The xx - Love and love lost

von 
Portrait
zuerst erschienen am 6. September 2012 in Die Welt
Fassung der Autorin

Es war im Sommer vor drei Jahren, als ein paar gerade einmal Zwanzigjährige mit ihrer Musik auf der Weltoberfläche namens Internet erschienen und von der Möglichkeit der Liebe erzählten. Ihr Debütalbum verkaufte sich weltweit mehr als 1,5 Millionen Mal und wurde vermutlich eine Trilliarde Mal illegal heruntergeladen. xx gilt seitdem als Meisterwerk minimalistischer Popmusik, weise und dunkel strahlend. Und die Londoner Band The xx als diejenigen, die es geschafft haben, inmitten immer neuer Retrowellen einen eigenständigen Sound zu schaffen, der bleiben wird.

Allein das instrumentale Intro war dermaßen verheißungsvoll und perfekt, dass ein Fan die Enden des Stücks zu einem Loop zusammenklebte, immer und immer wieder, bis es eine Länge von 10 Stunden hatte. Ein beispielhafter Kommentar dazu auf Youtube lautet: „Ich höre es seit vier Stunden und es ist immer noch genauso gut wie in der ersten Sekunde“. Auch das Album selbst hat seit seinem Erscheinen rein gar nichts von seiner Kraft verloren; die Songs, die oft aus nicht viel mehr als einer skelettierten Gitarre, einer Drummachine und zwei Stimmen bestehen, nutzen sich auch nach dem hundertsten Hören kein bisschen ab, sondern scheinen dem, der mit ihnen lebt, nur immer mehr ans Herz und ins Leben hinein zu wachsen.

Nun ist mit Coexist das wahrscheinlich am sehnlichsten erwartete Album des Jahres erschienen. Andererseits gab es tatsächlich Leute, die es für das Richtigste hielten, wenn es gar keine zweite Platte gegeben hätte. Wo kein Nachfolger, da auch keine Entzauberung der Band, ohne die, das gilt als gesichert, es heute weder den luftig-flirrenden Studenten-Dubstep von James Blake noch den Neo-R’n’B von Frank Ocean gäbe. Zu ihren bekennenden Fans gehört auch Shakira, die mit Islands leider ein Stück des Debüts coverte und es zu einem Li-La-Laune-Song machte, zu dem sie stöhnend die Hüften kreisen ließ.

„Daran, einfach kein zweites Album zu machen, haben wir auch kurz gedacht“, sagt Jamie Smith, der Programmierer und Produzent der Band. Er und Sängerin/Gitarristin Romy Madley Croft sitzen, wie immer komplett in Schwarz gekleidet, eng nebeneinander auf dem Interviewsofa. Sie machen Gesichter, als müssten sie bei offizieller Stelle Auskunft über ihr Intimleben geben. Oliver Sim, Bass und Gesang, fehlt. Wird Jamie Smith nicht gerade durch direkte Ansprache gezwungen, sich zu äußern, starrt er aus dem Hotelfenster. Romy Madley Croft fixiert ihre Hände, als stünde dort irgendeine schlaue Antwort auf all die Fragen, die ihnen in einem zweitägigen Interviewmarathon gestellt werden. Aber da ist nur der kleine, wie mit der Tätowiertinte hingekrakelte Bandname – auf jedem ihrer Handgelenke ein X. Sie hätten es einfach sein lassen können und wären mit dem ersten Album in Erinnerung geblieben. „Aber das ist der falsche Weg, mit dem Druck umzugehen“, flüstert Smith nahezu. „Es ist mutiger weiterzumachen.“

Und The xx haben sich tatsächlich nicht wirr machen lassen von den Erwartungen, die so ein zweites Album stellt. Und sich dafür entschieden, weiterhin zu tun, was sie erfunden haben: Musik, die spärlich um Stille herum arrangiert ist. Die monolithisch im leeren Hallraum herumsteht und einen trotzdem ganz warm anweht. Die formal so statisch anmutet, dass man hinter ihr phlegmatische Typen vermutet. Wären da nicht die Texte, so offen wie ein Facebook-Profil ohne irgendeine Privatsphäre-Einstellungen. Alles ist sichtbar für alle.

