»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

21.11.2019

Noch ein Café (am Marktplatz, unten am Ufer der Weil), daneben ein Friseurbetrieb für Männer («King-Barber»); die Betreiberin des anderen Friseurgeschäfts, neben dem Fachwerkhäusle des Heimatvereins, steht manchmal unter dem Reklameleuchtkasten für Keralogie und raucht Zigaretten. Sie trägt ihr Haar im Stile Brigitte Macrons. Zwei Thai-Massagestudios — unklar, ob mit, ob ohne Happy End —, das eine in den ehemaligen Räumlichkeiten des Cafés der anderen Bäckerei («Weil»), die jetzt, im Gegensatz zum Möller, bloss noch als Bäckerei firmiert, das andere direkt neben dem Kebap- und Pizza-Restaurant. Ein «Schlachthaus» namens Asfa — erstaunlich, wohin es doch die Äthiopier überall hin verschlägt. Ein privater Pflegedienst, eine Fusspflegerin, ein orthopädischer Schuhmacher. Ein Brockenhaus, das sich hypertropherweise «Auktionshaus» nennt. Ein Blumengeschäft. Eine Gärtnerei. Eine Tankstelle («Total»). Eine Sparkasse, eine Volksbank. Penny, Aldi, Rewe (mit «Getränkemarkt»). Zwei Kirchen.

Und ein Kino immerhin (deshalb bist du hier).

Abends plötzlich Appetit auf Pizza. Als ich das auf Kebap und Pizza spezialisierte Haus betrete, bin ich überrascht von der Weite des Gastraumes: sechzig Personen könnten hier gleichzeitig und dabei bequem ihr Abendbrot einnehmen. Ich bin allerdings der einzige Gast. Wie finanziert sich das bei den hier im Taunus üblich gewordenen Mietpreisen?

Von meinem Tisch, direkt unter einem grossflächigen Bildschirm gelegen, der stumme Musikvideos zeigt, kann ich in das durch eine gläserne Schiebetür abgetrennte Zimmer hineinsehen, das als «Raucherraum» gekennzeichnet ist. Nachdem ich meine Pizza ausgewählt (Corleone mit Salami) und bestellt habe, wird diese Trennwand zur Seite geschoben und die vier jungen Männer, die dort ihre Köpfe zusammengesteckt hatten, setzen sich hierbei mir im Hauptraum an einen Tisch. Sie reden ungeniert und dröhnend von ihrem Geschäft, wohl weil sie annehmen, dass ich ihren Jive ohnehin nicht dechiffrieren kann. Ich bin der einzige Weisse im Raum. Die Rede ist von «Hähnchen», aber nicht die aus dem Wienerwald, es geht ums Ballern. Dann freilich um die Freizeitgestaltung, um Fitness und ein neues Proteinpulver der Marke Gamechanger. Frankfurt ist knappe sechzig Kilometer nah, und Frankfurt strahlt aus. In alle Richtungen, auch in den abgelegensten Winkel des Taunus hinein. Oskar meint, auch Darmstadt sei deswegen ein einziger Drogensumpf. Und Weilmünster hat einen frissonierenden Eishauch von Lumberton herübergeweht bekommen für mich.

Pizza war i.O.

20.11.2019

Nach dem Frühstück (Brötchen, Wurst, Flocken) Erkundungsgang in die Ortsmitte. Zwei Bäckereien (eine davon, Möller, mit Konditorei und Café), ein Drogeriemarkt («Rossmann»), eine Handlung für Hundehalterbedarf, ein Eiscafé, ein Schreibwarenhandel, eine Eisenwarenhandlung, die nahtlos in ein Spielwarengeschäft übergeht, das wiederum in einem Nebenraum auch Haushaltswaren führt. Ein sogenannter Textilwarenladen, der in seinen Verkaufsräumlichkeiten eine Filiale der Post inklusive Postbank beherbergt. Ein Restaurant «Posthaus», das thailändische und deutsche Spezialitäten auf der Karte hat. Ein Kebap- und Pizzaspezialitätenrestaurant. Gerade so, als ob der Platz hier knapp wäre; dass alles so zusammenrücken muss. Aber ringsum Weilmünster ist noch reichlich Landschaft übrig, sie bietet sich regelrecht dar.

