fläche des Geräusches, anders ließ sich das nicht beschreiben, konnte The Girl with the Hitler Hairdo erkennen, dass es sich um ein Tier handeln musste. Was mit dem Raschelgeräusch zu tun hatte, das war zu sprunghaft, hektisch ausgelöst worden, dann wieder streichend: So bewegte sich ein Tier - allerdings eines, das in etwa so groß war wie sie selbst. Dass es ein Mensch war, der sich in dem Gebüsch versteckte, konnte sie ausschließen.

Aber wie ihr das Herz klopfte: Irrsinn!

Sie tastete nach ihrem Aschenbecher, umfasste ihn als Keil. Die Geräusche waren verstummt. Da es hellichter Mittag war, traute das Tier sich vermutlich nicht, seinen Schattenplatz hinter dem Camouflage der vielen Blätter zu verlassen. The Girl with the Hitler Hairdo ging zu ihrer aufgebohrten Motocross-Maschine, ohne das Gebüsch aus dem Blick zu lassen. Dann war sie weg. Als sie nach Pai zurückkehrte, war dort blaue Stunde, noch sehr heiß, aber das Licht warf lange Schatten und die Straßen schimmerten gelb. Sie stellte das Motorrad vor ihrem Lieblingscafé ab und bestellte sich Bier. Da stand er plötzlich vor ihr und entschuldigte sich, indem er zugab, komplett abgetaucht gewesen zu sein. Ob er – ? Sie freute sich. Sehr.

Ihrer Erzählung aus den Wäldern hörte er aufmerksam zu. Ihm selbst war kaum etwas zu entlocken. »Hauptsächlich geschrieben«, war das Konkrete, das sie herauszupräparieren schaffte. Doch sie aßen und tranken, und es wurde ein großer Spaß.

Hoffentlich fragt der mich nie, was ich so mache, dachte The Girl with the Hitler Hairdo. Und das tat er auch nicht. Er ließ sich eine Gitarre geben und darauf spielte er ihr das neue Lied vor, das er in ihrer Abwesenheit komponiert hatte. Dessen erste Akkorde fielen so langsam wie draußen vor den Laternen der Staub. Und es hatte einen wundersam wunderschönen Text.

Wunderschön, flüsterte The Girl with the Hitler Hairdo. Er wollte es Karma Police nennen. Das fand The Girl with the Hitler Hairdo gut! Ob er sich eine Begleitung durch ein Melotron vorstellte – oder halt, halt, viel besser: Theremin? Und machte, als sie spüren konnte, dass seine Aufmerksamkeit nun komplett ihr gehörte, ein paar Angaben zu einem speziellen Gitarrensound, der ihr dabei vorgeschwebte. Die waren präzise. Wortlos überreichte er ihr das Instrument. The Girl with the Hitler Hairdo stimmte die Saiten um jeweils eine halbe Oktave nach unten, sodass sie auf den abgegriffenen Bundstäbchen zu schnarren begannen. Keine schönen Töne für sich genommen, jedoch in Arpeggien der Akkorde, die The Girl with the Hitler Hairdo in einem portugiesischen Stil zu zupfen begonnen hatte, klang das ergreifend. Vor allem als sie mit geschlossenen Lidern ganz leise den Text zu singen begann. Die Melodie hatte sie aus einem Summen entwickelt. Nach dem ersten Vers veränderte sie die Grifftechnik auf der Gitarre und nun wurden die perkussiven Töne noch von Klängen untermalt, die wie gezupfte Celli wirkten. Er stimmte die Überleitung an, worauf The Girl with the Hitler Hairdo sich auf die Erzeugung rhythmischer Effekte konzentrierte. Als sie geendet hatten, waren sie von applaudierenden Personen umringt.

(Abb. T Shirt mit Aufdruck: »It’s the Singha Not the Song«)

Schneller als der Staub von den Bürgersteigen Singapurs gewischt wurde, standen zwei Flaschen Bier auf dem Tisch.