Coexist spricht aufs Neue von Liebe. Es geht um love and love lost. Also so ziemlich alles. Und deswegen können sich davon auch über Dreißig- und über Vierzigjährige gemeint fühlen. Egal, ob es um Verschmelzungsfantasien, Trennungsschmerzen oder unbedingtes Füreinanderdasein geht. Alles ist in diesen Zeilen, manchmal alles in einer einzigen: „There’s no need of hiding / When there’s only you in here“.

Wieder haben Madley Croft und Sim die Texte gemeinsam geschrieben. Und zwar nicht mehr, indem sie sie per E-Mail hin- und herschickten und dann zusammensetzten. Diesmal befanden sie sich in ein und demselben Raum. „Es war aufregend, so als hätten wir uns gegenüber dem anderen geöffnet“, so Madley Croft. Im maximal minimalistischen Our Song singen sie tatsächlich das erste Mal voneinander und wie mit einer einzigen Stimme. Das Stück handelt von ihrer Freundschaft, kann aber genauso gut auch als eine gegenseitige Liebeserklärung gelesen werden.

Entscheidend ist, wie sie da wieder singen: zu zweit. Denn ein Alleinstellungsmerkmal dieser Band ist nun mal das Duett. Und das macht einen wichtigen Teil ihrer Alchemie aus, sie haben es zum Prinzip erhoben. Es wurde oft beschrieben: Das da ein Junge und ein Mädchen zusammen Lieder singen, zueinander, gegeneinander, gleichzeitig und abwechselnd. Als Frage, Antwort, Widerspruch. Das ist so sinnfällig, wie es rätselhaft bleibt, warum das noch nie jemand genau so gemacht hat. Dabei ist die Ahnenreihe der sich Duettierenden gar nicht so kurz: Sonny und Cher. Olivia Newton John und John Travolta. Mary J. Blige und George Michael. Und jetzt eben Romy Madley Croft und Oliver Sim. Nur viel konsequenter und besser, was die Überführung des Inhalts in die Form angeht. Er: „Will you miss me?“ Sie: „How did I, how did I how did I, oh“. Der eine ist gerade angekommen, die andere schon wieder weg. Und mit dem Unterschied, dass die beiden eben wirklich eine lange Beziehung verbindet und sie nicht nur eine günstige Paarung sind. Die Freundschaft zwischen ihnen besteht, so erzählen sie die Geschichte zumindest, seit sie sich und die mittlerweile aus der Band ausgestiegene Baria Qureshi im Alter von drei Jahren im Kindergarten kennenlernten. Jamie Smith kam dazu, als sie elf waren. Der Abgang von Qureshi, ob nun wegen Erschöpfung oder weil sie von den anderen dreien aus der Band geschmissen wurde, fühlte sich das dann auch an wie eine Scheidung, so formulierte Madley Croft das damals.

Was The xx bislang auch ausmachte, war, dass sie eben nicht sangen, um ihre Sangesküste herzuzeigen, sondern weil sie etwas sagen mussten. Statt nur mehr oder weniger vor sich hinzumurmeln – die eine sanft, der andere eher unbeteiligt-papieren – singen die beiden diesmal richtige Melodien mit hörbar geübter (und in seinem Fall deutlich tieferer) Stimme. Die vielen hundert Auftritte auf der ganzen Welt haben sie beide zu selbstbewussten Sängern werden lassen.

Jamie Smith, der sich als Solo-Künstler Jamie xx nennt, etablierte sich neben der Band als fantastischer DJ und Remixer, Produzent und Samplegeber für Popgrößen wie Drake, Rihanna und Adele. Nebenbei verhalf er der Steelpan, dem aus alten Ölfässern gebauten Nationalinstrument Trinidads, außerhalb des Barcadi-Werbespots zu seinem Platz im westlichen Poparchiv – und auf dem neuen Album. Es ist unter anderem diese neue Klangfarbe, dank derer die neuen Songs jetzt ein ganz klein wenig schillern. Wie das Bandlogo, das quergelegte Kreuz, auf dem Cover von Coexist nun regenbogenfarbene Schlieren zeigt. Wie von Öl, das auf Wasser schwimmt, aber nicht mit ihm vermischt werden kann. Es geht um Koexistenz.

