The Naija Life

von 
Tagebuch
Waahr-Originaltext
Ghana ist für Anfänger, Nigeria nur irre: Im Rahmen einer Recherchereisen verbrachte die Autorin Anfang 2018 zwei Wochen in dem westafrikanischen Land. Dies ist das Tagebuch dieses Aufenthaltes.

12.03.


Jetzt schaue ich mir also mal dieses Nigeria an.

»Das Land ist weit davon entfernt, eine Urlaubsdestination zu sein. Was Sightseeing angeht, hat es sehr wenig zu bieten und die Umwelt ist ein reines Desaster«, schreibt der Reiseführer und gibt Lagos’ Einwohnerzahl mit 13 Millionen an. Das war 2011, heute sind es eher 20 Millionen. Aber wer zählt das schon genau. Ghana ist Afrika für Anfänger, sanft, entspannt und sicher. Nigeria ist irre.

Eine andere Zahl, die ich liebe, weil sie so viel erzählt: Von den zehn reichsten Pastoren der Welt sind fünf Nigerianer.

13.03.


Nigeria, die ersten 24 Stunden:

Weil die Bank nur 500- und 1000-Naira-Scheine ausgibt und eine generelle und unerklärliche Knappheit an kleinen Scheinen herrscht, ist auf der Straße kein Wasser zu haben. Eine Tüte Wasser kostet zehn oder 20 Naira, einen Bruchteil eines Cents. Keiner kann meinen Scheine wechseln. Bis ein junger Typ herüberspringt und mir zwei Tüten Wasser verkauft. 

Gelernt, dass eine Portion gegrillter Wels für vier Personen reicht. Riesenviecher, todeshässlich auch, aber sehr gut.

In der Nachbarschaft des Hotels in Abuja steht eine Gruppe Männer am Straßenrand, einer mit einer umgeschnallten AK-47. 

Auf der Schnellstraße wendet plötzlich ein Auto und fährt auf der linken Spur entgegen des Verkehrs. Casual Geisterfahrer. 

Bei einem Ausflug in den benachbarten Bundesstaat von Abuja, Niger State, angehalten worden von einer Gruppe Männer in gelben Westen, auf denen Tax Force steht und die behaupten, wir hätten keine Erlaubnis, hier herumzufahren. Es entspinnt sich eine lautstarke Diskussion zwischen den Männern und unserem Begleiter Chibu, an deren Ende eine unbestimmte Summe dash gezahlt wird, Schmiergeld.   

Eine Frau namens Happy getroffen, einen Mann namens Honesty. 




14.03.


Nigeria ist nicht nur politisch nach Vorbild der Vereinigten Staaten organisiert, auch hat jeder der 36 Bundesstaaten ein Motto, das die Leute auf den Nummernschildern ihrer Autos spazierenfahren. 

Abuja: Centre of Unity

Kano: Centre of Commerce 

Lagos: Centre of Excellence

Niger: The Power State 

Borno ganz im Nordosten, Heimat von Boko Haram: Home of Peace, ausgerechnet.

Beim Treffen mit Jugendlichen, die vor dem Terror im Norden nach Abuja geflohen sind, hält uns deren Betreuer einen Vortrag, in dem er Boko Haram mit dem Nazi-Regime vergleicht. Er behauptet einfach mal, das erklärte Ziel aller nigerianischen Moslems sei, das Land unter die Scharia zu stellen und präsentiert angebliche Zitate des amtierenden Präsidenten, Muhammadu Buhari, die das belegen sollen. Oh my

Mit einer jungen Radio-Journalistin, die in der Sprache der Hausa über Frauenthemen berichtet, über Feminismus gesprochen. Sie fragt mehrmals nach, ob ich wirklich glaube, dass Männer und Frauen gleichwertig seien. Ich bejahe, sie scheint dem nicht ganz zu trauen. »Aber wenn sie gleichberechtigt sind, verliert die Frau dann nicht den Respekt vor dem Mann?« Ehe ich antworten kann, werden wir – deutsche und nigerianische Journalisten – zum Gruppenfoto gerufen.  

Ein anderer macht mir ein Kompliment für meine Haare. Sie erinnern ihn an Oliver Kahn. 



17.03.

Lagos. Wir bewegen uns in einem klimatisierten Kleinbus mit abgedunkelten Scheiben durch die Stadt. Der Verkehr ist genau das heillose Chaos, als das er immer beschrieben wird. Anders als in Accra gibt es neben Buschtaxis, die hier gelb sind und Danfos heißen, kleine dreirädrige Sammeltaxen und Okadas, Motorräder, die man samt Fahrer mietet – ohne Helm, versteht sich. Das Festland ist mit Lagos Island und Victoria Island (sowas wie das Manhattan von Lagos) durch eine lange Brücke verbunden. Sie gibt den Blick frei auf die Lagune und Makoko, den Slum, der zu zwei Dritteln auf Stelzen im Wasser steht, dazwischen Fischerboote.

