»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

7.5.2019

Il fumo uccide: selbst die Abschreckbildchen auf den Zigarettenschachteln hier sind während langwieriger Prozesse durchdacht worden, die Motive präzise ausgewählt. In der Schweiz, das vermittelt auch dieses Gefühl von Sicherheit, passiert nichts «einfach so».

Zum Mittag war Ingo zu Gast, gerade erst zurück aus der Südsee von einer Insel, wo die Eingeborenen wohl sämtlich blondhaarig sind. Er war dort auf einem Schiff unterwegs mit Mara J. Hardt, deren Buch «Sex and the Sea» ich einst mit Genuss gelesen habe. Und Ingo erzählte mir, dass sie wohl Tränen geweint hat, weil die Unterwasserwelt dort bei dem Archipel noch so intakt war, wie sie es vor den Küsten vor Kalifornien und Australien, wo sie als Meeresbiologin normalerweise taucht, nicht mehr kennt.

Wir sassen vor dem kleinen Metzgerimbiss in der Langstrasse, den ich liebe und assen Zerzupftes von der Ziege (Ingo) und Pseudojapanische Rippli (ich). Die Sonne schien, die Leute waren gut drauf. Ich noch immer ein bisschen traurig, weil ich am Vorabend ausgerechnet hatte, dass ich bloss noch zehn Tage hierbleiben darf.

In dem Gespräch mit Heinz Bude, das Ende Mai in 032c erscheint, erklärt er mir seinen Solidaritätsbegriff mit einer Formel: «Was brauchst Du?» Also nicht: Was hättest Du gerne, oder Was willst Du, oder Was stellst Du dir vor? Und genau dieser Satz fiel dann in meiner Sitzung, nachdem Ingo wieder heimwärts gefahren war nach Basel. Es sass dort vor uns eine Künstlerin, die mit der Anfertigung von Collagen beauftragt werden sollte. Und nachdem ihr alles erklärt ward und sie ihr Einverständnis bekanntgegeben hatte, frage Beda «Wieviel Geld brauchst Du?» Die Auskunft ihrerseits wurde anstandslos akzeptiert. Denn es ist hier immer und von vorneherein klar, dass die Wahrheit gesagt wird.

Ich glorifiziere nichts. Und wie Phillip, bei dem ich vor zwei Wochen, die mir mittlerweile vorkommen wie ewige Zeiten, vor meiner Abreise noch auf dem Balkon sass und er sagte «Joachim, wir dürfen uns da nichts vormachen, weil selbst in der Schweiz hinter den Kulissen wahrscheinlich schreckliche Dinge geschehen», glaube ich auch nicht, dass hier alles viel besser ist; aber immerhin um so viel, dass ich als Deutscher doch extrem viel darüber nachdenke (eigentlich von Morgens bis Abends), warum das mit Deutschland nach dem Weltkrieg, nach Kohl vor alledem: so schief gehen musste. Als ich mit Ayako im Auto von Küsnacht nach Bellevue sass, hat sie mich gefragt «What in the world happened to you? Germany used to be our idol. You were ahead of us in every field. Now you seem to disappear completely. Why canˋt you put a lid on what happened while nazi-regime?»

Ich hatte keine Antwort, fand keine. Ich war embarassed, aber Ayako lachte mir zu via Rückspiegel, um meinen face loss aufzufangen. Mein Grossvater, lange tot, war Nazi. Ich kann mich nur aus seinen Schwarzweissfotos an seinen Krieg erinnern. Und aus Büchern. Aus Schriften. Aber jetzt sollen wir das bauhaus-Jahr feiern. Ich sehe aber keine Bauten in dieser Tradition mehr in Berlin. Was ich sehe an Neubauten ist die allerbilligste, im Grunde die Seele wie auch den Geist beleidigendtste Billigarchitektur aus den Computern. Auch, und das macht es besonders schlimm: in den Neubauten der Regierungsarchitektur. Wohingegen hier in Zürich zumindest die öffentlichen Gebäude wenigstens formschön und nicht wehtuend aus Beton und Aluminium hochgezogen werden. Zusätzlich ausgesucht bepflanzt und um all das macht man hier keinen Trubel. Man tut halt so, als ob das alles selbstverständlich ist. Und jede Nachfrage bezüglich des Luxus der vielen Mülleimer aus Chromstahl, ohne dümmliche Slogans der Stadtreinigung; jede Nachfrage bezüglich der erstklassigen Qualität eines Falafelsandwiches oder der Geschwindigkeit, mit der ein Kartenlesegerät eine Buchung vornimmt, wird mit Bescheidenheit zu sich genommen.

