»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

6.2.2019

Mit den Clowns kommen die Tränen und mit dem Umzug die Schlafschwierigkeiten, was gar nicht mal an der neuen Umgebung liegen wird, sondern an der inneren Umwälzung. So vermisste ich nach der Abreise Friederikens meinen Hasen.

Proxy, ich besaß ihn seit dem Sommer 2011, war, ursprünglich, wie ich sagen muß, aus pinkfarbenem Frottee genäht, dazu passend: mit Ohren aus gelbem Frottee. Diese Ohren aber waren durch heftiges Hineinbeissen und dann daran ziehen, durch veritable Zerrbisse also von Friederike über die Zeit zunächst zerfleddert, schließlich sogar, dies geschah in der Vorweihnachtszeit: abgerissen worden. Da man ein Stofftier ja schlecht ausgerechnet am Heiligabend in die Mülltonne aussetzen will, hatten wir beschlossen, den ohrenlosen Hasen in einen Igel umzumünzen. Als seidiger Igel (das Frottee war über die Jahre durch meinen intensiven Gebrauch bar jeder Schlingen, so auch beinahe seidig geworden vom Griff her,) durfte und sollte Proxy noch einmal (ich wußte da schon, es würde sein letztes Mal) unsere Krippe schmücken. An der Seite des sogenannten Proxof Paprikov, der, von seiner äußeren Erscheinung her, ebenfalls Hase war, allerdings weitaus weniger ansehlich (wie ich fand, als wir ihn in Velingrad aus seinem Glaskastenverließ vermittels eines silbrigen Greifarms befreien konnten, was uns alles in allem gerade einmal eine bulgarische Münze gekostet haben sollte.) Dann aber, mitsamt dem Weihnachtsbaume, verließ auch Proxy, einst Hase, nun vermittels Abbeißen der Ohrklappen zum seidig schäumenden Igel degradiert, unseren Besitz. 

In stillen Nächten habe ich ihm meinen ausgestreckten Zeigefinger zwischen die Pfoten geschoben. Mein erster Stoffhase hieß Werner und hielt an dieser Stelle eine aus Frottee genähte Möhre, die sich herausnehmen ließ.

Das Innenleben dieser Stofftiere ist ja enttäuschend für ein Kind. Ich dachte lange Zeit, Werner wäre von innen genauso wie ich. Bloß halt stiller. Aber wie es mir kürzlich erst der Verkäufer in der Bettenabteilung aufklärerisch vor Augen führte, als ich ihn nach der Füllung einer mir als angenehm preiswert erscheinenden Bettdecke befragte: »Da ist Bastelwatte drin. Die können sie nicht einmal waschen, sonst ist das Müll.«

Aber man braucht eine Form.

5.2.2019

Casa incognita—Eine neue Wohnung studiert man wie ein entführtes Tier: man versteht weder tierisch, noch spricht man wohnisch; man äugt und lauscht. Immer öffne ich, aus einer veralteten Gewohnheit, die falschen Türen und Schubladen im Küchenkabinett.

Noch am Mittag saßen wir auf der Straße vor Butter Lindner und ließen uns die Sonne in die Gesichter scheinen. Milde wärmend. Zumindest hell. Spazierten ans Ufer und fütterten die Enten im Schein der abscheidenden Wintersonne mit Brot.

Inzwischen hatte die heimische Heizung anscheinend ihren Dienst aufgegeben. Auch das Wasser kam aus der Leitung in Quellwasserkälte. gebirgsbachhaft klar. Ich griff zum Hörer und wählte die Nummer der Firma, die ihren Inspektionsaufkleber an der Therme angebracht hatte. Wer hat die Warteschleife erfunden? Frauen wie Männer werden von ihr geschunden. Nach einigen Durchläufen von Swingin’ Safari hatte ich endlich Hans Duschke am Rohr. Ein Bariton, beruhigendes Grundrauschen: Tja, da hat er heute leider keine Möglichkeit mehr. Am nächsten Tag gegen 17 Uhr gäbe es einen Termin. Ich verlieh meiner Hoffnung flehentlichsten Ausdruck, bis dahin nicht erfroren sein zu wollen. Duschke, heiter: »Na, wir haben doch nicht einmal Minustemperaturen!«

Später am Abend, wir flambierten gerade etwas Brot, rief Duschke noch einmal an: Es hätte sich da jetzt doch noch eine Möglichkeit für morgens um sieben ergeben. Im Schlaf friert man ja merkwürdigerweise weniger—Martin Margiela hat einmal einen Mantel aus einer Daunendecke gemacht dergestalt, dass er in die zwei Löcher eingepasst hatte, durch die man seine Arme stecken konnte, um dann von der Decke umflauscht durch das winterliche Paris zu ziehen.

