Die Besessenen
Fünf Minuten dauert es, bis Shuji Ogawa seine Existenz als Marketingspezialist einer Elektronikfirma vergisst: Alles, was Shuji tun muss, um in eine bessere Welt zu gelangen, ist, eine CD der amerikanischen Metal-Band Megadeth einzulegen und sich auf den Weg zu machen in die Bar Dokken im Stadtteil Shibuya, wo Totenköpfe von der Decke baumeln und Shuji sich mit ein paar anderen Rockern über das letzte Konzert von Judas Priest unterhalten kann, während der Rest der Tokioter Jugend ein paar Straßen weiter zu französischer House-Musik tanzt, weil irgendwo zu lesen stand, das sei gerade modern.
Zehn Minuten dauert es, bis aus dem Tokioter Verwaltungsbeamten Toshia Yajima der Luftwaffen-Kommandant Hermann Göring wird: Herr Yajima kommt nach Hause, begrüßt seine Frau, legt den Aktenkoffer beiseite, geht in sein Schlafzimmer, öffnet den Kleiderschrank und zieht sich eine Uniform an: Rote Armee, chinesische Luftwaffe oder die Ausgeh-Uniform Görings, komplett mit Schaftstiefeln, Hakenkreuzbinde und Mütze. Ein Nazi ist Herr Yajima nicht, er liebt nur deren Uniformen. Hübsch, denkt Herr Yajima dann, wenn er sich im Spiegel betrachtet, sogar sein Bauch ähnelt dem Görings.
Fünfzehn Minuten dauert es, bis aus der Einzelgängerin Miyuki Naito ein Objekt der Begierde wird: Nötig sind die neuesten Mangahefte und ein Kostüm aus einem kurzen Papprock, einem Paar Blumenohren und einem Drahtgebinde, das sie sich um die Hüften legt. Wenn Miyuki etwas später dann auf einer der Mangapartys von Shinjuku auftaucht, kann sie sich sicher sein, dass sie ein Junge ansprechen wird, der vielleicht aussieht wie der Comic-Held Ultraman.
Herr Yajima, Miyuki und Shuji – die Drei kennen sich nicht, und sie werden sich wohl auch nie kennen lernen, aber trotzdem stehen sie einander näher als etwa ihren Eltern, ihren Geschwistern und höchstwahrscheinlich auch ihren Freunden. Zwar sind die Leidenschaften der Drei völlig verschieden, doch die Tatsache, dass sie überhaupt Leidenschaften haben, die sie mit aller Kraft betreiben, verbindet – sie sind vereint, weil alle Drei Otakus sind.
Was ist das, ein Otaku? Früher war der Ausdruck in der japanischen Sprache die höflichste Art, jemanden anzureden; übersetzt bedeutet er so viel wie „Sehr geehrter Herr“. Neben der Begrüßung betont das Wort aber auch den Abstand, der zwischen zwei Personen herrscht, und dieser Abstand ist entscheidend für die Bedeutung, die der Begriff heute hat: Ein Otaku ist jemand, der sich von den anderen abschottet und in einer Welt lebt, die mit dem Rest der Menschheit nur wenig zu tun hat. Ein Otaku ist ein Besessener.
Herr Yajima ist kein Nazi-Offizier, Miyuki ist keine Comicfigur und Shuji ist kein wirklicher Rocker, denn er kann weder Gitarre spielen noch weiß er, wie man ein Motorrad fährt – trotzdem aber verbringen sie jede freie Minute damit, sich in ihren kleinen Wohnungen von Tokio ein Universum zu schaffen, das jenseits von dem liegt, was andere Leute für normal halten. Otakus sind Jäger und Sammler: Sie sind ständig auf der Suche nach den Dingen, von denen sie glauben, dass sie ihrem Leben mehr Sinn geben als zehn Stunden Arbeit am Tag, Besäufnisse mit den Firmenkollegen oder ein hübsches Abendessen. Otakus sammeln Videospiele und Computerbauteile aus den siebziger Jahren; sie sammeln Horrorfilme und Waffen aus dem ersten Weltkrieg, Pornohefte mit Bildern der Sexgranate Jenna Jameson und die Kostüme aus Science-Fiction-Filmen.
Ein Unwissender könnte jetzt sagen, dass ein Otaku nichts anderes ist als ein Fan, wie es ihn in vielen Städten dieser Welt gibt. Ein extremer Fan vielleicht, aber doch immerhin nicht mehr als ein Mensch, der eine gewisse Zeit seines Lebens einem Wahn widmet, weil ihm gerade nichts Besseres einfällt, als sein Zimmer mit Postern von Popstars oder Schauspielern zu tapezieren.
Bei den Otakus von Tokio verhält es sich etwas anders. Während ein Fan von Madonna vielleicht behauptet, Madonnas Musik sei die beste Musik der Welt, größer als alles vorher Dagewesene, so wird er, selbst wenn er vielleicht sogar in Madonna verliebt sein sollte, mit großer Sicherheit nicht wissen, wie Madonnas Urgroßvater geheißen hat, oder wie oft Madonna in ihrem Leben schon umgezogen ist. All diese Fakten aber weiß ein Otaku.
