The Life Ghanatic I
Oktober
03.10.
Accra riecht nach Benzin, getrocknetem Fisch und Feuer, und zwar abwechselnd Holz-, Plastik- und Holzkohle-.
Es gibt leider noch kein einfaches bildgebendes Verfahren, mit dem man die Vorstellung, die man von einem unbekannten Ort hat, konservieren und später mit dem seinem wirklichen Bild vergleichen könnte, wenn man erstmal eines gewonnen hat. Stattdessen scheint die Vorstellung unwiederbringlich unter den Eindrücken zu verschwinden. Das ist ein bisschen schade, aber meistens würden die beiden ohnehin kaum zur Deckung kommen.
Ein kurzer Spaziergang durchs Viertel reicht aus, um zu verstehen, wer hier die Geschicke lenkt: Der Schönheitssalon heißt God’s Gift Beauty, der Kiosk The Blood of Jesus, die Grillbude By His Grace Kitchen, der Catering-Service The Storm is Over (bisheriger Gewinner in der Kategorie Poesie). Ein Plakat wirbt für einen Vortrag zum Lukas-Evangelium im Endtimes Apostles Fellowship unter der Leitung von Reverend Jesse Djan, Titel: Retreat! Retreat!! Retreat!!! – Your Story will Change. Selten einen so unerschrockenen Einsatz von Ausrufezeichen gesehen!!!
Tode von Anwohnern werden mit Plakaten angezeigt. »What A Shock« ist die Traueranzeige für Nana Yaw Affum Aboagye, 28, betitelt. Ein Foto zeigt ihn, den sie »Pages« riefen, in traditionellen Smok über Hemd und Krawatte, dazu Jeans und geringelte Socken in Slippers. Auf einem kleineren Bild trägt er Anzug. Die Feierlichkeiten dauern das ganze Wochenende, das tun sie immer: Totenwache am Freitag, Trauerfeier mit offenem Sarg im Haus der Eltern am Samstagmorgen, anschließend die Beerdigung auf dem Friedhof, Gottesdienst am Sonntag. »Alle Freunde und Sympathisanten sind herzlich eingeladen«. Pages’ neun Geschwister tragen so schöne Namen wie Comfort, Benedicta und Philomina. Woran er gestorben ist, erfährt man nicht.
Ursula erzählt, dass sie vor 40 Jahren das erste Mal von der Schweiz aus nach Ghana reiste, sie war »mit Afrikanern verheiratet«, so formuliert sie das. Seit acht Jahren betreibt sie das Gästehaus in der Teshie Rasta Road, in dem ich vorerst wohne. In ihrem Nacken trägt sie ein Tattoo, die Umrisse des Kontinents, und stets ein kleines Frotteehandtuch bei sich, mit dem sie sich den Schweiß vom Gesicht tupft. Sie lebt hier mit Charlene, deren Rolle sich irgendwo zwischen Ziehtochter und Hausangestellter bewegt, und deren zwei Töchtern, Naomi und Esther, beide unwirklich stille und wohlerzogene Kinder mit praktischen kurzen Haaren (später werde ich lernen, dass alle Schulkinder geschorene Haaren tragen müssen, wohl aus hygienischen Gründen). Charlene ist Ivorin. Damit die Kinder es nicht verlernen, ist die Haussprache Französisch. Charlene macht Frühstück für die Gäste, fegt den Hof, staubt das Auto ab, putzt die Zimmer, kocht für die vier Hunde und für Ursula, wenn die aus dem Beach Club kommt. Wenn die in ihrem Auto vor dem Tor hupt, geht Charlene gemächlichen Schrittes hin, um ihr zu öffnen.
Den Tag der deutschen Einheit feiere ich also in Westafrika. Was ja auf seine Weise auch sehr stimmig ist. Ohne das alles säße ich heute in Dresden, in Leipzig, Bitterfeld oder Heidenau, schlechtestenfalls. Ich würde wahrscheinlich… Ach, das ist dann doch ein bisschen zu wild, um es sich auszumalen. Dirk, der sich in der kurzen Zeit, die wir uns kennen, als der höflichste Mensch der Welt erwiesen hat, gratuliert mir zum »schönsten Feiertag (na ja)«.
Nachts strecken die Hunde alle paar Stunden ihre Schnauzen in die unbewegte Luft und heulen im Chor, als wären sie verwirrte Muezzine. Tagsüber schleifen sie mithilfe der Vorderpfoten ihre Hinterteile über den glatten Mosaikboden des Hofs, gegen den Juckreiz der Läuse. Sie riechen nach, tja, nassem Hund. Ich weiß sofort wieder, warum ich sie – also alle von ihnen, die Hundeschaft in ihrer Gesamtheit – nicht leiden kann. Wenn einer aufgeschreckt wird, von einem Huhn oder einer der freilaufenden Babyziegen, denen die getrocknete Nabelschnur noch am Bauch herumdengelt, und bellend zum orangefarbenen Tour rennt, trotten die drei anderen bellend hinterher, wie im Reflex. Noch bevor sie angekommen sind, scheinen sie vergessen zu haben, was sie vorhatten, und lassen sich schlaff fallen. Der Hof ist die Sphäre der Hunde, drinnen regieren die Katzen.
04.10.
Event-Mittwoch: Kurz vor 6 Uhr werde ich vom Geräusch des Regens auf dem Aluvordach geweckt. Es plätschert für eine halbe Stunde laut, dann versiegt der Regen so plötzlich, wie er gekommen ist. Zurück bleibt ein Backofenwind, der für den Rest des Tages an den Palmen zerrt und für eine schöne Geräuschkulisse sorgt. Am Nachmittag dann fällt der Strom aus. Gerade als ich mich an meinem Schreibtisch in Rage geschrieben habe, hört der Ventilator auf zu rotieren. Wasser gibt es komischerweise auch keines mehr. Die Hitze und der Hunger treiben mich auf die Straße.
Drei Verkehrsmittel gibt es in die Stadt: Taxi, Gruppentaxi oder Buschtaxi, das Trotro. Fahrrad fahren nur wenige Mutige, Frauen allerdings nie. Als mich der Trotro-Schaffner den Weg zur Hauptstraße hinaufkommen sieht, rührt er mit auf den Boden weisenden Fingern in der Luft herum – das Symbol für Circle, den Kwame-Nkrumah-Kreisverkehr. Ich steige in den mit einem Dutzend Passagieren schon fast vollen Bus, bleibe am aufgeplatzten Kunstlederpolster kleben, zahle dem Schaffner das Fahrgeld und frage mich, wie es sein kann, dass er unter seiner Wollmütze nicht schwitzt bei gefühlten 34 Grad. Genau genommen scheine ich die einzige zu sein, der heiß ist. Der Mann neben mir, der seinen kleinen Sohn und eine Tasche mit einem an Louis Vuitton erinnernden Muster auf dem Schoß sitzen hat, trägt ein beiges Hemd, eine lange braune Hose, Schuhe und Socken. Kein Schweiß, nirgends. Es riecht leicht nach Deo. Die Windschutzscheibe ist von feinen Rissen durchzogen, es sieht ein bisschen so aus, als würde sie von den mit Saugnäpfen versehenen Wimpeln und Puscheln zusammengehalten und von den Fußballclub-Stickern, die an ihr kleben. Der Rückspiegel ist nach oben hin weggedreht wie die Augen eines entnervten Teenagers.
