»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

8.11.2019

Die Wohnung mir direkt gegenüber, die der begeisterten Raucher, steht noch immer leer. Die Balkonkästen werden mittlerweile vom Eichhörnchen bewirtschaftet, das einen davon als Stash box benutzt. Ich hatte mir Sorgen gemacht, weil die Hauseigentümergemeinschaft eine Firma beauftragt hatte, im Vorgarten sogenannte Rattenköder auszulegen. Anscheinend aber ist das Eichhörnchen trotz formaler Ähnlichkeiten den Ratten überlegen (hinsichtlich Erkenntnis oder Theorie).

In der Wohnung darunter geht das Licht so gut wie nie aus. Der Bildschirm (komisch, das ich tatsächlich vom männlichen Mieter ausgehen will) zeigt mir das bläuliche Geschehen eines Videospiels. Es handelt sich um etwas Mündungszentriertes, also spielt er vermutlich nicht «Death Stranded», jenes fantasievolle Spiel aus Japan, von dem derzeit so viel und ausgiebig in den Feuilletons zu lesen war.

Meine Eltern schicken mir einen Ausriss der Stuttgarter Zeitung: Viele Chefredakteure von schwäbischen Zeitungen fordern, ganzseitig, eine Wendung weg vom Hass; und von den drei Stunden, die ich gestern mit Mirko in einer tatsächlich von Franzosen betriebenen Épicerie verbracht habe, redeten wir mehr als die Hälfte über Angst. Und (von ihm her): über Auswanderungsfantasien. Kulminierend in: «Du musst ein Buch darüber schreiben!» Damit wäre der Komplex dann in Form gegossen und endgültig erledigt.

Aktivist zu sein bedeutet jetzt, umtriebig zu sein. Sichtbar. Mir ist aber das inwärts Gerichtete sympathisch. Ich glaube, die Menschen sind zum Träumen gemacht. Dort finden sie sich wohl, und die deutlichsten Worte zu einer Verteidigung des Daseins finden sich zuverlässig dort, wo die Träume sind.

7.11.2019

Die Südchinesen tischen jetzt die gekochten Erdnüsse auf: Man kauft die Erdnüsse in Schale, durchpiekst sie mit der Nadel und kocht sie in Pastawasser (Meerwasserstärke) auf. Die schmecken super und, plötzlich, wird es einem gewahr, dass Erdnüsse möglicherweise gar keine Nüsse sind, sondern Bohnen.

Im Grunde sind sie den Edamame ähnlich, die den Japanern zugeschrieben werden als kulinarische Errungenschaft. Bloss schmecken die gekochten Erdnüsse besser. Aber die japanische Kultur gilt als überlegen.

6.11.2019

Christian riet mir, das «grösstmögliche Gerät» zu kaufen. Schliesslich «schreibe das Schreibgerät doch mit». Ich betrachte mein Gehirn als mein Schreibgerät. Werde von daher das allerkleinstmögliche iPad aussuchen. Erinnerte mich an den legendären Disput von Peter Schneider mit Handke, in welchem Hosenschnitt es sich denn besser schreiben lässt. Schneider war für Röhren, Handke für Pluderhosen (freilich). Übrigens bin ich hier schon an etlichen Buchhandlungen vorübergegangen: In keinem Schaufenster wird Werbung für das Werk des Nobelpreisträgers gemacht. Kurios. Aber so ist jetzt halt die Zeit.

Erste Kokosnüsse bei den Türken. Mein Heimweg wurde von einem Laternenumzug gekreuzt.

5.11.2019

Morgens demnach umgehend ins Display-Paradies; wobei die Experten dort ja schon ganz schön schnöde: Ich zeigte dem Fachmann den Balken und er, fachmännisch: «Das ist ein Displayschaden». Sein Kollege, ein Kenner, zu der mir wichtigen Frage, worin sich denn nun all diese beinahe identischen Modelle des Gerätetyps voneinader scheiden liessen: «Speicherplatz». Demnach Leistung. Analog zum Wert von Salz in frühen Zeiten, von dem ja sowohl die noch erhalt’nen Gefässe still beredtes Zeugnis abzulegen gedächten, wie auch der Begriff Salaire?

«In etwa». Zudem würde der Kunde aber noch in die Zange genommen durch die ins Unaufhaltsame wachsende Grösse der Betriebssysteme. Ein Terrabyte bedeute dann bald schon so gut wie gar nichts mehr. Dann würde schon die Ausstattung des Gerätes von seiner eigenen Benutzbarkeitsmachung blockiert. Hätte man sich vermutlich bei den Wegfahrsperren für Parksünder abgeschaut.

Ich ging dann heimwärts am Flussufer entlang, um die Optionen zu ventilieren. Da stand ich vor einem Baum, der über den Sommer hinweg zum Totholz geworden war. Einer seiner stärksten Äste machte einen Cabrioausleger und war genau dort, am Ellbogen, zudem noch komplett von den Eichhörnchen geschält. Ich dachte: Den müsste Christian fotografieren. Und in dem Moment klingelte mein Telefon, Christian am Apparat. Stereo-MCs-mässig.