Als die Sonne aufging, erwachten sie beide in The Girl with the Hitler Hairdos Bett. Sie dachte nicht etwa »Girl, you go places«! Für sie war Thomas eine ihr liebe Person, deren musische Begabung sie über alle Maßen zu genießen wusste. Den wollte sie nicht am ausgestreckten Arm verhungern lassen – im Gegenteil! Sie wollte ihm erklären, was sie fühlte. Er wollte erzählen, und so führten sie fortan ein Gespräch, das bis in die Nacht langte. Und am nächsten Morgen weiter ging. The Girl with the Hitler Hairdo war noch nie verliebt gewesen. Aber das musste es jetzt wohl sein. Sie hielten sich an den Händen, wenn sie durch die Straßen gingen. An einem Tempel kaufte er einen kleinen Vogel, der in einem Ball aus Bambusstreifen eingeflochten war. Den ließen sie frei. Das wurde merit-making genannt. Eine gute Tat also, um die nicht so guten wettzumachen. Das funktionierte! The Girl with the Hitler Hairdo fühlte nichts, aber auch gar kein Stückchen Schlechtes mehr in sich. Den Bambusball gaben sie dem Händler zurück.

Bis jetzt hatten sie sich noch nie gefragt, was sie als nächstes unternehmen sollten. Was The Girl with the Hitler Hairdo schön fand, bis dahin aber noch nicht erlebt hatte. Das Ziellose daran hatte sie gut gefunden. So, als wäre er nur dann da, wenn sie es wollte. Immer wieder wurde sie von einer Angst befallen, sich in dem Glück aufzulösen. Ihm erschien es dann meistens so, als habe sie kurzzeitig an etwas anderes gedacht. Aber in einer Nacht erwachte The Girl with the Hitler Hairdo aus einem furchtbaren Albtraum mit namenlosem Geschehen. Und da war diese Angst, sie ließ sich nicht rationalisieren. Dazu wurde sie von einem weiteren Gefühl geplagt: Seine Nähe bekomme ihr nicht. Es war zu viel. Zu viel des Glücks, das unvermittelt auf sie einströmte. The Girl with the Hitler Hairdo konnte den Gedanken nicht ertragen, dass alles vorbestimmt sein konnte. In dem Falle würde ihr sämtlicher Handlungsspielraum genommen, beziehungsweise auf Täuschungsmanöver hin reduziert. Gemeinsam Musik zu hören war eine schöne Möglichkeit, sich nahe zu sein. Fand The Girl with the Hitler Hairdo. Ging ihm auch so, bloß reichte ihm das nicht. The Girl with the Hitler Hairdo fand seinen Körper, fand den ganzen Mann schön, der zudem zärtlich war.

Beim ersten Café des nächsten Morgens überraschte er sie mit einem Ticket nach Luang Prabang. Er rate ihr, dorthin alleine zu reisen. Diese Erfahrung machte man am schönsten auf sich selbst gestellt. The Girl with the Hitler Hairdo weinte. Weil es sie berührte, dass der sie verstand. Er hatte auch ein Rückflugticket parat, gestand er ihr abends beim Wein – falls sie es haben wollte? Sie schüttelte den Kopf, auf ihre ganz eigene Weise. Dabei lag das Schütteln einzig in ihrem Blick, der davon dunkel wurde. Ins Dunkel flüsterte sie Reklame von Ingeborg Bachmann. Und übersetzte ihm die Zeilen, die er nicht verstand. Während der Nacht spielte sie ihm Sehnsucht vor von Purple Schulz, das hatte es lange vor Unfinished Sympathy gegeben, und Junimond von Ton Steine Scherben; da auch das Solo, das unverzichtbar war, sie löste es in einem Akkord aus Flageolets. Beiden war ihnen dieser irritierende Moment der Musikgeschichte eingefallen, als Elton John 1976 sein Sorry Seems to be the Hardest Word vorstellte und dabei mitsamt eines im Glencheck karierten Jackets, vor allem aber in Frisur und Wahl seiner Brille, plötzlich Niklas Luhmann glich. Und Thomas hatte hoch und heilig geloben wollen, sich fortan eingehend mit deutschem Songwriting zu beschäftigen.

Die ganze Piste des Militärflughafens war er entlang gerannt. Als sie abgehoben war, fing er zu winken an. Sie weinte die Flugzeit über. Nach einer dreiviertel Stunde landete sie in Luang Prabang. Der Zutritt zum Land wurde The Girl with the Hitler Hairdo gegen eine Spende von fünfzig Dollar gewährt. Der Stempel war riesig und fein ziseliert. Das Ticketgeschenk enthielt eine Anzahl von Nächten in einer Pension, zu der sie sich in einem Tuktuk fahren ließ. Das Gebäude war aus Holzstämmen im Stile eines spätkanadischen Blockhauses gemacht. Das Zimmer hatte einen weiten Balkon mit Ausblicken auf das Ufer des Mekong, der um diese Stunde am späten Nachmittag olivgrün wurde, sich auf den Ton ihrer Augenfarbe einließ - weil sie so viel hineinschaute, in den träge sich wälzenden Fluß?