6.10.
Den halben Morgen damit zugebracht, über Mormonen zu recherchieren. Leider ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Irgendwo habe ich mal gelesen, Mormonen äßen nach dem Frühstück nur eine weitere Mahlzeit am Tag. Scheint aber eine Fehlinformation gewesen zu sein. Dabei war ich so froh darüber, nicht der einzige Mensch zu sein, für den das die genau richtig ist: lieber selten essen, dafür dann viel, und das am besten gegen 10 und dann wieder 16 Uhr. Also in meinem Fall nicht wegen Gott, sondern wegen Hunger. Wenn das Sozialleben aus Mittag- und Abendessenverabredungen besteht, kann das mitunter ein bisschen kompliziert sein, wenn man immer dann essen will, wenn alle anderen gerade keinen Hunger haben und andersherum.
Für mein erstes Mormonenessen war ich am Anfang der Woche ein paar hundert Meter über die rote Buckelpiste gelaufen. Dort grillt eine sehr gut gelaunte Frau jeden Wochentag Schwein oder Tilapia über Holzkohle. Charlene hatte darauf bestanden, mich zu begleiten und das Englisch der Grillfrau ins Französische zu übersetzen, weil wir nun mal Französisch sprechen. Meine Antworten (»Fisch«, »15 Cedis sind ein guter Preis«) übersetzte sie wieder zurück ins Englische. Na gut. Der Fisch war dann sehr köstlich.
Ich fahre nach Osu und laufe die Oxford Street hinunter, vorbei an der Filiale von Kentucky Fried Chicken. Die New York Times hat gerade einen langen Artikel über die Beliebtheit von Fast Food als Statussymbol der wachsenden ghanaischen Mittelschicht gebracht. Darin wird KFC als Hauptschuldiger am völlig überraschenden Tod übergewichtiger Damen im besten Alter identifiziert, die beim Wäscheaufhängen Herzattacken erleiden. Der Satz »Like many of his countrymen, the round-faced president himself is overweight« hat hier wiederum für Aufregung gesorgt. Nana Akufo-Addo als rundgesichtig zu bezeichnen, sei respektlos, erniedrigend und gegen die journalistische Ethik. Ich finde die Ghanaer gar nicht so dick.
In einer Seitenstraße finde ich die Chop Bar, die ich gesucht habe. Ich bestelle ein Bier und das, was die Kellnerin »gebratenen Reis mit Sauce« nennt. Die Sauce gibt es in den Varianten Schwein, Huhn und Rind. Das Essen kommt auf zwei Tellern: einer mit Reis, der andere mit Streifen von Rindfleisch, grüner Paprika und Karotten in brauner Sauce. Sehr scharf.
Zu den vielen Dingen, die Mormonen nicht dürfen, gehört übrigens auch rauchen. In Ghana gilt Rauchen als prositutes‘ business oder bestenfalls als etwas, das Weiße tun. Tatsächlich hatte der einzige Mensch, den ich hier bisher an einer Zigarette saugen sah, erstaunliche Ähnlichkeit mit Till Lindemann. Während ich esse, beobachte ich die Männer vom Juice Jerk Center auf der gegenüber liegenden Straßenseite, die ihren Stand für den Abend aufbauen. Der eine fegt, der andere wuchtet die riesigen lilafarbenen Yamswurzeln aus dem Kofferraum eines Autos. Das Logo des Juice Jerk Center ist ein lachendes Schwein mit Hut und Sonnenbrille. Zum Grillfleisch gibt es Yams-Pommes und Kartoffeln.
Nach dem Essen laufe ich die Fourth Circular Road hinauf, an der mit Elektrozaun gesicherten Gated Community Crystal Homes im Dunstkreis der Amerikanischen Botschaft vorbei, dem – muss man leider so sagen – hässlichsten und feindseligsten Gebäude der ganzen Stadt. Die Flagge flattert auf Halbmast. Auf der Terrasse des Goethe-Instituts wird ein Film von King Ampaw gezeigt, No Time to Die, dazu reichen sie Popcorn. Der Junge im weißen Hemd, der vor mir Platz nimmt, dreht sich um, sagt: »Guten Abend« und wendet sich wieder der Leinwand zu. King Ampaw, ein großer hagerer Mann mit Gehstock, hat Ende der 1960er in München studiert und erzählt von seinem Freund Wim Wenders.
Im Film wird dann nur ein einziges Mal gegessen, und zwar eine ghanaische Köstlichkeit: Rohrratte. Das Nagetier, es heißt hier grascutter, ist größer als eine große Katze, hat gelbe Schneidezähne und borstiges Fell. Soll aber wunderbar schmecken.
7.10.
Auf der Karte der Strandbar Princess One Love steht Rohrratten-Suppe. Die sei aber aus, sagt die Bedienung. Dann eben Fufu mit Ziegenfleisch. Anderthalb Stunden später bringt sie eine rosafarbene, mit Wasser gefüllte Plastikschüssel, dazu Flüssigseife. Die linke Hand ist dazu da, die rechte zu waschen, sagt man. Für viel mehr ist sie nicht gut. Wenn es irgendwie zu vermeiden ist, wird sie nicht benutzt. Ich kann halt leider gar nichts mit rechts. Kurz nach dem Handwaschbecken trifft das Fufu ein. In Größe, Konsistenz und Geschmack ähnelt es rohem, sehr feinem Kartoffelkloßteig. In einer anderen Schüssel schwimmen zwei große Stücke Ziege in einer scharfen braunen Suppe. Fufu greifen, ein Stück abreißen, einen Ball formen und in die Suppe tunken klappt mit der rechten Hand. Wenn ich allerdings versuche, die Suppe zu löffeln, sieht es aus, als stimme was nicht mit mir.
Am Morgen hat der stundenlange Starkregen dafür gesorgt, dass Esther und Naomi nicht zur Schule mussten. Jetzt füllt sich der Strand. Die Pferde und ihre Vermieter in dem sind schon da (sie heben Reitwillige wie Kinder auf die Tiere, ein Arm unter den Achseln, den anderen in den Kniekehlen), der Shisha-Mann auch, dann kommen die Pärchen, dann die Jeunesse dorée. Einer, der mit bunt bestickten Gucci-Blouson, enger schwarzer Jeans und schwarzer Mütze aussieht wie aus einem A$AP-Rocky-Video, lässt sich von seinen Freunden fotografieren, wie er mit ausgebreiteten Armen bis zu den Knöcheln im warmen Wasser steht.