Es gibt kaum noch etwas, das mich zurück nach Deutschland ziehen kann. Gut, eine Behausung in meiner Heimatsphäre im Strohgäu wäre nicht schlecht. Ansonsten waren diese Wochen hier in Zürich unter vielem anderen zu einem gut: Ich will Deutschland jetzt endlich verlassen. Ich glaube nicht, dass in einer Regierung nach Angela Merkel sich irgendetwas noch zum Besseren ändern kann. Die ganze Hoffnung, die ich all die vielen Jahre immer wieder hegen, manchmal auch anheizen konnte, dass aus dieser Nation noch einmal etwas werden könnte, ist mir perdu gegangen.

Ich habe seinerzeit Faserland nicht gelesen. Aber heute scheint mir dieser Satz daraus immer bedeutender: «Deutschland, die grosse Maschine, die sich selbst herstellt.»

Manchmal hilft einem die Schweizerische Präzision auch dabei, sich mit der hier sogenannten Sachlage auseinanderzusetzen.

6.5.2019

Jan kam zu Besuch. Er war auf der Durchreise von Württemberg nach Venedig. Wir setzten uns in eine Terminusklause für die Stunde, bis sein Anschlusszug abfahren würde. Dort sagte er das Unaussprechliche über unser Heimatland. Ich habe das in letzter Zeit öfter, dass es mich regelrecht graust, wenn ich an Berlin denke. Hauptstadt der Lustlosigkeit. Ich bin nicht verwöhnt. Aber hier funktioniert alles so schön. Auf eine unaufdringliche Weise ist alles immerzu da, alles zuhanden.

Kaum hatten wir Abschied genommen, geschah das Unvorstellbare: Für knappe zwei Stunden fiel das Mobilfunknetz der Swisscom aus. Später rief mich Olivier an «Das Netz war weg, es ist unfasslich!» Es kam gerade noch rechtzeitig wieder, um David Wagner zuzuhören, der auf RadioEins für das Büchle sprach und sagte, ich sei «der Knausgaard Schwabens».

Die tiefen Temperaturen machen die schönsten Sonnenuntergangshimmel. Gestern stürzten sich kleine Hunde auf gewaltige Lachse. Heute hat ein zittriges Handgelenk mit breitem Pinsel beinahe alles türkisfarbend Leuchtende zugetuscht.

5.5.2019

Am Morgen war der Uetliberg, den ich durch das Fenster in meiner Kammer sehen kann, weiss gepudert. Unter dem Dach war es kalt geworden. Ich verliess das Haus und fuhr mit dem Niederflurbus auf den Züriberg hinauf, um mich im Tropenhaus des Zoos aufzuwärmen. Dort hatte es leuchtend orangefarbene Vögel, die zutraulich waren. Von Nahem betrachtet, schauten sie genau aus wie Spatzen, denen man die karamellfarbenen Teile ihre Gefieders mit Textmarker übermalt hätte. Ich stieg dort auf einen Aussichtsturm, der aus ungefähr zehn Metern Höhe einen majestätischen Blick über die Wipfel des tropischen Waldes unter dem gläsernen Dach möglich machte.

Gestern sass ich mit Michel Comte zusammen, der in einem ringsum verglasten Penthouse wohnt. Gleich hinter dem Haus beginnt ein Wald. Auf seiner Terrasse führten seine Hunde sich auf, als müssten sie dringend hereingelassen werden. Der kleine Braune hielt ein Hinterbein eingezogen und tat so, als könnte er nur noch auf dreien herumhumpeln. Der grössere Weisse zitterte, als hätte es minus dreissig Grad. Unten auf der Wiese ästen die Rehe. Comte hielt einen schwarzen Kater auf dem Schoss, dessen langhaariges Fell sich anfühlte wie Kaschmir. Der Kater heisst Cocteau.

Ich fragte, wie er und seine Frau Ayako sich kennengelernt haben. Ich glaube ja, Kennenlerngeschichten sind die besten von allen. Er sagte: Auf einem Formel-1-Rennen, das war vor elf Jahren. Und seitdem hat sich sein Leben komplett verändert, wie er sagt. Und das zum Besten. Er hat die Fotografie so gut wie aufgegeben, malt viel, seit neuestem macht er Land Art in einer Wüste an der syrischen Grenze. Er ist in den vergangenen elf Jahren einmal beinahe ums Leben gekommen; ein ander Mal riss ein Sicherungsgurt an der Ladefläche seines Rahmenlieferanten und fetzte ihm mitten ins Gesicht. Comte trug eine Brille mit Gläsern. Über einhundert Glassplittern mussten ihm während vieler Operationen aus den Lidern und Augen entfernt werden. Heute trägt er meistens eine Sonnenbrille, deren Gestell er für sich selbst entworfen hat.

Während er mir das erzählte, besprühte Ayako die auf dem Fussboden versammelten Grünpflanzen mit Waserdampf. Die Hunde sassen ihr zugewandt hinter der Scheibe und verfolgten jede auch noch so kleine ihrer Bewegungen. Das Haus macht ziemlich was her. Durch die Scheiben hinter dem Kamin schaut man auf den See. Er scheint nah, aber das ist trügerisch. Zu Fuss geht man bestimmt an die zwanzig Minuten bis ans Ufer bergab.