Normale Zeitungen gibt es hier nicht. Bloss das «Weilburger Tageblatt» und die Bildzeitung «Bild», die heute vorne drauf in schwarz auf gelb mal wieder so tut, als ob. Im Tageblatt hingegen wird das Attentat auf Dr. Weizsäcker im Vemischten kurz gemeldet. Darunter die sagenhafte Geschichte von der Höllenfahrt zweier Russen: «Nach dem Bruch einer Fernwasserleitung in Russland ist ein Auto mit zwei Männern in ein Loch mit kochendem Heizungswasser gestürzt. Die beiden Insassen seien dabei ums Leben gekommen, teilte die Polizei mit. Ihr Wagen stand auf einem Parkplatz in der Stadt Pensa etwa 550 Kilometer südöstlich von Moskau, als plötzlich der Asphalt direkt darunter zusammenbrach.»

Weil wir gestern gut gearbeitet hatten, bekam ich heute am frühen Nachmittag schon frei und ging den Weg zum Ortsausgang bergan, bis keine Häuser mehr nachrückten. Hinter der letzten Kurve kam dort Schritt um Schritt ein Wald empor, als wüchse er gerade jetzt erst aus der Wiesen Grund. Rechts unten war ein Steinbruch, und mein Weg führte erst daran vorbei, dann ging es woanders tief hinunter. Schiefer ragte stapelweise aus der Böschung, viel Moos. Der Weg war auf eine raffinierte Weise geführt, er wusste mich zu halten. Immer wenn ich den nächsten Hügelkamm erreicht, die nächste Kurve durchschritten hatte, entfaltete sich vor mir schon wieder ein mich neugierig machendes Bild, in das ich eintreten wollte. So ging es voran, bis ich nach so vielen Feldern und Wiesen und Hochsitzruinen vorläufig angekommen schien an einer Weide am Abhang, an dem Jungbullen grasten, mit schwarz gekräuseltem Persianerfell und dicken Hörnern. Die Augen seltsam glotzend, wie aus schwarzem Glas. Zurück über den Weg durch das Weiltal (auch hier viel Schiefer; vermutlich wird in dem Steinbruch auch Schiefer abgebaut). Im Ort dann natürlich sofort ins Café Möller. Es war ja Kaffeestunde. Bis auf einen Tisch, meinen, waren alle anderen schon besetzt. Nebenan eine Runde eleganter Damen, in deren Mitte nur ein einziger Mann. Die anderen waren wohl schon weggestorben. Dementsprechend war er nun als Stellvertreter in Personalunion für sämtliche Witwen zuständig geworden, hatte beispielsweise deren Anstandsreste aufzuessen. Die Stückchen schob man ihm auf den Tellerchen samt beiliegenden Kuchengabeln zu. Und er, heroisch. Machte auch den einen oder anderen Scherz, neckisch. Schön abwechselnd bei der einen, währendessen die anderen ihm dabei zuschauten. Wohlgefällig. Wahrscheinlich nennen sie ihn für sich so, weil er sich einst im Scherz als solcher bezeichnet: Last of the mohicans. Damals waren die anderen Männer aber noch am Leben gewesen.

Ich könnte hier gut mal eine Zeit lang verbringen. Ein Buch schreiben, über das Leben in einer westlichen Provinz. Interessiert wahrscheinlich niemanden. Der sogenannt abgehängte Osten hingegen noch immer und sehr.

19.11.2019

Inzwischen hatte man mich nach Weilmünster gebracht. Und das mit dem Auto. Hinter der Stadtgrenze wurde das Land weit, vor uns der Taunus, eine Hügelkette mit ebenmässigem Rücken. Eine grosse Herde weisser Wolken und zwei, drei schwarze, die sich daraus losgerissen. Himmel wie bei Staël, darunter der bunte Wald. Wie lange ich schon nicht mehr mit dem Auto gefahren war. Ganz andere Bildgeschwindigkeit, andere Aussicht vor allem: Hier, wo keine Schienen liegen, zeigt sich das Land wie insgeheim geschwungen und hier (und da) ein Birnenbaum; hoch gewachsen, selbst birnenförmig geworden über die Jahre. Stamm und Äste bis in die Spitzen mit patinagrünen Flechten bedeckt (an seiner Wetterseite).