8.10.
In Kenia haben sie gerade Plastiktüten verboten, denke ich, als ich an der Kasse des Palace Hypermarket stehe und zuschaue, wie die Einpackhilfen die Einkäufe in Dutzende handliche gelbe Tüten räumen, auch die zuvor von den Abwiegehilfen in stabile Plastiktüten eingeschnürten einzelnen Äpfel, Limonen und Ananas, die Sixpacks Volvic und die Schokoriegel. Wenn ich einen Zwangsgedanken habe im Leben, dann diesen, wegen sowas: We’re fucked.
Außer ein paar auf Arabisch diskutierenden Männer sitzt im Palace-Café noch ein Pärchen. Die beiden sehen aus wie Mitte 20, ihr Baby ist vielleicht ein Jahr alt. Alle drei tragen von Kopf bis Fuß weiß: ihr Kleid, ihre Sandalen, ihre Handtasche, sein T-Shirt, seine Hose, seine Sneaker, der Body des Babys: alles weiß. Die beiden teilen sich einen Milchshake und ein massives Stück Kuchen, leuchtend roter Teig mit weißer Buttercreme, sie schauen abwechselnd einander und ihr vor guter Laune quietschendes Kind an. Ich muss mich zwingen, nicht zu starren.
Zurück im Auto zeichnet Ursula (die nur ich so nenne, für alle anderen ist sie Mami) mir ihre eigene Landkarte der Stadt. Sie erzählt von der Explosion, die letztes Jahr die Tankstelle sprengte (»Schau, alles ausgebrannt.«), und wie einmal ein Cargo-Flugzeug über die Landbahn hinausschoß, die Mauer durchbrach und auf die Schnellstraße rutschte. (Und als hätte sie es geahnt, würde noch am selben Abend die nächste Tankstelle in die Luft gehen, an der, kein Witz, Atomic Junction in Madina im Nordosten der Stadt.)
Neulich, in Berlin, als Bianca zu Besuch war und wir das erste Käsefondue des Jahres aßen, sprachen wir über diesen sehr langen Artikel, der im Sommer im New York Magazine erschienen war, ihr über Tage Albträume bereitet hatte und den ich nun endlich zu Ende lese. In The Unhabitable Earth rechnet David Wallace-Wells die Folgen von zwei bis sieben Grad Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts hoch. Sein erster Satz ist: »It is, I promise, worse than you think.« Bei der Stelle, an der er beschreibt, was dauerhafte 40,5 Grad bei sich ausbreitenden tropischen 90 Prozent Luftfeuchtigkeit bewirken (»Within a few hours, a human body would be cooked to death from both inside and out«), muss ich an den sinister gestimmten Halbwüchsigen denken, der mal in der schönen Rubrik Kinder fragen, Experten antworten der Zeitschrift Nido wissen wollte: »Wenn jemand in der Sauna stirbt, wird er dann gekocht?«. Die Antwort lautete: Ja.
Wallace-Wells lässt in seinem Artikel, dem meistgelesenen in der Geschichte des Magazins, noch eine ganze Reihe so knochentrockener Feststellungen niederregnen:
»At 11 or 12 degrees of warming, more than half the world’s population, as distributed today, would die of direct heat.«
»Every round-trip ticket on flights from New York to London, keep in mind, costs the Arctic three more square meters of ice.«
»For every half-degree of warming, societies will see between a 10 and 20 percent increase in the likelihood of armed conflict.«
»You don’t worry much about dengue or malaria if you are living in Maine or France. But as the tropics creep northward and mosquitos migrate with them, you will.«
Plastiktüten. Haha.
10.10.
Es beginnt in der Dämmerung, um kurz vor 5 Uhr, mit dem Krähen der Hähne, in das sich der erst ab- und wieder aufsteigende Dreiklang der Vögel mischt. Dazu das beruhigende Gurren der Tauben. Sie sind weniger als halb so groß wie die europäischen, dafür von rötlicher Färbung. Eine Frau singt ein Lied, das sich wie ein lieblicher Klagegesang anhört, der Nachbar zur Rechten würgt etwas aus seinem Hals hervor wie eine Katze ein Fellknäuel. Dann ein Spieluhren-Gesäusel vom Band wie das des fahrerlosen Eiscremewagens bei Stephen King.
11.10.
Bei Chez Clarisse sitzen ein paar sogenannte Twens – zwei Frauen und drei Männer – unter der dunkelgrünen Markise, nagen an Hühnchenschenkeln und diskutieren Fragen des Datens, der Beziehungsführung und des Schwangerschaftsabbruchs. Drei Afro-Amerikanerinnen, erkennbar an ihrem Englisch und der Art, wie sie den Raum einnehmen, betreten den Hof des Restaurants. Die Tischgesellschaft verstummt und mustert die Frauen unverhohlen, um dann leiser in einer anderen afrikanischen Sprache über sie zu reden. Die Amerikanerinnen, ob sie das bemerkt haben oder nicht, entscheiden sich, woanders zu essen und treten in die Frühabendsonne.
Am Straßenrand werben Plakate für Kräutermittel alle denkbaren Probleme den Penis betreffend. Und zwar – schöne Grüße an das Kreativteam, das die deprimiernden, stumpfen europäischen Zigarettenwarnbildchen ersinnt – nicht mit in Embryonalhaltung verzweifelt auf leeren Betten zusammengerollten Männern, sondern mit dem an den Servicegeist appellierenden Argument: »Make her feel it better«.
13.10.
Was überall gleich ist:
Der warme, saubere Geruch eines Schreibwarengeschäfts
Der leichte Grusel, den die eckensteherischen Zeugen Jehovas verströmen
Despacito
14.10.
Um 5.20 Uhr vom inbrünstigen Morgengesang der Catholic Jubilee Boys School geweckt worden, fast geheult.
Am Morgen zuvor hatte ich am Markt einer der klapprigen Fords bestiegen und die halbe Stunde, bis er voll war und abfuhr, den umherlaufenden Händlern zugeschaut: dem mit den Parfüm-Flakons, dem mit den Fake-Fur-Badelatschen, dem mit den Schmerztabletten, die Ibuglo heißen; dem mit den Taschenbüchern von Donald Trump und Ben Carson; dem, der eine zugeknöpfte und umgedrehte Jeansjacke zur Tasche gemacht hat, aus der heraus er Jeansjacken verkauft; der Frau, die zwei Dutzend rosafarbene Styroporbehälter mit Mittagessen auf dem Kopf trägt; der Frau, die eine Pyramide aus Eiern mit Salzkruste auf dem Kopf trägt. Kauft man eins, pellt sie es und gibt scharfe Soße und ein wenig kleingeschnittene Zwiebel darauf. Dass Eier sich hervorragend als Wegzehrung eignen, weiß man ja aus den Zügen der Deutschen Bahn. Einer mit einem antik aussehenden Buch hält die rechte Hand eines zweiten Mannes. Der erste betet eine Zeile hinuntern, der zweite spricht sie mit geschlossenen Augen leise lächelnd nach.