Warum war er nicht hier?

In einem Gemischtwarenladen, der auch als Schnellimbiß mit Kaffeeterrasse fungierte, kaufte sie sich eine Kinderflöte, auf der sie, zurück auf ihrem Balkon, die Melodie spielte zu dem Lied, das vielleicht Karma Police heißen würde, vielleicht aber auch so wie sie.

Als Fackeln entzündet wurden und die Laternen zum Fauchen gebracht wurden, zog sie sich um und ging auf dem Uferweg auf und ab. Bei der Sammelstelle der Tuktuk-Fahrer lief ein Kartenspiel. Die Typen sahen verwegen aus. Dem einen, ihm fehlte das Auge entweder oder es war in seinem Gesicht ganz woanders zu finden, gefiel es, sie zu provozieren. Er zeigte ihr einen Glasballon, der bei näherem Hinsehen bis oben hin gefüllt war mit toten Schlangen, Skorpionen, Vogelspinnen und ähnlichem Viechzeugs. Die lagen im Schnaps ein. Sie wurde auf ein Glas herausgefordert. Schnaps vertrug sie doch nicht – schmeckte widerwärtig.

Erwartungsgemäß…

»Ja, aber doch nicht so!«

Die Männer freute es. Was genau, das ließ sich nicht erkennen. Alles vermutlich. Und überhaupt.

Von der magischen Wirkung, die ihr versprochen worden war, konnte The Girl with the Hitler Hairdo nichts feststellen. In einem Imbiß am Ufer bestellte sie sich frittierten Süßwassertang, der hier an den Ufern geerntet wurde. Mit getrockneten Tomaten und Chili bestreut, schmeckte das gut. Sagte Thomas. Und sie war doch jetzt ebenfalls zum Veganer geworden. Dann kam das Zeug: zur Lotusblüte auf einem Teller arrangiert. Schmeckte ging so. Danach Klebreis mit Mango – das ging sogar gut!

Wenn mich hier einer anspricht, vergesse ich absichtlich, dass er mich meint.

Altertümlich anmutige Fischerboote landeten in der Dunkelheit an. Auf den Planken der Rümpfe waren Hütten mit spitz zulaufenden Dächern errichtet. Die Kinder befüllten aus Konservenblech geformte Gießkannen und bewässerten die aus Steilhangbeeten strebenden Gemüsepflanzen. Ein elastisch verbundener Schwarm von Fledermäusen zog über The Girl with the Hitler Hairdo hinweg. Seltsam, dass man die zu Flattern hören glaubt, geben sie doch keinerlei für uns hörbares Geräusch dabei ab.

Am nächsten Tag sah sich The Girl with the Hitler Hairdo bei einem Verhandlungsgespräch mit einem Straßenverkäufer plötzlich die Seiten wechseln: Was würde sie sagen, um ihm etwas verkaufen zu können. Das war eine verwirrende Vorstellung, sie zahlte einfach den geforderten Preis. Die Halskette legte sie sich sofort um – ein dünnes korallrotes Band, das von einem schmalen Pendel aus Silber beschwert wurde, sodass es ihr zwischen den Brüsten gerade nach unten hing. Auf dem Pendel stand eingraviert LOVED. So ging sie den stufigen Pfad zu dem alten Holztempel hinauf, dessen Mönche vor Sonnenaufgang mit sieben Schlägen einer Holztrommel geweckt wurden. Somit auch The Girl with the Hitler Hairdo, das war um vier in der Früh gewesen. Im Dunkeln liegend, hatte sie sich vorgestellt, was die dann machten – singen, stundenlang. In Sanskrit. Davon hörte man aber nichts.