Entstanden ist das neue Material nach zweieinhalb Jahren des pausenlosen Tourens und nachdem sich The xx dann auch mal freigenommen hatten. Um endlich wieder Zeit mit den Londoner Freunden zu verbringen, die inzwischen die Uni beendet hatten. Um aus den jeweiligen Elternhäusern in eigene Wohnungen zu ziehen, die sie sich in kürzester Distanz zueinander gekauft haben. Um selbst auszugehen und zu tanzen.

Coexist ist auch ein Zeugnis dieser Zeit. Der größte Unterschied zum Vorgänger sind die Anklänge an Clubmusik, und da besonders: House. Aber weil The xx eben Minimalisten sind, verweisen sie subtil darauf und indem sie etwas weglassen. In Reunion passiert genau in der Mitte des exakt vierminütigen Stückes: nichts. Ganze sechs Sekunden lang. Nur von Ferne knistert es leise. Danach geht der Song, der bis dahin aus Gitarrenflirren, irrlichternden Steelpan-Tönen und den beiden umeinander kreisenden Stimmen bestand, in einen anderen Aggregatzustand über. Ein Beat setzt ein und ein trockener Bass, der sich erst allmählich als von einer Gitarre stammend zu erkennen gibt und trotzdem clubby klingt. Die Pause ahmt diesen kurzen Moment der Stille nach, die DJs als dramaturgisches Element in ihr Set einbauen, um die Leute danach umso entfesselter tanzen zu lassen. Aber es versteht sich, dass Tanzen bei The xx eher ein langsames, in sich gekehrtes Sichwiegen bedeutet. Mit geschlossenen Augen.

In Missing folgt die dumpfe Stille auf die aller Zuversicht entkleidete Zeile: „And now there’s no hope for you and me“. Der Song endet mit einem peinigenden Tinnitusfiepen und es gibt keinen besseren Ausdruck für das, worum es in dem Stück geht: den Phantomschmerz, der bleibt, wenn diejenige Person, die ihn auslöst, schon lange weg ist und in dem doch scheinbar alles besteht, was die verlorene Liebe hinterlässt.

Je genauer man der Architektur dieses Sparklangs zuhört, desto besser wird verständlich, dass Jamie Smith die finale Soundmischung des eigentlich fertigen Albums fünf Mal überarbeiten ließ. Ein Vorgang der, wie er selbst einräumt, teuer und aufwendig ist und zu Kämpfen mit der verantwortlichen Soundingenieurin führte. „Aber ich habe sechs Monate mehr oder weniger jeden Tag im Studio verbracht und die Songs perfekt unperfekt gemacht. Ich will nicht, dass irgendjemand Fremdes sie verändert.“ Und so lispelt Romy Madley Croft in Angels, weil sie das beim Sprechen eben tut. Es ist das erste Stück auf Coexist, dessen Ein-Wort-Titel ab und zu gefährlich nahe am Rande des Kitsches segeln. Was aber auch schon das Allerschlechteste ist, was sich über das Album sagen lässt. Angels ist ein Song, den Madley Croft schon immer schreiben wollte. Darüber, wie es ist, glücklich verliebt zu sein. „Es ist sicherlich schwieriger, mit einem traurigen Song kitschig zu werden, als mit einem, bei dem das Grundgefühl positiv ist“, sagt sie. „Aber wir versuchen immer, komplizierte Dinge so auszudrücken, dass viele Leute sie verstehen.“

Sehr viele Leute werden verstehen, was Coexist ist: Ein Album von bestürzender Schönheit und Größe. Von einer Band, die im Moment gar nichts zu befürchten hat, außer dem noch viel schwierigeren dritten Album. Und vielleicht Shakira.