Hat man den urban sprawl Accras einmal hinter sich gelassen, ist es vor allem grün: Bananen, Bambus, Palmen. Dazwischen Dörfer, darin: Penecostal Church, Seven Day Adventists, New Apostolic Church, Muslim Mosque, Mega Church, Presbyterian Church, Methodist Church, Anglican Church. Der Mann neben mir auf der hintersten Bank hat abwechselnd mit seinen beiden Handys (und auf einem davon whatsappend mit seiner Geliebten, Irene) zu tun und mit einem Stapel Geschäftsbücher, auf deren oberen Schnitt er mit blauem Marker NIXON schreibt. Das Radio spielt gefällige Uptempo-Nummern, ich verstehe nur »Jesus«, »Lord« und »Africa«. Ist mir lieber als Reggae, der hier auch viel läuft. Ingo wollte immer nach Jamaica, aber ich konnte nicht, wegen Reggae.
Cape Coast war mal Hauptstadt und steht voller von der Salzluft angefressener viktorianischer Wohnhäuser mit fleckigen pastellfarbenen Fassaden. Einer der Steinlöwen vor dem Kumasi House ist umgekippt. Im Mighty Victory Hotel mit seinen blassgelb und altrosa lackierten Wänden, dem Neonlicht und den eiernden Deckenventilatoren muss es in den Siebzigern exakt so ausgesehen haben wie heute. Bis auf das staubige Office-97-Handbuch unter dem Fernseher in der Lobby, auf dem außer einem Lokalsender nichts läuft. Ein älteres Paar verlässt sein Zimmer, grüßt sehr freundlich. Sie trägt ein enges buntes Kleid, er ein flatterndes schwarzes Stehkragenhemd, eine Hose aus demselben Stoff, auf dem Kopf eine Samt-Kufi, in die kleine Spiegel eingenäht sind. In der Hand einen massiven geschnitzten Stab aus Ebenholz.
Vom Hotelbesitzer erfahre ich, dass das, was ich für eine ausgelassene Feier mit lautem Gesang gehalten habe, der Abend-Gottesdienst ist.
16.10.
Den halben Tag mit Naomi Uno gespielt, Memory und Scrabble. Abends schauen wir ihren Lieblingsfilm, eine aktualisierte Version von Bodyguard. Als ich dann einen aussuchen soll, stelle ich fest, dass meine beiden Lieblingsfilme eher schwer vermittelbar sind. Badlands: zu gewalttätig. Paul und Paula: zu fremd. Vor gut einem Jahr hatte ich F. Paul und Paula gezeigt und damals noch einmal ganz anders gesehen, durch seine Augen, die in dem Film, den ich so liebe, wiederum mich sahen und die Welt, in der ich aufwuchs.
Wir schauen dann Pretty in Pink und ich versuche mich zu erinnern, wie ich als Zwölf-, fast Dreizehnjährige war. Was ich noch genau weiß, ist, dass ich das, was die Erwachsenen über die Pubertät erzählten, für eine fiese Verleumdungskampagne gegenüber Jugendlichen hielt. Da war doch nichts. Aber ich fand ja auch, dass dieses knallsüße Vanille-Deo, mit dem wir uns einsprühten, gut roch.
Es war die Zeit des Spiels, das wir Wegdrücken nannten. Der Werken-Raum im Keller der Schule war unübersichtlich und der Lehrer beschäftigt genug, dass drei Mädchen wir für eine Weile unbeobachtet in irgendeiner Ecke verschwinden konnten. Es brauchte drei: eine, die erst ein paar sehr tiefe Atemzüge nahn, sich dann aufrecht mit dem Rücken an eine Wand stellte und die Augen schloss. Eine andere, die der ersten mit ineinander verschränkten Händen entschieden auf den Brustkorb drückte, und diese in eine kitzelnde Ohnmacht fiel. Damit die Ohnmächtige eben nicht fiel, sondern gestützt werden konnte, sollte sie wegrutschen, brauchte es die Dritte. Das Ganze dauerte immer nur ein paar Sekunden, es war immer herrlich. Legal Highs.
Ich wüsste gern, woher das Spiel damals kam. Nicht aus dem Internet, soviel ist sicher. Aus einem Buch doch aber auch nicht. Als ich es einmal gegenüber Trevor erwähnte, sagte er, in Kanada hätten sie es damals auch gespielt. Bei ihnen hieß es The Choking Game. Seitdem stelle ich mir vor, dass es sich unter Dreizehnjährigen weiterverbreitete wie ein geflüstertes Wort bei Stille Post.
17.10.
Was überall gleich ist:
Beschwerden über Benzinpreise (auch von wohlhabenden Expats in einem Ölland wie Ghana, wo der Liter umgerechnet keine 70 Cent kostet)
Beschwerden von Expats über Einheimische (»Der Ghanaer an sich ist rassistisch«, sagt U. Dass das eine rassistische Aussage ist, bleibt von ihr selbst unbemerkt.)
Beyoncé
***
Während ein Pfau ja schreit wie ein Frau, die man an ein Bahngleis gekettet hat, klingen Ziegen einfach nur wie Menschen, die sich über Ziegen lustig machen.
***
Marcel Odenbach und Carsten Höller erzählten mal, dass es in ihrem Cliffhanger-Betonhaus in Biriwa unmöglich sei, Bücher aufzubewahren, weil der Schimmel innerhalb kürzester Zeit alles befiele. Meinen Büchern geht es hervorragend, aber alle zwei Tage vergammelt mir ein Brot. Auch schlimm.
19.10.
Kurz nach meinem Besuch beim Fantasy-Sargbauer in Teshie, er hieß Reginald und lächelte die ganze Zeit, entweder weil er mich und meine ganzen Fragen (»Welche Gestalt hatte der komplizierteste Sarg, den Sie je gebaut haben?« – »Eine Schlange, für die queen mother eines Stammes«. »Können Sie Särge in jeder Form herstellen?« – »In jeder Form« ) wunderlich fand oder aus Schüchternheit, gerate ich unversehens mitten in einen Trauergesellschaft. Mehr als hundert Menschen in traditionellen Kleidern, alle weiß mit feinen schwarzen Mustern, die Frauen mit weißem Kopfputz, laufen einem von sechs Männern eiernd und in erstaunlichem Tempo quer über die Straße getragenen quaderförmigen Sarg hinterher. Vorne singen und trommeln sie, einer gießt aus einer Flasche kleine Mengen Schnapps auf die Straße (für die Ahnen), die meisten Teilnehmer am Schwanzende der Prozession sind recht ausgelassener Stimmung und unterhalten sich im Gehen miteinander, während sie mit den Augen dem Sarg folgen. Nur zwei Frau weinen, schütteln ihre Körper in Verzweiflung und schlagen sich Taschentücher vors Gesicht – mutmaßlich die allernächsten Angehörigen. Es ist früher Nachmittag, aber der sonst unerbittliche Verkehr auf der La Road steht kurz still. Für einen Moment hupt mal niemand, dabei hupt sonst immer wer.