Duschkes Mitarbeiter dann, anerkennend »Oh, sie haben es aber frisch hier drin.« (Er kam von draußen.) Das kennt man ja von Ärzten, wenn die durch die Zähne zwitschend feststellen, dass es sich um eine prachtvolle Entzündung handelt. Die Reparatur dauerte keine zehn Minuten. Gelernt ist halt gelernt und wer im Sommer Kappes klaut, der hat im Winter Sauerkraut. Beim Abschied schaute er skeptisch auf die Anrichte: »Wasistdenndasfüreinriesenbrot—Daskanndochkeinmenschessen!« Für den Landarzt der Thermen ging es nun weiter »Raufbiskurzvorpolen—da hat einer ein Haus.«

3.2.2019

Diese Einsamkeit des Einsiedlerkrebses, der umzieht, von Hörnchenmuschel zu Seeschneckenhäuschen (wobei die ihm verhältnismäßig vorkommen dürften wie Herrenhäuser,) und dann dort nie Besuch empfangen kann. Frage mich auch, wie die das entscheiden, ob und wann sie umziehen—wenn die Muschel beschädigt wurde, wenn der Hinterleib zu sehr gewachsen ist, um noch hineinzupassen, oder auch einfach so, weil ihnen eine andere besser gefällt? Kein Brot zum Einzug, aber das Meer ist ja immerhin salzig. Ich habe jetzt jedenfalls Brote für die kommenden Wochen. Und Salz für den sogenannten Rest des Jahres. Der in Wirklichkeit das Jahr selbst ist. Es entsteht, wie ein Weg, im Vergehen.

Samstagabend köstliche Kutteln im Restaurant einer Kunstgiesserei mit Philomene und Jan. Dazu gab es einen Wein, der wohl zur Reife in Amphoren vergraben wird. Schmeckte man irgendwie. Zum Nachtisch eine herrliche Sache, ein Halbgefrorenes aus Campari. Später kam Friederike an in der Nacht. Zum Glück bin ich nur vom Prinzip meines immerwährenden Umziehens her wie ein Einsiedlerkrebs. Und die neue Behausung ist vom Karmischen her 1a.

2.2.2019

Einfach so—aus Interesse, aus Bock: den alten Router in die Buchse gesteckt. Da ist das Internet, laut Botho Strauß »Anschluß an die heftige Welt.« Bekam natürlich gleich heftig Panik, weil ich am Vortage meine Kündigung des Vertragsverhältnisses per Einschreiben abgeschickt hatte. Im Vodafone-Shop zeigte man sich ebenfalls fassungslos. Der Fehler, das gibt es halt nur in Berlin: Meine Strasse gibt es zweimal—also vom Namen her. Und in der gleichnamigen, in Neukölln, ist wirklich kein Glasfaserinternet verfügbar. Bei mir aber schon. Langweilig, aber.

Irgendwie essentiell: Ronja von Rönne bloggt jetzt auf Instagram aus der Psychiatrie.

1.2.2019

Auspacken dauert länger als Einpacken—rätselhafterweise, ist es doch ein und derselbe Vorgang, bloß halt rückwärts abgespult. Aber das Erkennen, Wiedererkennen, in den neuen Kontext sortieren—passt das noch; wenn ja, dann wohin?—kostet Zeit.

Im Vodafone-Laden war man freundlich zu mir. Das Internet hier ist mit dem Internet am See nicht identisch. Ich brauche einen neuartigen Empfänger, der kommt freilich wie gehabt mit der Post. Öffentlich Schreiben kann ich einstweilen nur auf dem Telephon, da machen sich die japanischen Gleitsichtsgläser bezahlt.

Ich lese in den Zeitungsseiten, in die ich die Objekte und Gegenstände eingewickelt hatte (keine E-Paper!) »So reich ist Helene! Finanziell ist sie schon Weltstar« Da fragte ich mich: Was muß jetzt noch kommen?

Aber auch diese lange Erzählung im Dossier der Zeit über das lange Sterben des Jungens namens Josh, wie der sich, noch nicht einmal geschäftsfähig, mit Drogen, die er sich aus Facebook-Gruppen frei Haus bestellt hatte, vernichtet hat. Erschütternde Geschichte. Ich denke die ganze Zeit daran. Habe ich selten bei etwas, das in der Zeitung steht.

»Und so, über Gräber vorwärts.«

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«