Auf halber Strecke kaufte sie einen Vogel im Bambuskäfig. Oben angekommen, gab sie dem Vogel aus dem Aschenbecher Evian zu trinken und heftete ihren Blick auf das Panorama des Dorfes in der Mekongschlinge, mit der eisernen Brückenkonstruktion, die aussah, als ob sie von Dreharbeiten übrig geblieben war. Und auf der kreuzten zig Mopedfahrer, die Männer mit aufgerollten Ärmeln, alle im Hemd. Dahinter: Berge, Wald. Der Vogel flog nicht, er stürzte davon. Und The Girl with the Hitler Hairdo fand es nicht die Bohne pathetisch, als sie dabei dachte: für ihn. Also Thom.

9.5.

Vor ein paar Wochen war in der Frankfurter Allgemeinen ein Text über die erste Liebe von Rolf Dieter Brinkmann, wusste ich alles gar nicht. War aber wohl bekannt. Mir war immer wieder mal geraten worden, seine Texte zu lesen, aber ich fand daran einfach nichts interessant. Ein Gedicht hatte einen ansprechenden Titel, Mein Fucking Herz, aber dann gleich darunter ging es weiter wie in den Dialogen für einen Baader-Meinhof-Film. Aber diese Geschichte mit den Briefen an die Internatsschülerin, von denen er Kopien anfertigte, bevor er sie überbringen ließ; dass er auf keinen einzigen davon je Antwort erhalten haben soll, und, nach der Vernichtung der Originale durch eine Aufseherin des Mädchenschlafsaales, der Schülerin eine gebundene Fassung der gesammelten Abschriften nach Hause schickte, wo sein Werk der unerhörten Liebe in Kopie nur knapp einer Vernichtung durch die Mutter der mittlerweile Suspendierten entging, er vor allem, so wohl der Stand der Literaturwissenschaft, nie auch nur einen Brief oder eine Karte oder mit einem Telefonat von diesem von ihm in Gedichten umworbenen Mädchen eine Antwort bekam: megainteressant!

8.5.

Zum ersten Mal in diesem Jahr im See geschwommen. Zum ersten Mal in meinem Leben in diesem See. Wäre ich von alleine nicht drauf gekommen, aber wo er jetzt immer da ist? Das Wasser war noch extrem kalt, wie ein Gelee fühlte sich das an und es stimmt halt leider überhaupt nicht, dass es einem mit dem Schwimmen nach einiger Zeit wärmer wird oder dass ich die Eisigkeit nicht mehr spüren würde. Schrecklich war es, schrecklich blieb es. Aber vom Wasser aus betrachtet, sahen die Schwäne auf eine tolle Art größer und schöner aus. Die schauten auch interessiert und bogen heran. Klar, die kennen mich ja, aber so hatten sie mich noch nie gesehen (ich sie ja auch nicht).

Extreme Mengen einer Wassermelone gegessen, bestimmt drei Kilo, und im Arabischen bedeutet Melone »Trinke das Licht«. Die an der Schale haftenden Reste des Fruchtfleisches an die Duckente verfüttert, die schon wieder auf ihrem Nest unter mir saß. Wahrscheinlich sind die übrigen sieben Küken eben doch von irgendeinem Tier geholt worden. Deshalb beschützen sie das ihnen einzig verbliebene Küken jetzt auch so aggressiv. Und legen, bevor der Sommer kommt, noch rasch einen weiteren Satz Eier.

Die Nachbarn, schließlich war Samstag und aus dem muss man etwas machen, hatten einen Tipp-Kick-Tisch auf die Terrasse gehoben und an dem spielten dann mit leisem Geklacker die männlichen Gäste, während sich eine Frau in blauem Sommerkleid auf die antike Balustrade an der Grundstücksgrenze setzte, um dort im Kreise ihrer Freundinnen auf einer Gitarre zu musizieren. Ja, Wahnsinn, so etwas gibt es halt auch.