21.10.
Der Ventilator verteilt den Geruch von verbranntem Plastik im Zimmer. Irgendwo glimmt immer ein Feuer, nur im besten Fall brennt Papier. Auf dem unbefestigten, buckligen Weg entlang Richtung Hauptstraße, vorbei an der Schule. Sie heißt Royal Heritage, da unterscheidet sich Accra durch nichts von, sagen wir, New York: Schulnamen sind aspirational: Little Angels Academy, Model Leaders School, Obama College. Nach fast drei Wochen haben die Schulkinder aufgehört, mir »Obruni, obruni!« hinterherzurufen. Sehr kleine Kinder bringt mein Anblick manchmal zum Weinen. Ich sehe halt aus wie ein Geist.
Aus der Fahrradwerkstatt mit dem verrosteten, sorgfältig angeketteten Haufen Rahmen dröhnt I Like To Move It, was mir sofort sehr gute Laune macht. Im Käfig vor dem Gemischtwarenlädchen hockt jeden Tag eine andere Anzahl von weißen Hühnchen, heute sind es drei, am Abend werden es immer noch drei sein. Trotro anhalten, einsteigen, vorbei an dem Laden namens Keks; an dem Platz, der Area Mama K heißt und auf dem am Wochenende auf Bänken unter palmwedelgedeckten Pavillons Palmwein mit Guiness serviert wird. Unter einem bunt bemalten und mit Bush Taxi Union beschriebenen Holzdach liegen die Taxifahrer und warten auf Kundschaft. Kurz vor der Brücke, die über die Lagune führt, kündigt ein Riesenplakat immer noch den African Business & Kingdom Leadership Summit im September an. Auf einem Streifen zwischen Straße und Meer steht eine 17-stöckige Bauruine, Teil dessen, was mal die Labadi Beach Towers werden sollten, eine Wohnanlage mit Penthouses und Concierge. Ein paar Wohnungen waren angeblich schon verkauft. Ich glaube, das wird nichts mehr.
An der Ampel verkaufen Frauen aus den Trögen auf ihren Köpfen heraus die hiesige Standard-Darreichungsform von Wasser: chemisch gereinigt, in blau und rot bedruckten Halbliterplastiktüten für umgerechnet vier Cent das Stück. Die kompakte Verpackung hat den Vorteil, dass man sie einhändig öffnen und trinken kann, indem man eine Ecke mit den Zähnen abreißt und den Inhalt aussaugt. Praktisch beim Auto- oder Fahrradfahren oder, denke ich immer, für Janne, die, seit der kleine Vampir auf der Welt ist, auch nur noch höchstens eine Hand frei hat. Vielleicht bringe ich ihr eine 30er-Packung mit. Meine Forschungen haben ergeben, dass das aspirational benannte Voltic und die Sorte Cool Pac besser schmecken als das papierne Ice Drop. Ice Beck mit dem Delphin-Logo geht aber auch.
22.10.
- Hallo
- Hallo, sage ich und schaue wieder auf mein Handy. Dann wie immer: Geht gut, danke. Deutschland. Dann das beliebte Städte-Ratespiel: Meist fragen sie: Stuttgart? München? Hamburg? Bonn, das wird Joachim freuen zu hören, wird auch gern genommen. Berlin nie.
- Frankfurt?, fragt er.
- Berlin, sage ich und schaue wieder auf mein Handy. Er erzählt dann etwas unvermittelt, dass er gerade aus Ruanda käme und dass sein Vater vor vier Tagen gestorben sei. Ich kucke ihn ein paar Sekunden lang verwirrt an, bevor mir einfällt:
- Das tut mir leid. Er nickt, so als wäre er zufrieden mit der Antwort. Ob er sich zu mir an den Tisch setzen dürfe.
- Hm, ich würde hier gern ein paar Mails beantworten.
- Ich kann auch mit dir reden, während du Mails beantwortest.
- Ich glaube, du sitzt ganz gut da.
- Die Sache ist die: Mein Vater hat mir eine große Summe Geld vererbt und ich will es anlegen, in Deutschland. Er spricht undeutlich. Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil es so viele abstruse Informationen auf einmal sind. Ich suche jemanden, mit dem ich in dieser Sache zusammenarbeiten kann.
- Danke, aber ich bin an dieser Art Geschäft nicht interessiert. Schon nicht schlecht: Frankfurt verweist in Richtung Geld, Ruanda auf unsichere Verhältnisse, die man ändern muss, der Vater bringt ein vertrauenswürdiges Element hinein. Er versucht es noch einmal, wieder murmelnd, mit den gleichen Stichworten: Geld, Investment, Deutschland. Als ich erneut ablehne, steht er auf und sagt leichthin:
- Okay, man sieht sich!
- Cool, bye!
Analog-Scam. Viel unterhaltsamer als so eine E-Mail im Posteingang.
23.10.
Der lustige Haufen fällt mir auf, weil einer von ihnen Dave Eggers‘ Porträt von Chimamanda Ngozi Adichie aus dem aktuellen T Magazine liest. Er ist es auch, der mich an ihren Tisch auf der Terrasse einlädt. Eghosa Imasuen hat in Lagos jahrelang als Arzt gearbeitet, Sabata-mpho Mokae lehrt an einer südafrikanischen Universität Kreatives Schreiben und Niq Mhlongo schaut im Auftrag desselben Staates in Kapstadt vier Mal wöchentlich Filme und bewertet sie hinsichtlich ihrer Altersfreigabe. Bei Pornos, erzählt er, gibt er in Absprache mit seinen Kolleginnen an, welche Körperöffnungen penetriert werden und ob damit zum Beispiel eine Herabwürdigung von Frauen vorliegt.
Zum Literaturfestival wurden die drei aber als die Schriftsteller eingeladen, die sie auch sind. Nachdem geklärt ist, warum in Nigeria keine Raubüberfälle mehr stattfinden, sondern man sich auf Kidnappings verlegt hat (so gut wie alles wird mittlerweile per Kreditkarte bezahlt, Bargeldverkehr gibt es praktisch nicht mehr, deswegen wird der Kopf der Familie zum Geldabheben geschickt, während die Entführer mit den anderen Familienmitgliedern im Haus warten) und die Japaner Südafrikas neuerdings genauso als Schwarze gelten wollen, wie die alteingesessenen Chinesen es schon seit Jahren tun (um von den Gesetzen für die Apartheitssopfer zu profitieren), wird diskutiert, ob sich über kurz oder lang Pidgin als die dominierende Sprache in Afrika durchsetzen wird. Nicht ganz unwahrscheinlich. Pidgin hat fast keine Regeln, ist dafür ultraknapp und noch wendiger als das amerikanische Englisch: bellefull ersetzt den Satz My belly is full, das relativ neue dumsor meint das ständige On-off der Stromversorgung.