Mittags Schnitzel (Wiener), abends Schnitzel (Jäger). Leben auf dem Land. Muss moralisch wie Ferien gestaltet werden, auch wenn ich hier zum arbeiten bin.

17.11.2019

Jürgen Dollase schreibt: «Das macht Sinn.» Das ist, hier ist das ausnahmsweise einmal angebracht zu sagen: Harte Suppe (für mich). Demzufolge, diesem Dammbruch, ist es bloss (bloss!) noch eine sogenannte Frage der Zeit, bis er ein Gericht als lecker qualifizieren wird. Bis dahin aber erfreue ich mich noch an den Resten seiner sprachlichen Reichtümer (heute ging es in seiner Kolumne ja wie gewohnt gut los (zu Beginn des vergällenden Absatzes, der dann auch noch der letzte sein sollte, wie um bei mir einen schlechten Nachgeschmack zu erzeugen) mit dem Satz «Leider gibt es beim ersten Hauptgericht Unklarheiten bei den Proportionen»)). Da lacht der Fachmann und der Laie wundert sich (neulich las ich, in der Strassenbahn fahrend, in der Wikipedia den Eintrag über Grütze. Da stand doch tatsächlich dieser Satz «Die Abgrenzung zu Getreideschrot ist unscharf»). Wat heb wi lacht.

Die Strassenbahnen hier in Frankfurt lassen bei geöffneten Türen ein ganz feines, rhythmisch perlendes Geräusch ertönen, das mich an Bikini Bottom und an küssende Guramis denken lässt. Jene lachsfarbend schillernden Fische, die mit einem Kussmund zur Welt kommen. Die können gar nicht anders, kämpfen auch so. Wie sich das anhört ist freilich unbekannt. Gibt es Unterwassermikrophone?

16.11.2019

Gestern hat das Mandelbäumchen sein letztes Blatt abgestossen. Lanzettförmig und birnenfarbend. In der Frühe steht der Dampf aus den Kaminen wie gebauscht und dann gefroren in der Luft. Aber die Tage sind mild geblieben. Und entlang der Frankenallee zeigen die Bäume ihren Laubreichtum, der eine oder andere sogar noch in Grün

Die Gemüsehändlerin auf dem Markt an der Konstablerwache bricht morgen in die Ferien auf. Sie fährt, wie in jedem Jahr, «in die Emirate». Und zwar mit dem Schiff. Dohar, Oman — sie liebt die arabische Welt einfach, «Weil ich da abends alleine herumgehen kann wie ich will. Da will keiner was von mir — komisch, gell?»

Der Apfelreichtum Hessens, ein Apfelland, wird an mehreren Ständen kistenweise vor Augen geführt. Fällt einer herunter, macht das ​nix, es gibt umgehend einen neuen «Wir machen Apfelwein d’raus». Nebenan bekam ich eine epochale Rindsworscht aus 36145 Wiesen: «Mit leichten Röstaromen?»

«Mit heftigen, bitte.»

«Der Herr weiss, was schmeckt.»

Auf dem Weg zur Strassenbahn sendeten die umstehenden Chinesen einer Reisegruppe begehrliche Blicke in den vor Grünkohlblättern überquellenden Stoffbeutel in meiner Hand. Diskutierten in hervorgepressten Lautketten. Möglicherweise war ihnen aber die Pflanze auch vertraut, wird der palmenhafte Grünkohl auch im Reich der Mitte angebaut und vertilgt, und die Chinesen erregten sich am Aufdruck meines Beutels, einem Werbegeschenk der CSU, auf dem in bayerisch blauen Buchstaben Söder steht. Könnte doch sein, schien mir nicht unwahrscheinlich, dass man in China nicht bloss Grünkohl liebt, sondern auch Markus Söder.

Zwei Männer ohne eigenes Obdach sassen, noch zur unteren Hälfte in ihre «Penntüten» verpackt, unterm Haltestellendach und führten Frühstücksgespräche. «And then I went to argentina for a year.»