Schwer, aber nicht zu schwer, solch einen Tag noch zu einem geglückten Abschluss zu bringen; den Tag zu landen, wie George Condo das vom inneren Erlebnis seiner Malerei sagt »I’ve got to land the painting«. Ich griff zum kleinen roten Buch, das in diesem Frühling ja tatsächlich volljährig geworden ist, 1. Auflage 1998 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998. Ich kenne die Regel, die nur mich selbst betrifft, aber sie bringt mir nichts, denn immer dann, wenn ich behaupte, dass ich ein Buch auswendig kenne, kenne ich es halt überhaupt nicht auswendig, sondern habe lediglich das Gefühl, dass es sich so verhält mit mir und einem dieser Bücher, von denen ich behaupte, dass ich sie auswendig kenne. Von daher handelt es sich streng genommen um gar keine Regel, sondern um den Versuch einer Beschreibung, weshalb es mir – nach all den Jahren – noch immer gelingt, mich selbst zu kitzeln. Und so lag ich lesend im Bett, während mir die untergehende Sonne durchs offene Buch ins Gesicht schien und las Rave jetzt als ein Buch der Liebe. Hatte ich total vergessen, dass es vor allem um Liebe geht. Dabei wollte ich darin ursprünglich etwas spezifisch anderes finden. So war es aber nicht nur auch okay, sondern noch viel besser als gedacht. Tag gelandet. Maschine schläft.

1998 fiel der 8. Mai auf einen Freitag.

7.5.

Geträumt, dass es in ganz Deutschland nur noch zwei Freibäder gibt: Freibad Nord und Freibad Süd, diese dafür aber derart riesig, dass jeder in der Nachbarschaft von einem der beiden wohnt. Es war einer jener Albträume, aus denen es kein Entrinnen gibt, weil ich den Gegenstand nie zu sehen bekomme (die Konfrontation führte zum Erwachen). Weil mir die Freibäder nicht gezeigt werden, sondern ich von ihrer Existenz erfahre; man erzählt sich davon, ich ahne, dass der Schrecken wirklich ist. Wie in dieser Szene in Mulholland Drive, wenn der Ängstliche mit seinem Therapeuten frühstückt und der erzählt ihm von seinem Traum, der so unsagbar schrecklich gewesen sein soll. Und während er erzählt, schleicht vor der Tür die Kamera genau diese Gasse zu einem Hinterhof entlang, von dem in der Patientenerzählung die Rede ist. Als sowohl Erzählung wie auch Kamera vor einer Mauer angelangt sind, will man als Zuschauer auf gar keinen Fall um diese Ecke herumschauen. Dennoch geschieht genau dies. Der Bildschock überlagert blitzhaft die Erzählung, man muss dann ein paar Mal zurückspulen, um die Worte genau mitzubekommen, aber das Schreckliche bleibt tatsächlich unsagbar.

6.5.

Von den sieben Küken des Blässhühnerpaares ist nur noch eines übrig. Das Nest ist leer, auch das letzte Ei, das dort immer noch lag, ist fort. Das Küken schwimmt in einem dunklen Winkel unter dem Steg. Der Kopf sieht aus wie eine Rambutan, auf der die rote Maske eines Pestarztes sitzt. Die Mutter kreuzt im schwarzen Wasser vor dem Nest und stößt Warnschreie aus.

Wo sind die anderen sechs? Holt der Kormoran, dessen eleganten Gleitflug dicht über der Wasseroberfläche ich am Morgen bewundert hatte, auch kleine Vögel? Machen das die Krähen? Gibt es schwimmende Raubtiere am Ufer? Oder ist das eine hier etwa das achte Küken aus jenem Ei, das nach dem Schlüpfen der übrigen wie aufgegeben im Nest lag und von dem ich dachte, die Eltern würden es irgendwann aufpicken und den Inhalt unter sich aufteilen. Bei sieben Küken kommen sie ja wohl kaum dazu, für sich selbst etwas zu essen zu suchen. Ich hatte seit dem Schlüpfen eine Woche lang nicht nach ihnen gesehen, um sie nicht unnötig aufzuschrecken. Es hat demnach wohl gerade ein paar Tage mehr als eine Woche gedauert, bis die anderen das Nest verlassen konnten, um sich eigene Plätze am Ufer zu suchen. Im nächsten Jahr auch schon mit eigenem Nest.

In ein paar Tagen ist dann auch der Nachzügler so weit. Sein Reifegrad ist wahrscheinlich daran zu erkennen, dass der Schnabel sich von der Spitze her mit jedem Tag ein Stück weiter weiß einfärbt. Vermutlich ist das ein Nebeneffekt des Aushärtungsprozesses im Schnabelmaterial. Der Schnabel der Elterntiere ist ja ganz weiß und geht farblich nahtlos in die weiße Maske über. Dieser obere Part war bei dem Küken gestern, dem achten, noch rot.

5.5.