2.5.2019

Wiedersehen mit Olivier. Prinzipiell wohnen wir ja eigentlich in der selben Stadt (Berlin), aber es war bestimmt schon wieder knapp zwei Jahre her, dass wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnet waren. Wie ich ist er derzeit als Gastarbeiter des Studios engagiert. Allerdings für ein anderes Projekt, er zeigte mir Fotos von den wulstigen Wollschweinen auf den sonnenbeschienenen Wiesen der Alm ausserhalb Zürichs, wo er Möbel fotografiert.

Zur Feier unseres Wiedersehens hatte Beda eingeladen zum Eröffnungsabend des Pop-Up von Pierre Jancou in eine wunderschöne Fabriketage gleich hinter der Metzgerei Keller. Doch hatte dort leider die Köchin ihren Flug verpasst, weshalb es bloss Vorspeisen gab, und auch von denen bloss wenige, vor allem waren es in Öl gewälzte Stängeli. Wir tranken dabei zuviel von einem Naturwein, der zu ungutem Bauchgurgeln führte, und wärmten uns an den gemeinsamen Erinnerungen. Als klar war, dass aus der Küche nichts weiter mehr kommen würde (worüber vom Servicepersonal nicht gesprochen wurde; diesbezügliche Fragen wurden nicht einmal ausweichend, sondern einfach gar nicht beantwortet wegen drohendem Gesichtsverlust), überlegte Beda laut, ob er Pizza in das Restaurant liefern lassen sollte. Aber stattdessen brachen wir auf in die nieselnde Nacht, wo uns wie plötzlich der kichernde Raphael entgegenkam, mit einem Pizzakarton in der Hand. Es hatte sich schon zu ihm herumgesprochen, dass man zu diesem Restaurant sein Essen selbst mitbringen sollte. Und so teilten wir uns seine Napoli im Stehen auf dem Parkplatz.

Für den Sonntag ist Schnee angesagt. Meine Nachbarn hören «Good Vibrations».

1.5.2019

Unverhofft schäumender Nachmittag in der Kronenhalle. Wir hatten ein paar Leute eingeladen, die sich, im Geiste Niklas Luhmanns einfach mal natürlich geben sollten. Luhmann selbst, damals im Gespräch mit Alexander Kluge: «Es gibt ja nichts Schlimmeres, was sie zu ihrer Frau sagen könnten als ˋSei doch mal natürlich.´»

Aber dann mit dem Essen und mit dem Wein. Bedingt durch den Auftrieb zum Internationalen Tag der Arbeit war es freilich nicht ganz einfach, in die Rämistrasse durchzustossen. Auf der Brücke über die Limmat hatten sich die Mitarbeiter der Kantonspolizei in Battle gear an beiden Flanken ihres Mineralwasserwerfers postiert, um die linksradikalen Demonstranten vor dem Beschreiten der Innenstadt abzuwehren. Immer wenn eine Tram nahte, musste dieser mit Gummigeschossen bewehrte Trupp die eigens aufgebauten mobilen Zäune beiseite räumen, um die pünktliche Durchfahrt garantieren zu können.

Innen, man bekommt wegen der in St. Gallen geklöppelten Vorhänge von dem Geschehen auf der Rämistrasse so gut wie überhaupt nichts mit, wurde im Voiture heute Bollito Misto serviert. Jemand machte mich aufmerksam auf die an einem langen Tisch präsidierende Susi Wyss, deren Lebenserinnerungen, streng limitiert bei Patrick Frey erschienen, ich in den Tagen zuvor inhaliert hatte. Das Buch hat 800 Seiten, aber gedruckt in einem Satzspiegel wie bei Henry Miller. Es dürfte sich also um 1200 Normseiten handeln, auf denen sie circa 350 Bettgeschichten mit weit mehr als 350 Männern erinnert. Ein hochinteressantes Dokument eines Schweizer Frauenlebens von den späten dreissiger Jahren bis ans Ende der Siebziger. Ich erwies ihr meine Hochachtung (sie ist ja mittlerweile 80 Jahre alt). Da plumpste schon die festlich geschmückte Diane Brill neben ihr auf die grünlederne Bank und kommandierte: «Susi, tits out!» Woraufhin diese nicht lange Zeit verstreichen liess und es damit tatsächlich geschah. Mitten in der Kronenhalle. Am Internationalen Tag der Arbeit. In Zürich. 

Auf Zwinglis Grossmünster waren auf beiden Türmen die Flaggen gehisst: rechts die Schweizerische, links die von Zürich. Ich kann noch immer nicht sagen, welche mir die Schönere ist.

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