»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

15.7.2020

Aufgewacht bei leichtem Regen, die Luft lässt sich dementsprechend leicht und frisch empfinden; wobei ich in den vergangenen Tagen manchmal das Gefühl hatte, wenn es diesen ständigen Wind nicht gäbe, es mir unerträglich heiß geworden wäre. Aber mit dem Wind war es vor allem im Palmengarten herrlich — kaum Menschen, bis auf vier Greise im gelblich grünen Baumschatten eines Ahorns mit flirrender Krone. Alle Parks sollten Eintritt kosten, ich bin dafür.

Friederikes Geburtstagsfeierlichkeiten teils schäumend mit der Tischbombe aus der Schweiz, die freilich nur so tönte, als ob damit unser Geschirr zerschlagen würde. Mit Katharina und Rebekka aßen wir gestern noch in der panasiatischen Rotisserie am Boulevard de l‘ Europe. Dort gibt es das Fleisch der Zukunft, es nennt sich (natürlich im übertragenen Sinn!) Beyond Meat und schmeckt fabelhaft. Mir schmeckte es so gut, dass ich fortan nur noch Würste aus Beyond Meat essen wollte, aber leider stellte sich heraus, dass die Herstellerfirma eine erratische Vetriebsstrategie verfolgt, ich müsste gleich einhundert Würste auf einmal bestellen, aber wohin dann mit denen? Immer Ärger mit der Fleischindustrie, sogar mit der zukünftigen!

Ansonsten ging es unter anderem um die Kinderfrage, d.h. ob sie (K & R) Kinder haben sollten oder nicht. Homosexualität ist ja eine Lebensweise, die auf einer Selbstermächtigung beruht, man wächst nicht einfach hinein, sondern muss zuvor ein Bekenntnis zumindest vor sich selbst ablegen. Vergleichbar mit dem Künstlertum. Ich dachte an den Nachmittag bei Peter und Tobias, als er uns die Fotos vom Haus zeigte und auf einem war er selbst zu sehen, da stand er in dem Treppenhaus, das auch damals so ausschaute wie noch immer, aber neben ihm war jetzt ein großes Loch im Fotopapier. Und er sagte «Damals war ich noch mit einer Frau zusammen.»

11.7.2020

Auf dem Heimweg sah ich am Kornmarkt einen Mann mit einem blütenweißen Akita, es war noch früh. Es näherte sich ein Rettungswagen mit Martinshorn, der Hund blieb stehen und forderte die Aufmerksamkeit seines Herren ein. Der Hund setzte sich hin und, als der Rettungswagen näher gekommen war, stimmte er ein Heulen an. Als ob er ein Instrument ab und ansetzen könnte, um diesen Ton zu produzieren, geradezu festlich.  Der Rettungswagen: sein Rudel. Das Rudel fuhr vorbei.

Ich habe hier schon viele Akita-Hunde gesehen, aber noch nie einen weißen. Bis heute dachte ich, die sind lautlos, stumm.