Während seiner Lesung sagt Eghosa: »Vor Chimamanda gab es nur die Bücher, die wir selbst in der Schule lasen und die nichts mit uns zu tun hatten. Sie hat uns die Erlaubnis gegeben zu schreiben«.
25.10.
Ich liebe den Laden schräg gegenüber meines Zimmers, aus ziemlich durchsichtigen Motiven: Er hat eine offene Front, drei lindgrüne Wände und ein auf voller Breite der Ladenrückseite eingebautes Holzregal in derselben Farbe. Darin lagern Eiern in quadratischen, flachen Eierkartons, wie sie früher zum Dämmen von Bandproberäumen benutzt wurden. Viele Dutzend Eier, braun und weiß, und nichts weiter. Dazwischen Luft. Es handelt sich um einen angenehm übersichtlichen Laden. Ein Eierfachgeschäft. Vor dem Regal hockt die Ladenbesitzerin auf einem Schemel und sortiert neue Eier in Kartons, die sie dann ins Regal stellt. Das zweite Produkt, das sie im Angebot hat, sind Waxprints. Sie hängen auf der gefliesten Terrasse auf einer Wäscheleine, über einem bis auf ein Bündel Bananen leeren Warentisch. Als ich meine Hand über die gefalteten Bahnen gleiten lasse, fragt sie von drinnen: »Soll ich herauskommen?« Der Ansatz gefällt mir gut. Es ist sonst häufig Brauch, sehr nah beim Kunden zu bleiben – um nicht den hübsch bildlichen Ausdruck breathing down someone’s neck zu benutzen. »Ja, irgendwann schon. Aber ich schaue erst mal.«
Ich schaue erst mal, sie kommt irgendwann heraus, nimmt Stoffe von der Leine, faltet sie auf dem Tisch auf. Ruft etwas in Richtung des Hofs hinter dem Laden. Eine jüngere Frau erscheint, bringt mehr Stoffe. Die Ladenbesitzerin erwähnt, dass sie Näharbeiten in Auftrag geben kann, sie arbeite mit einer guten Schneiderin zusammen. Wie durch Zufall biegt die Gemeinte um die Ecke. » Zufall, na ja. Sie sollte schon um 12 Uhr hier sein«, sagt die Eierfrau. »Jetzt ist es vier.« Aus Richtung des Hofs materialisieren sich ein paar Beispielhemden. Als es um Größen geht und ich die Dimensionen des zukünftigen Hemdenträgers beschreibe, ruft sie wieder etwas in den Hof. Ein junger Mann erscheint, praktischerweise mit nacktem Oberkörper, als hätte er sich schon mal freigemacht. Ich schaue ihn an, kneife die Augen zusammen, sage: »Etwas größer und breiter«. Entscheide mich für je sechs Yards von einem geometrischen türkis-senfgelben Muster und rote Blüten auf Dunkellila, und für zwei Yards von dem Yves-Klein-Blau mit den stilisierten gelben Wappentier-Pferden. Das Hemd, sagt sie, sei morgen fertig.
Als wir noch zusammenarbeiteten, sagte Max mal, nachdem wir eines Tages von Sprüth Magers zu einem Dinner in der Galerie eingeladen worden waren: »Damit haben wir genug geschafft für heute«. Das ist genau, was ich auf dem Weg zurück ins Haus denke.
26.10.
Was nicht fehlt:
Fensterscheiben
herbeigesendete Vorweihnachtsstimmung
Trinken, überraschenderweise. Club, das einheimische Bier, ist gut, macht aber einen irren Kater. Ist wohl normal bei Bier, aber woher soll ich das wissen. Wein gibt es nur in sehr wenigen, sehr fancy Restaurants, Schaumi habe ich noch nie gesehen.
Was fehlt:
F.
Fahrradfahren
Ein kleiner, aber kraftvoller Ventilator mit USB-Anschluss, für eine Gesichtsbrise aus Richtung des Rechnerbildschirmes
Ein Spray mit LSF 70 für tagsüber und Moskito-Schutz für die Morgen- und Abenddämmerung, das sich weder so anfühlt noch so riecht wie Sprühkleber, den man mit zwei bis drei Schichten Schweiß und Staub vermengt hat (Take note, Entwicklungsabteilung von Nivea: Das wäre mal eine gute Idee für ein Produkt, wenn auch mit zugegeben sehr spitzer Zielgruppe. Vielleicht trotzdem besser als eure neue Hautbleichcreme für den westafrikanischen Markt, die seit vergangener Woche mit der ehemaligen Miss Nigeria als Testimonial beworben wird und in den hiesigen intellektuellen Kreisen, sagen wir mal: nicht so richtig gut ankam.)
27.10.
Als die Damen-Gang dem Chief ihr Tänzchen darbringt, beglückwünsche ich mich selbst für mein zufällig mal sehr gutes Timing.
Aburi liegt auf 450 Metern im Hochland. Sein Botanischer Garten mit den handgeschriebenen blauen Hinweisschildern wird von Schulkindern, Pärchen, Ziegen und Hühnern als öffentlicher Park genutzt. Er steht voller enormer Palmen und Kakaopflanzen, zwischen denen Libellen und daumennagelgroße Schmetterlinge umhersirren. Der zerbeulte, ausgeweidete Hubschrauber, der kommentarlos auf dem zentralen Rasenstück hockt, verleiht dem Ganzen einen Hauch von Platoon.
Als ich gerade die Lianen beschaue, hält einer, der sich als Kofi vorstellt, mit seinem Motorrad neben mir. Er ist schon der dritte Kofi, den ich kennenlerne. Alle an einem Freitag geborenen Männer heißen Kofi, unter anderem. Statt sich wie üblich nach meinem Beziehungsstatus zu erkundigen, fragt er, ob ich wegen des jährlichen Odwira-Festivals hier sei. Er sei Mitglied der königlichen Familie der Stadt und könne mir bei der Begrüßungszeremonie, dem durbar, unten beim Häuptlingspalast einen Platz im Publikum verschaffen, kein Problem. Er müsse in der Zeit nur leider ein paar Straßenlaternen reparieren. Ich steige auf – nicht sicher, wie schicklich das nun wieder ist. Egal. Als wir die Hauptstraße hinunterpeitschen, wird Kofi von Passanten mehrmals mit »Honorable!« gegrüßt. Er ist, erklärt er, einer von drei gewählten Bürgermeistern, zuständig für den Norden Aburis.