Das bedeutet: Ein Manga-Otaku kennt nicht nur alle Zeichner und alle Charaktere seines Lieblingscomics, er weiß auch alles über das Leben der Zeichner – wann sie geboren sind, wo sie zur Schule gingen, ob und wie oft sie geschieden wurden und ob sie in ihrer Jugend nackte Frauen mit Zylinderhüten auf dem Kopf gezeichnet haben. Ein Spielfiguren-Otaku wie Shuziro Hamakawa weiß genau, wie viele Versionen seiner Lieblingsfigur Spawn die Herstellerfirma produziert hat, und wenn er eine neue Figur kauft, stellt er sie sofort mit einem Foto auf seine Webseite – sein „Spawn-Museum‘, wie er sagt. Ein Videospiel-Otaku wie Mine Yoshizaki ist nicht damit zufrieden, das Spiel „Legend Of Zelda‘ ein- oder zweimal zu lösen und sich als Weltenretter feiern zu lassen – er spielt es so lange durch, bis er sämtliche Details des Schlussbildes im Schlaf beschreiben kann. Und Herr Yajima reiht nicht bloß Uniform an Uniform, sondern kennt sich auch mit Daten aus. Wann starb Hitlers Vater Alois? „Am 3. Januar 1903‘, weiß Herr Yajima, der sogar ein bisschen Deutsch spricht. Wo wohnte Hitler mit seiner Mutter Klara in der Stadt Linz? „In der Humboldtstraße.‘ All diese Dinge weiß er; das, was von den Trägern dieser Uniformen angerichtet worden ist, interessiert ihn weniger.
Informationen sammeln, Daten sammeln im Daten- und Konsumparadies von Tokio über das Objekt, das der Existenz den Sinn geben soll – das ist der Weg des Otaku, und wie jeder Mensch, der nicht den Weg der Masse geht, werden auch die insgesamt 350000 Otakus, die es in Japan nach Schätzungen geben soll, von der Masse als Freaks verlacht. Otakus seien allesamt picklig und fett, heißt es, sie würden stottern und seien auch an ihrem 40. Geburtstag noch Jungfrauen. Der Ruf der Otakus ist vergleichbar mit dem Ruf, den Computerprogrammierer in Amerika haben: Nicht dumm vielleicht, aber lass dich bloß nicht mit einem von ihnen erwischen, denn seine Hässlichkeit könnte ansteckend sein.
Einige dieser Vorurteile stimmen sogar: Otakus sozialisieren sich nicht gern, selbst mit Otakus aus dem gleichen Fach reden echte Otakus nicht oft, da sie die als eine Bedrohung verstehen: Könnte ja sein, dass der andere eine dringend benötigte Figur wegkauft oder ein besserer Otaku ist, weil er mehr über die Atari-Spielkonsole von 1982 weiß oder über die Luftschlacht von Dresden.
Manchmal haben die Menschen sogar Angst vor dem Wahn der Otakus: Der japanische Staat und die Banken zum Beispiel machen sich Sorgen wegen der Computer-Otakus, weil die ihr Geld damit verdienen, Sicherheitscodes zu knacken, um im Auftrag der Firmen und Parteien an die Namen reicher Spender und Investoren heranzukommen.
Das Verstörendste an den Otakus aber ist der Bruch mit dem alten System Japans. Denn während die Tradition früher jedem Menschen abverlangte, zumindest im Beruf alles für das Kollektiv zu tun und alles Persönliche zu unterdrücken, beschreiten die Otakus den Weg des Radikalindividualismus. Denn was könnte für einen Bankangestellten weniger konformistisch sein, als sein Zimmer mit dreißig verschiedenen Figuren des Film-Serienkillers Freddy Krueger vollzustellen und sich am Wochenende einen Computer zu bauen, der schneller ist als der Bankrechner?
Trotzdem muss sich Japan keine Sorgen machen, denn den meisten Otakus ist die Trennung des öffentlichen Lebens vom privaten noch ganz bewusst: Sie gehen jeden Morgen zur Arbeit, das Geld zum Ausbau der Sammlungen und des Otaku-Reichs muss ja irgendwo herkommen. Sie sind ein bisschen wie Superhelden, die ihre Identität geheimhalten, damit ihr Tun ungestört bleibt.
Manchmal allerdings kommt es vor, dass bei einem Otaku alle Existenzen, die öffentlichen und die privaten, vollkommen durcheinander gehen. Der 17. September 1997 war so ein Tag, als Herr Yajima seine Frau Shio heiratete. Etwa hundert Freunde und Familienmitglieder waren anwesend, und Herr Yajima trug zur Trauung die Uniform Hermann Görings. „Meine Frau“, sagt Herr Yajima und lacht, „hatte das Gefühl, einen wirklich wichtigen Mann geheiratet zu haben“.