4.11.2019

«Irreparabel» ein dummes Wort. Die Alternativen sind mannigfaltig. Dies könnte meine Matratzenarie werden.

3.11.2019

Nicht komisch, warum es schön ist, beim Geräusch von Regen einzuschlafen, dagegen schlecht, dabei aufzuwachen. Woody Allen: «If it bends, it’s funny. If it breaks, it’s not funny».

Demnach also maximal unkomisch, dass das iPad seit seinem Einschalten heute früh einen schwarzen Balken zeigt, quer über den sogenannten Screen. Und das auch noch Sonntags. Ist ja so wie bei Zahnersatz: Man denkt immer, das passiert den anderen, aber dann passiert es halt doch.

Der Balken nimmt, gemessen an der Breite des Pads, weniger als ein Viertel der gezeigten Fläche ein, das aber scheint kriegsentscheidend, da kann ich drehen, wie ich will (der Balken bleibt).

Ich tippe diese Zeilen auf dem Telefon. Schön ist das nicht. Einen Laptop hätte ich auch noch, der steckt zwischen der Wäsche wie die Tagebücher von Patricia Highsmith. Aber allein: wie der föhnt. Ausserdem habe ich das Passwort für meinen Internetanschluss verlegt. Lauter so Petitessen.

Morgen macht Gravis auf. Bis dahin halt: Keine Leerzeilen.

2.11.2019

Müsste mich eventuell ganz zurücknehmen; zumindest doch teilweise: denn am zweiten Tag gefällt mir die Zeitung nun doch «wieder gar nicht so schlecht». Was ich umarmen will ist doch Kontinuität!

So auch meine Liebe zum Schlaf. Als ich heute früh hinab zur Tankstelle schritt, um dort diese Zeitung mit ihrer Sonderbeilage anlässlich des 70. Geburtstages der Unternehmung zu kaufen, fiel mir dort, am Sockel des Treppengelaufs (schreibt man das so?) die dorthinein, nämlich, zwischen die das Treppengeländer stützenden Sprossen gesteckte Süddeutsche Zeitung auf.

Ich lese die ja seit langem nicht mehr. Aber nicht, weil sie mir zu liberal scheint — liberal bin ich selber. Nein, es ist der Ton und demzufolge ist es halt auch das Klientel, das diese einst interessanteste (vom Feuilleton her) Zeitung lange schon für mich unmöglich gemacht hat. Die Redaktion der Frankfurter, so steht es geschrieben, versteht sich als Verfasser des dicksten Geschichtsbuches; die Münchner wiederum — einst in der Stadtmitte, heute draussen beim Flughafen, kümmern sich vor allem um sich. Deren Klientel sind ja die späten Eltern. Und denen, es gibt in meinem Haus davon nur ein Paar: Geht dann wohl diese Zeitung zu. Ich habe den Haushaltsvorstand gegoogelt: Er arbeitet in einer Behörde. Die Frau kenne ich persönlich. Sie haben jetzt, ich hatte ja geschrieben, dass mein Haus hellhörig ist: ein Ritual entwickelt, leider, bei dem die wahrscheinlich vierjährige Tochter die Mutter um sieben Uhr morgens unter grossem Geschrei und Gestöhne aus der Wohnungstüre drängen muss, damit die Kleine nicht auf die Idee kommt, dass «Die Mutti» wohl freiwillig geht. Der Vater unterstützt dieses Ritual damit, indem er, an jedem verfluchten Morgen bis auf den Sonntag, denn da wird natürlich ausgeschlafen: Grunzt wie ein Möbelpacker, wenn er dabei hilft, die Mutti aus der Wohnung zu schieben. Somit lernt also das Kind, dass die Mutter sich nicht gerne von ihm, von der Familie auch, das Kind einbegriffen, trennt. Zu diesem Erziehungsstil gehört meiner Erfahrung nach auch, dass man vor dem Kinde stets so tut, als habe man die eigene Wohnung gerade erst, beim Aufschliessen, als eine Art von Schatzhöhle entdeckt. Gleich, was das Kind davon hält — eventuell ist es vor allem für die Erwachsenen schön.

Leserphysiologien: Also vertiefte ich mich nicht weiterhin in die Frage nach einer Zusatz-Lektüre, sondern begann in der Zusatzlektüre meiner Zeitung zu — ja: schmökern. Bannas über Adenauer. Kohler über Sinn und Zweck. Lukas Weber über die Scharfhaltung des Stiles.

Gestern rief Oskar an, ist wohl auf Mallorca. Sein Cutter hat ihn rausgeschmissen (aus dem Schneideraum; will ohne Reingequatsche weitermachen). Künstlerische Fantasien! Am Donnerstag gibt es eine Vorschau. Mal schauen!

Was die die wohl dächten, wenn ich sie jeden Morgen mit «Kaileigh» weckte? Sicher ist das süss. Aber zugleich an Jedem guten Morgen?

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