In einem späten Gedicht mit dem Titel Das Tagebuch beschreibt Johann Wolfgang von Goethe die erotische Begegnung mit einer Zufallsbekanntschaft. Zeitlebens hat er sich gegen eine Veröffentlichung ausgesprochen, in den ersten Gesamtausgaben des 19. Jahrhunderts war Das Tagebuch darum auch nicht enthalten. Der Meister selbst hingegen hat es in seinem Kreis dennoch wiederholt vorgetragen, es seiner Zuhörerschaft geradezu ans Herz gelegt, so als wollte er damit auf mündliche Überlieferung bauen, wozu das Dichten ja im Grunde erfunden ward. Das obskure Gedicht bekommt damit eine vergleichbare Funktion wie jener nicht erhaltene Artikel aus einer italienischen Tageszeitung aus dem Jahr 1928, den Virginia Woolf in ihrem Kreis immer wieder herumgezeigt haben soll in jenem Jahr, da ihr Roman Orlando erscheinen würde.

Goethes Tagebuch wurde erst Jahrzehnte nach seinem Tod als Privatdruck aufgelegt, angeblich wurden die wenigen Exemplare wiederholt beschlagnahmt. In späteren Druckfassungen wurden insbesondere die beiden Zeilen, in denen von Jesus Christus und Gott die Rede ist, unlesbar gemacht werden. In den Werkausgaben des späten 20. Jahrhunderts ist Das Tagebuch selbstverständlich enthalten, seit Siegfried Unseld es in einem Jubiläumsband des Insel Verlages der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. Zusammen mit den Phallischen Hymnen Rainer Maria Rilkes übrigens, der selbst ein Bewunderer des Tagebuchs gewesen sein soll.

Die Forschung hatte sich bald darauf geeinigt, dass im Tagebuch ein Erlebnis männlicher Impotenz geschildert wird. Diese Auslegung ist im Kontext des Wissensstandes über Sexualitäten und Geschlechteridentitäten am Ende des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Kurz gefasst erzählt die Handlung des Gedichtes von einem erzwungenen Aufenthalt des lyrischen Ichs in einem Landgasthof. Eine Wagenpanne verhindert die Weiterfahrt nach Hause, wo die Verlobte ihn erwartet. Ein Zimmermädchen tritt auf und wird als faszinierend beschrieben. Ein Versuch, sich mit dem Schreiben des Tagebuchs abzulenken, missrät. Als das Zimmermädchen erneut die Szene betritt, bedrängt das lyrische Ich diese namenlos bleibende Person, bläst die Kerze aus und sie gibt sich ihm in der Dunkelheit hin. Daraufhin wird es schleierhaft. Die Forschung hat sich vor allem auch darauf konzentriert, mit welchen Worten Johann Wolfgang von Goethe das Geschlechtsteil des lyrischen Ichs benennt: als »Meister Iste«, als »braver Knecht«, »verfluchter Knecht«. Bei Tagesanbruch verschwindet das Zimmermädchen, das lyrische Ich erkennt, dass er nur noch einen Wunsch kennt: heim zur Verlobten, um diese zu heiraten.

In Reading from Behind, den Titel des in diesem Jahr erschienen Buches von Jonathan A. Allen würde ich mit Andersrum Lesen übersetzen, liefert der kanadische Literaturwissenschaftler »A Cultural Analysis of the Anus«. Das bereits mehrfach für seinen Titel und seine Umschlaggestaltung ausgezeichnete Buch ist extrem unterhaltsam, vor allem kann es gerade hinsichtlich eines obskuren Werkes wie dem Tagebuch von Johann Wolfgang von Goethe erhellendes Werkzeug zur Verfügung stellen. Der Text Jonathan A. Allens ist aus einem Artikel für eine Fachzeitschrift der Queer Studies gewachsen, in dem er ebenfalls eine Gedichtanalyse vorgenommen hatte. Da ging es um El Intruso von Delmira Augustini. Hier wird ebenfalls eine Liebesnacht in Versen geschildert, ebenfalls bleibt das lyrische Ich namenlos, sein Partner oder seine Partnerin auch, und Jonathan A. Allen konzentriert sich in seiner Analyse vor allem auf die Zeilen, die ich mit