Auf dem Hof des Häutlingspalastes sitzt sich das festlich gekleidete Publikum schon seit ein paar Stunden unter Sonnendächern gegenüber, auf einer Bühne döst die blau uniformierte Polizei-Band biertrinkend zwischen E-Gitarre, Buschtrommel und Trompete. Das Zentrum der Aufmerksamkeit gilt denen, die am Kopfende des Platzes ein paar Stufen erhöht unter einem anderen Sonnendach sitzen: ein Dutzend Chiefs, Queen Mothers und andere Royals die hier geehrt werden. Die Frauen tragen ausladende Waxprint-Kleider und Kopftücher in jeweils demselben Muster, die Männer bunte Togen aus Stoffbahnen so groß wie Vorhänge, die rechte Schulter nackt, dazu Lagen von Perlenketten und Goldringe, die Harald Glööckler lieeeben würde. Rita Marley, die Witwe von, lebt seit vielen Jahren in Aburi, betreibt ein Tonstudio und wurde mittlerweile zur Queen of Development ernannt, ich kann sie allerdings nicht entdecken. Hinter den Chiefs und Queen Mothers steht eine Viererreihe von Windzufächlern und Schweißabtupfern und tut ihren Job. Drei Trommler fabrizieren mit eispickelförmigen Stöcken drei Rhythmen gleichzeitig, der Moderator macht Scherze, mehrere Kameramänner filmen, einige Handys, sogar der obligatorische betrunkene Volksfest-Querulant ist gekommen.
Der dicke, glatzköpfige Ober-Chief in seiner schweren blau-weißen Toga hält eine Rede, abwechselnd auf Englisch und Akan, in der es um die Ahnen und die Bedeutung von Bildung in der Community geht. Als er fertig ist, klatschen die Leute beherzt und es wird mit Gewehren in die Luft geschossen. Dann ist der jugendlich wirkende Pastor mit der Malcolm-X-Brille dran, der bis eben an seinem Smartphone herumspielte. Er trägt einen scharf geschnittenen dunkelblauen Anzug, einen Kollar und darüber eine dicke, fette Goldkette mit Kreuz. Halleluja und Amen, dann spielt die Polizei-Band flott auf. Einzelne Frau erheben sich, um heiter ein wenig zu tanzen, jede mit sich selbst. Man könnte die Tonspur problemlos durch I Will Survive ersetzen.
Irgendwann betritt eine Fünfergruppe Frauen in ihren Sechzigern und Siebzigern die Szenerie. Wie eine Gang in Meerjungfrauen-Kleidern reiten sie ein, gehen erst händeschüttelnd die linke, dann die rechte erste Publikumsreihe ab, bevor sie sich auf eilig herbeigebrachte Stühle setzen. Eine von ihnen erhebt sich wieder, tritt auf den Platz vor der Chief-Tribüne und tanzt. Hüpft von einem auf den anderen Fuß, dreht sich, macht mit den Armen die John-Travolta-Rolle, dabei den Ober-Chief immer im Blick. Der kuckt zurück, lächelt gütig, macht mit zwei Fingern, mit denen er in Richtung seiner Augen zeigt, die »Ich sehe dich«-Geste, schlägt sich da auf die Brust, wo das Herz sitzt und nickt zufrieden. Im Publikum wird Gefallen mit den in die Luft gestreckten Zeige- und Ringfingern der rechten Hand signalisiert, nur zwei ältere Damen winken ärgerlich mit ihren weißen Taschentüchern ab und schauen demonstrativ in die andere Richtung. Als die Tänzerin zu den anderen zurückkehrt, umarmen die sie und die nächste ist dran.
Nach Einbruch der Dunkelheit geht das Fest zu Afrobeats auf den Straßen und in den in Neonfarben beleuchteten Spots weiter, an jeder Ecke steht ein anderer Lautsprecher-Berg und übertönt den nächsten. Ich mache mir etwas Sorgen um die Säuglinge, die sich fest in Tücher verschnürt an die Rücken ihrer Mütter schmiegen und gut durchgeschüttelt werden, wenn die tanzen. Aber da bin ich offenkundig die einzige. Die Babys schlafen oder kucken in der Welt herum.
29.10.
Auf halber Strecke fällt mir ein, dass ich zwar die Passfotos und den Gelbfieber-Ausweis bei mir habe, aber den Pass vergaß. Aha, so weichgekocht ist mein Gehirn also schon. Aussteigen aus dem Trotro, kurz im Koala-Markt vorbei, denn wo ich schon mal hier bin, kann ich gleich einen Liter Milch kaufen, so etwas gibt es nur in den wenigen Supermärkten. Das nächste Trotro zurück (die Benzinpreise sind gestiegen. Statt 1,80 kostet die Fahrt jetzt auf einmal 2,80 Cedis, deutlich mehr als eine Ananas am Straßenrand, aber nur ein Fünftel so viel wie ein Liter europäische Milch), die zehn Minuten Fußweg zurück zum Haus. Nach einer Stunde bin ich wieder auf dem Weg. Zwei Liter Wasser leichter.
Christian schickt einen Wetterbericht aus Los Angeles, wo kurzzeitig 38 Grad sind. Das sticht meine gefühlten 39 Grad, er gewinnt. Ich weiß nur nicht genau, ob das Spiel Wer hat’s besser? oder Wer leidet mehr? heißt.
Die Botschaft von Burkina Faso liegt in meinem neuen Lieblingsviertel, Asylum Down. Ich war hier noch nie, aber der brutale Name! Es ist nach der Nervenklinik darin benannt. Das teuerste Viertel der Stadt mit den 6000-Dollar-Monatsmieten heißt Airport Hills und liegt in unmittelbarer Nähe derselben. Nimm das, Pankow! Ich treffe eine halbe Stunde vor Feierabend in der Botschaft ein; das Besucherbuch, in das ich meinen Namen und Telefonnummer krakele, weist mich als zwölfte Besucherin des Tages aus. Ich könnte direkt reingehen, sagt der Sicherheitsmann. Die beiden Damen von der Visa-Abteilung sitzen in einem in seiner Gesamtheit windschief anmutenden Raum, in dessen Rückwand eine Klimaanlage eingemauert wurde, arabisches Fabrikat, circa 1959. Das Kabel baumelt lose neben der vergilbten Steckdose. An der Decke lärmt der Ventilator. Diejenige, die mein Anliegen bearbeitet, stoppt meine Fragen mit einem Lächeln, sagt: »My Englisch is small-small«. Während ich den Wisch ausfülle und das Geld zusammenzähle, unterhält sie sich mit ihrer Kollegin auf Französisch über Haushälterinnen. Morgen früh ab acht Uhr könne ich meinen Pass abholen. Nimm das, Bezirksamt von Berlin-Mitte. Erst als ich wieder auf der Straße stehe, fällt mir auf, dass ich vergessen habe, die Botschaft darüber zu informieren, dass ihre Website offline ist.