10.7.2020

Seit langer, langer, langer Zeit wieder ein Lexikon bestellt. Ich hatte die herrlichsten Lexika und Enzyklopädien, einst, allesamt weggeramscht, Wikipedia rules, aber halt doch nicht bis in die schattigen Nischen, in denen ich mich derzeit aufhalten will (erzählerisch). Geliefert wurde ein, wenn nicht das Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, erste Stichprobe führte ohne Umschweife nicht etwa zur Schweife, sondern zum «Stielauge»:  …Die junge, durch student. Kreise verbreitete Rda. ist nicht von den an einem Stiel sitzenden Gläsern der Lorgnette hergeleitet, sondern vom Bild der bei Überanstrengung stark hervortretenden Augen, die gleichsam an einem Stiel zu sitzen scheinen. 1190 Seiten, üppig illustriert. Was war Lutz Röhrich für ein Mensch? Ein Schwabe, selbstverständlich, ein Erzählforscher natürlich. Vom Typ her also nicht so unangenehm verbissen wie Arno Schmidt, vom Humor-Level aber dürften sich die beiden ebenbürtig gewesen sein. Erster Band von Aal bis Glied, ein Schelm!
Wobei die steigende Hitze im Süden des Landes derzeit die schönsten Blüten treibt, wie heute früh schon (technisch also gestern Nacht) im Newsletter des Splendido-Magazins, wo Juri Gottschall schreibt «Nun muss man dazu sagen, dass es ohnehin ein kulinarischer Genuss ist, im Sommer die Po-Ebene zu durchstreifen.»
Im Feuilleton unterhält sich der Opernkritiker Jan Brachmann mit Dirk Mürbe, einem Phoniater an der Charité. Es scheint mehrere davon zu geben, aber halt bloß einen, der Dirk Mürbe heißt. Wobei ja leider zu befürchten steht, dass unsere Spülmaschine demnächst ihren Geist aufgibt. Sogar die Putzfrau hat sich schon beschwert über den ungewohnten Lärm. Schriftlich (die Beschwerdeform). Ein bronchiales Rasseln und Würgen. Ein kraftloses Wühlen im Saft chemischer Reinigung (frei nach Th. Mann).

9.7.2020

Friederike ist zur Zeit auf einer Dienstreise durch die Pfalz, das habe ich gestern zum Anlass genommen, meiner Passion als Vorkoster nachzugehen. Es hat in den vergangenen Wochen etliche Neueröffnungen gegeben — vor allem indische — das Interessanteste schien mir aber eine chinesische zu sein, spezialisiert auf Nudeln. Von außen konnte ich bislang nicht recht erspähen, wie der Gastraum aufgeteilt wurde, ich war dann sehr angenehm überrascht. Man sitzt dort an einem von seinem Prinzip her endlosen Tresen, der im Viereck um ein ein leeres Zentrum herum geführt wird. Das kenne ich vor allem von Sushi-Bars, aber ein modelleisenhaftes Vorüberziehen der Speisen scheint den Chinesen fremd (habe ich zumindest auch in China selbst nirgendwo entdecken können). Man sitzt also selbst als einzelner Gast ideal, weil es im Zweifel gegenüber andere zu beobachten gibt. Außerdem hängen mehrere große Fernseher von der Decke, die Bilder wachsen einem direkt in die Augen, wo sie mühelos aufgesaugt werden können. Gezeigt wird ein Film ohne Ton, der mehr eine Szenenfolge sein will ohne Höhepunkt, in dem eine alterslose und beinahe auch geschlechtslos wirkende Gestalt diverse appetitlich wirkende Speisen herstellt — kühle und warme —, diese auf hübschen Tellern dekoriert und dann selbst aufisst. Dabei wird sie aufmerksam beobachtet von ihrer Katze, die ein vollkommen weißes Fell hat. Und blaue Augen. Allein das papierweiße — oder reisweiße? — Fell dieser Katze nährte in mir den Verdacht, es müsste sich um eine animierte Katze handeln. Und: War denn ihre ephebenhafte Herrin aus ebensolchem Material (jenem Stuff, von dem schon Shakespeare Punktpunktpunkt)?
Die Nudeln übrigens auch ganz ausgezeichnet, aber sind sie das nicht beinahe überall? Friederike wird es dort jedenfalls gefallen.

8.7.2020

Alleine im Museum, jetzt ist es möglich. Gestern war ich in der Ausstellung des Lebenswerks von Frank Walter. Ich war der einzige Besucher des Museums für Moderne Kunst an diesem Nachmittag, vielleicht sogar der erste an diesem Tag. Auf jeden Fall überraschte ich einen der Wächter, der auf seinem Stühlchen ein Schläfchen gehalten hatte. Im Halbschlaf zig er sich rasch die Maske hoch bis über die Nasenspitze, dann erst stand er auf, um mich wortlos zu grüßen. Durch die Maskenatmung fühlte ich mich bei der Begehung an die berühmte Szene aus der Odysee im Weltraum erinnert, als der Astronaut auf Gott trifft. In der Straßenbahn hege ich diese erhebenden Gefühle nicht. Es muß also an den schönen, großen, lichten Räumlichkeiten im Museum liegen. An der Gegenwart der Kunst. Wobei ich mich derzeit deutlich mehr für die Rahmungen interessiere als für das Gerahmte. Die Malereien von Frank Walter sind durchweg sehr hübsch gerahmt.