»Gestern Nacht

Als du mit deinem goldenen Schlüssel

mein Schloss zum Singen gebracht«

übersetze. Jonathan A. allen weist nun darauf hin, dass hier allein aufgrund des Umstandes, dass ein Schlüssel in ein Schloß gesteckt wird, eine phallozentrische Sexualbeziehung konstituiert werden könnte. Und bis ins späte 20. Jahrhundert auch wurde. Zudem singt das Schloß, beziehungsweise wird es zum Singen gebracht. Irgendwie scheint es logisch, davon auszugehen, dass hier das lyrische Ich weiblicher Natur ist, der Schlüssel hingegen und so weiter und so fort. Andersrum gelesen weist aber die Goldenheit des Schlüssels auch auf ein Artefakt hin. Und der Schlüssel zu einem neuen Verständnis der Kulturgeschichte besteht für Jonathan A. Allen im menschlichen Anus, einer Körperöffnung, mit der Frauen wie Männer gleichermaßen ausgestattet sind und die, im Gegensatz zur Mundöffnung, lustempfindlich ist. Mit seinem Plädoyer für den Anus als legitime errogene Zone steht Jonathan A. Allen nicht alleine da. Paul Perciado beschreibt in Testo Junkie seine Liebesbeziehung zu Valérie Despentes als eine ausschließlich aktiv anal penetrierende, aus eben jenem Grund, das heteronormative Zeichensystem der Pornografie umzuschreiben. Stellt man sich in diesem Sinne das lyrische Ich aus dem von Jonathan A. Allen zitierten Gedicht als ein männliches vor, den Schlüssel als goldenen Dildo, seinen Träger als eine weibliche Person, ändert das nichts an der Romantik des Gedichtes. Das Schloß wird so ´rum oder andersrum zum Singen gebracht.

Reading Goethe from Behind, verschwindet das Zimmermädchen, es gab es noch nie. Interessant wird vielmehr die Wahl des Hotels, in der unser lyrisches Ich seine Nacht zu verbringen gedenkt: »So stand ich nun. Der Stern des nächsten Schildes/Berief mich hin, die Wohnung schien erträglich.« Dieser »Stern« könnte als Sinnbild, als ein Anus gelesen werden (das preisgekrönte Umschlagsdesign von Reading from Behind zeigt eben genau dieses: einen »Stern«, der im Kontext mit Titel und Unterzeile als Strichzeichnung eines Anus gelesen wird.)

Tritt dann das Zimmermädchen auf, so fungiert es als heteronormative Figuration der Lust, mit der sich das lyrische Ich konfrontiert sieht. Dann schreibt es das Tagebuch (gesteht sich sein Verlangen ein – Thomas Mann war übrigens ein großer Fan dieses Gedichtes von Goethe), und bläst die Kerze aus. Was es damit macht, bleibt im Dunkeln. Die männliche Forschung hat sich nun ausschließlich auf den braven, bald verfluchten Knecht, den Meister Iste konzentriert. Man fragte sich: Konnte Goethe damals etwa nicht? Dabei weist die verklausulierte Namensgebung eindeutig auf ein Artefakt hin: Meister Das da spricht doch ganz unmissverständlich von einem Gegenstand ex corporale. Zumal er sich, nach der inkriminierten Christus-Halluzination, »von reifer Saat umwogt, vom Rohre fest umschlossen« fühlt. Goethe nahm bei anderen Gelegenheiten, man denke an den Götz von Berlichingen, kein sogenanntes Blatt vor den Mund und war sehr wohl in der Lage, die Dinge beim Namen zu nennen (»Im Arsche lecken«).

Das Schleierige der Sprache im Ausdruck und der Verzicht auf eine Publikation, wo ansonsten alles raus musste, hängen wohl mit dem Goetheschen Gefühl der Unbegreiflichkeit zusammen, seine Anal Lust betreffend. Denn auch davon handelt »Reading from Behind« von Jonathan A. Allen, das macht dieses Buch auch jenseits der Literaturwissenschaft interessant und ich wünsche ihm vor allem viele heteronormativ geprägte Pornogucker als Leser (gleich ob weiblicher oder männlicher Natur): anales Begehren hat nicht automatisch etwas mit Schwulsein oder »davon Schwulwerden« zu tun. Ob Johann Wolfgang von Goethe schwul war oder einfach bloß seiner Zeit voraus wie Virginia Woolf, ist doch scheißegal.

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