Als es dunkel geworden ist in Asylum Down, nehme ich ein Taxi zurück. Der Fahrer, er sieht aus wie höchstens 19, kennt Teshie nicht. Auf meine Frage nach dem Preis kann er mir deshalb auch nichts antworten. Ich sage, ich könne ihm zeigen, wo es langgeht. Mein Handy ist zwar tot, aber ich weiß den Weg. Er biegt jedoch falsch ab. Statt nach Osten aus der Stadt heraus, fahren wir in die entgegengesetzte Richtung immer weiter ins Zentrum. Was ich anmerke. Er beharrt auf seinem blöden Nichtwissen und versucht, Autorität durch Draufgängertum zu simulieren, hupend mit Tempo 80 auf der Schlaglochstraße. Wobei ich die Geschwindigkeit schätze, der Tacho ist kaputt. Als wir das dritte Mal den großen Kreisverkehr am Stadium nehmen, immer noch zehn Kilometer vom Ziel entfernt, brülle ich. Irgendwann sagt er: »Ich weiß den Weg jetzt, Ma’am«. Jetzt ma’amt er mich auch noch. Am Ende werden wir eine Stunde herumgekurvt sein, verdient hat er wohl nichts an mir. Aber so weiß ich jetzt, dass von Nescafé gebrandete Fahrräder im nächtlichen Usshertown Instant-Espresso in kleinen Pappbechern verkaufen und dass sich die Prostituierten von Osu vor der Filiale der Societé Generale aufreihen.
30.10.
Auf Facebook auf einen südafrikanischen Diskussionsstrang gestoßen namens OK, White People: Ask Black People The One Question You Always Wanted To Ask.
»Warum geht ihr an den Strand, um Selfies zu machen - aber nie ins Wasser?«
»Wir können nicht schwimmen. Und wer zahlt mir den Friseur? Unsere Haare sind hinterher ruiniert.«
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»Warum fragt ihr jede Frau, die an euch vorbeiläuft, nach ihrer Nummer?«
»So wahr! Wir schwarzen Frauen sind damit aufgewachsen. Am Anfang haben wir uns falsche Namen ausgedacht, die zu kompliziert waren, um sie aufzuschreiben. Da sind sie dann lieber einfach weitergegangen. Aber bald reichte das nicht mehr. Also haben wir ihnen die Nummer vom Krankenhaus gegeben und behauptet, dass sei unsere Festnetznummer. Aber auch das haben sie irgendwann durchschaut und darauf bestanden, uns an Ort und Stelle anzurufen. Jetzt haben wir auch keine Ideen mehr!«
»Für uns ist das ein Glücksspiel. Eine von hundert Frauen sagt ja!«
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»Glaubt ihr wirklich, dass alle Weißen reich sind?«
»Ja, weil ihr euch beschwert, dass ihr kein Geld habt, selbst wenn ihr einen Job habt, fließend Wasser und Strom.«
»Schuldig im Sinne der Anklage! Ich hab den Schock meines Lebens erlitten, als ich das erste Mal einen weißen Bettler gesehen habe.«
»Hör bitte auf uns zu irritieren! Wir wissen einfach, dass alle Weißen reich sind!«
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»Warum lächelt ihr nicht zurück? Wenn ich lächle, bedeutet das, dass ich euch wahrgenommen habe (außerdem ist es Ausdruck meines guten Benehmens). Wir trainieren das jahrelang auf Schönheitswettbewerben. Bitte lächelt zurück!«
»So sehr wir ein Lächeln schätzen, verstehen wir es so einfach nur als Beleidigung. Man lächelt nicht einfach jemanden an, den man das erste Mal sieht oder trifft. Sag Hallo und lächle, wenn du grüßen willst.«
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»Warum altert ihr so gut? Wo steht dieser verdammte Jungbrunnen, aus dem ihr trinkt?«
»Melanin. Dicke Schichten Vaseline, jeden Tag. Und wir beten euren Sonnengott nicht an.«
»Gott wusste, dass wir uns keine teuren Pflegeprodukte würden leisten können, also hat er uns die pflegeleichte Haut gegeben.«
»Ihr habt uns unseren Grundbesitz weggenommen, jetzt wollt ihr auch noch den Jungbrunnen?!«
31.10.
Die Geschichte mit den Träumen also schon wieder. Sie scheint Schulstoff zu sein.
In der frühabendlichen Rushhour im vollbesetzen Trotro setzt sich einer mit Hemd und lederner Aktentasche neben mich, sagt: »Good Evening«, comme il faut. Nach kurzem Smalltalk über unsere jeweiligen Fahrziele und Berufe (er arbeitet in einer Firma für medizinischen Bedarf), fragt er mich, ob ich an Gott glaube. Ich antworte wahrheitsgemäß.
- Warum nicht?
- Weil ich nicht mit der Kirche aufgewachsen bin.
- Gehst du irgendwo anders hin, um zu beten?
- Nein. Er zuckt ganz leicht mit dem Kopf, wie um eine Fliege zu verscheuchen.
- Lass mich dich etwas fragen: Wenn du einen Apfel isst und den guten Geschmack der Frucht auf deinen Lippen spürst, wem hast du das zu verdanken?
- Dem Apfelbauern. Und den Äpfeln, die ich früher schon mal gegessen habe.
- Das ist nicht, was ich meine. Wer hat den Apfel gemacht? Wo kommen wir Menschen her?
- Den Apfel haben der Apfelbaum und die Bienen gemacht. Wir haben uns aus den Affen entwickelt. Wissenschaftler nennen das Evolution.
- Aber vorher stammen die Affen? Und woher kamen Adam und Eva? fragt er und antwortet praktischerweise gleich selbst. Der Herr hat sie geschaffen.
- Ah, du willst also ganz an den Anfang zurückgehen, na schön. Ich glaube nicht daran, dass es diesen Herrn gibt, von dem du sprichst. Wir haben uns aus den Affen entwickelt, die sich aus Tieren im Wasser entwickelt haben. Das Wasser kam wahrscheinlich durch eine Art großer Explosion in die Welt.
- Wenn du nachts schläfst: Wer gibt dir deine Träume, wohin geht deine Seele und wer bringt sie dir am Morgen zurück, sodass du wieder aufwachst?
- Es fängt damit an, dass ich nicht an eine Seele glaube. Sie kann also auch nirgends hinverschwinden. Meine Träume macht mir mein Gehirn.
Es ist so: Du kannst Christ sein, du kannst Moslem sein. Du kannst Christ sein und in die Moschee gehen, oder Muslima und in die Kirche. Du kannst Christin sein und einen Moslem heiraten, oder Muslima und einen Christen heiraten, und das passiert gar nicht selten (Hauptsache, du heiratest, insh’allah). Aber keinen Gott haben: Ist nicht vorgesehen, kommt schlicht nicht vor. Ist aber noch kein hinreichender Grund, um unfreundlich zu werden. Aber es ist auch gut möglich, dass er a) mich für komplett irre hält oder b) denkt, damit jetzt den Samen gepflanzt zu haben. Das kann ich bedauerlicherweise nicht mehr herausfinden. Er sagt:
- Jetzt hast du vergessen, an deiner Haltestelle auszusteigen. Aber wenn du ein Stück die Straße zurückläufst, fährt da das Trotro nach Osu.
- Oh, vielen Dank. Hab‘ einen schönen Abend.