Eigentlich hatte ich mich nur nach dem Wohlergehen der Pflanzen erkundigen wollen. Kurz vor dem Lockdown war ich ja zufällig in die Szene geraten, als vor dem Zollamt, einer Nebenspielstätte des MMK, eine Lastwagenladung schnell wachsender Pflanzen abgeladen wurde, offenbar als Material für eine Installation. Man hat sie dann während des Lockdowns wieder nach Holland zurücktransportieren lassen, weil die Künstlerin aus den Vereinigten Staaten stammt und von daher gar nicht erst anreisen konnte. Noch immer nicht kann. Falls, so erzählte mir das die Empfangsdame des MMK, die dort auch für den Katalogverkauf zuständig ist und für die Postkarten, die Künstlerin aber eines Tages wieder aus den USA ausreisen dürfte, würden man in diesem Zuge auch die Pflanzen wieder ankarren lassen. Das wären dann freilich nicht mehr dieselben Pflanzen. Also nicht identisch mit denen, die vor dem Lockdown geliefert worden waren. Aber gleich aussehende. Zum Verwechseln ähnlich.

Am Römer lag ein Haufen Bücher «zu verschenken». Nahm einen Merkur mit vom Juli 1986. Ich weiß noch genau, was ich in jenem Sommer (weil ich gerade erst davon erzählt). Katharina Rutschky, Hubert Fichte. Zwischen den Seiten: Zwei Aufkleber «Atomkraft Nein Danke!» Dead stock from the eighties. Zustand: Mint / VG+

7.7.2020

Im Feuilleton der F.A.Z. stellt Thomas Thiel vor dem Hintergrund der Überlegungen in der britischen Gesetzgebung, die Geschlechtsidentitätswechsel per Sprechakt zuzulassen, die mit Sicherheit zulässige Frage, ob dann künftig auch ein Wechsel der Hautfarbe durch einen Sprechakt beantragt werden kann.

6.7.2020

Sonntagnachmittag aus dem Bilderbuch bei Peter und Tobias in Wilhelmsbad. Ein gewaltiger Grünspecht flatterte kreischend umher und ich begriff durch reine Anschauung, wozu er diese Färbung hat: Vor den bemoosten Stämmen, im sommerlich lichtdurchfluteten Laub geht er beinahe unter. Wohin mit ihm dann, wenn der Winter kommt? Der Garten ging in seinem hinteren Teil über in ein Gräsermeer, ist dessen Bucht und Gestade. Dort auch unter anderem auch die Ruine des persischen Teppichhändlers und der Schneckenberg, auf den man einen spiralig geführten Weg begeht. Oben wächst wilder Oregano in Massen und schaut jetzt wie ein Vogel auf die kleine Insel mit der Pyramide aus Tuffstein. Darin begraben liegt das Herz in einer mundgeblas’nen Vase, mit Blei verplombt. Drüben das erste Karussel in Europa. Betagt zwar, aber es dreht sich noch.

Im Garten saßen wir im Annex unserer Tage zu dieser arkadischen Landschaft. Manche Fantasien haben Bestand. Kurz vor Sonnenuntergang war den eisernen Wölkchen eine fragonardhafte Spitze aus Rosenquarz gewachsen. Und ein Regenbogen ohne Regen. Peter erzählte vom alten Apfelweinbaron, wie der nach dem Krieg den Engländern die U-Boote abgekauft hatte, um in den abgerüsteten Stahltanks fortan seinen Most zu brauen. Oder war das Tobias?

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«