14.11.2019

Die Wespe drängt ins Haus. Im Sonnenschein auf dem Balkon hatte ich mit ihr noch mein Frühstück teilen wollen. Sie schwebte ein und liess sich nieder auf dem Teller, für sie eine Plattform, schien aber nichts finden zu können: wie rastlos irrend krabbelte sie umher, von Pontius Wurst zu Pilatus Apfel und wieder von vorn. Im Sommer, heisst es, gieren sie nach Süssem, wenn der Nachwuchs geschlüpft ist und es verlangt sie nach Fleisch, wenn sie das Nest bauen aus ihrem Pappmaché. Im November gibt es dann wohl keine irdische Speise mehr, die ihrem Bedürfnis nach Stärkung entgegenwächst. Weil es jetzt um ihre Arbeit des Sterbens geht.

Mir geht diese Begebenheit aus dem Zug nicht mehr aus dem Kopf: Auf der Rückfahrt von Leipzig setzte sich uns gegenüber ein Duo zweier junger Frauen, die anscheinend vom Frankfurter Flughafen aus in die Ferien aufbrechen wollten. Kaum das sie sich hingesetzt hatten, tauschten sie sich noch ein wenig über die Steckdosenform im Urlaubsgebiet aus, und führten sich gegenseitig ihre Multiadapter und Powerbanks vor. Daraufhin wurde noch etwas geschwiegen, die eine biss in ein belegtes Brot. Dann stöpselten sich beide ihre Ohrhörer ein und lauschten jede für sich dem Hörspiel oder der Musik aus dem eigenen Telefon. Das blieb so von Fulda bis Frankfurt Hauptbahnhof. Gerade noch heiter plaudernd, Seite an Seite, sassen sie uns nun dicht gegenüber wie ausgeschaltet. Die Augen geöffnet, der Blick so leer.

13.11.2019

Die denkbar schönsten Herbsttage liegen hinter uns. Fuhr am Samstagabend nach Leipzig, über Dessau, und freute mich schon auf diese mir bis dato unbekannte Strecke durchs Land, bis mir freilich kurz vor der Abfahrt klar wurde, dass es dann ja längst dunkel geworden würde. Im Zugabteil sassen verblüffend viele Menschen, aber die verloren sich dann zügig an den wenigen Haltestellen hinter Potsdam. Kaum war die anhaltinische Grenze überfahren war man beinhahe schon intim unter sich. Eindrucksvoll, wie dann gleich nach dem Versickern der Agglomeration ein leeres Land sich breitet. Kaum dass ich mal ein paar Lichtlein sah, die auf eine menschliche Siedlung hindeuteten. Das Telefon zeigte sehr schwachen, streckenweise überhaupt gar keinen Empfang mehr an.

In Dessau selbst hatte, um kurz nach halb sieben, die Bahnhofsgastronomie schon die Läden dicht gemacht. Ich trat auf den Vorplatz, dort leuchteten rote Buchstaben in die Nacht über der «Bauhausstadt»: Orion und Spielhalle. Zu Essen leider nichts.

Wie ganz anders, wie prächtig das hohe Gewölbe des Bahnhofs von Leipzig. Am nächsten Morgen wurden wir von blauem Himmel geweckt. Im Park das honigfarbene Laub an den Bäumen. Picknickszenen am Ufer der Elster. Warum hier um das Entscheidende schöner gebaut und restauriert wurde und wird als in Berlin, werde ich mir beizeiten von einem, der sich auskennt, erklären lassen. Das Haus der Base, das sie sich mit ihrer Frau in einem Hinterhof aus einem Stall hat ausbauen lassen, ist herrlich geworden. So müsste man wohnen — können? dürfen? Endlich auch mal wieder ein Garten, in dem ich am Montag mit Rebecca einen völlig verbumfeiten Apfelbaum aufs rechte Mass zurückführen konnte. Schneidenderweise (Gewaltig wird des Schlossers Kraft/ Wenn er mit dem Hebel schafft).

Dergestalt beherzt konnte ich dann gestern endlich zur Tat schreiten. Trat — Augen zu, und durch — über die Schwelle des Saturn und liess mir ein neues iPad aushändigen. Setzte mich damit, standesgemäss, in die benachbarte Filiale von Starbucks und lud den gesamten Inhalt des in Berlin liegengelassenen iPads hierher in das neue herunter. Die Seelenwanderung dauerte weniger als eine Stunde lang.

So merke ich jetzt kaum einen Unterschied. Es ist halt etwas kleiner, was aber nicht störend wirkt. Nur noch der Regen hat kleinere Hände als ich.

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