Auf dem stundenlangen Weg ins Haus, in dem von Fela Kuti bis zu seinem Tod im Jahr 1997 mit seinen 27 Frauen und seiner Gefolgschaft lebte, fährt der Bus durch eine schwarze Wolke. Auf einer Müllhalde neben der Third Mainland Road brennt ein enormes Feuer. Auf dem zehn Spuren der Schnellstraße herrscht dichter Rauch, Sichtweite weniger als 20 Meter, er vermischt sich mit dem Dieselgeruch, der sonst im Bus herrscht, und brennt in den Augen. 

Im Lieferumfang des Buses ist Dadi enthalten, ein uniformierter und mit einem angerosteten Maschinengewehr ausgestatteter, freundlicher Polizist. Die Waffe trägt er an einem ausgeleierten Stoffband über der Schulter. Wenn wir doch mal ein paar hundert Meter selbst laufen dürfen, fährt der Bus im Schritttempo hinterher.

Das ständige Im-Auto-Gesitze macht mich wahnsinnig. Ich komme mir vor wie auf einer Rentnerreise, auf der man zwischen den Touristen-Attraktionen hin- und hergekarrt wird und ja nicht in Kontakt mit der Bevölkerung des besuchten Landes gerät. Aber anders geht es wohl nicht. In der Nike Gallery allerdings erleide ich dann fast einen Nervenzusammenbruch. Der fünfstöckige Bau mit weiß gefließtem Boden gilt Russen und Chinesen als Touristendestination und hängt ausschließlich voller wirklich entsetzlicher Ölbilder in Goldrahmen, darunter auch ein Porträt des liegend hingegossenen Fela Kuti mit nacktem Oberkörper und Spliff in der Hand. Nach dem obligatorischen Gruppenfoto mit der Besitzerin lässt diese uns von einem Mitarbeiter aus Perlen geknüpfte Schlüsselanhänger austeilen wie Bonbons an folgsame Schulkinder.

Auf dem Parkplatz vor Kutis Haus, das heute sein Mausoleum und ein leicht schrottiges Museum beherbergt, dreht irgendein aufstrebender Jungstar ein Musikvideo. Drei leicht bekleidete Frauen – der Fachausdruck lautet video vixens –, tanzen um den Typen herum, der gestikuliert nach Gangster-Art. 

Das Museum besteht hauptsächlich aus Fotos in wilder Hängung: Fela bei seiner bürgerlichen Hochzeit, Fela auf der Bühne, Fela und seine Frauen, Fela und seine Kinder. Herzstück ist sein Zimmer, das angeblich am Tag seines Todes im Jahr 1997 versiegelt wurde und seitdem vor sich hinstaubt: ein paar Matratzen und Sitzkissen, eine Kühltruhe, in der immer ein Vorrat an Eis und Schokolade aufbewahrt wurde (Fell naschte gern), drei Kleiderstangen voller Bühnenoutfits, ein paar Bücher, ein Ventilator und ein Saxophon. In einem Nebenraum sind drei Dutzend paar eigens angefertigte, einigermaßen abgelatschte Slippers aufgereit, daneben sein Pelzmantel und auf Drahtbügeln: drei Slips, einer mit niedlichem Cartoon-Sauriermotiv.  

Im Restaurant neben dem Hotel findet am Samstag Abend eine Namenszeremonie für ein neugeborenes Kind statt, dazu spielt eine Band. Es gibt Palmwein, meine Laune steigt augenblicklich. Auf der Tanzfläche steht der, wie jemand behauptet, zweitgrößte Mann Westafrikas. Er ist wirklich riesig, wie um 50 Prozent auf 2,40 Meter hochkopiert, seine Handflächen sind doppelt so groß wie meine. Das Bewegen fällt ihm schwer. Ein Franzose, er ist Videojournalist für AFP, sagt: »Lagos is a bitch« und wie langweilig er Europa mittlerweile fände. Außerdem weiß er zu berichten, dass das französische Paar, um dessen Kind es hier heute geht, lange keinen Nachwuchs bekommen konnte, bis es in den Wald fuhr, um einen Yoruba-Priester ein paar Rituale vorführen zu lassen. »Zwei Tage später waren sie schwanger.« Der Priester hat die Party leider schon wieder verlassen. 

Teju Cole schreibt in seinem Lagos-Buch Jeder Tag gehört dem Dieb: »Es ist nicht vorbildhaft, wie diese Gesellschaft funktioniert, und trotzdem beschleicht mich ein leises Mitgefühl mit all jenen Schriftstellern, die ihren Stoff verschlafenen amerikanischen Vorstädten abgewinnen und Scheidungsszenen schreiben müssen, in denen lethargische Geschirrspüler eheliche Kälte symbolisieren.« Ich glaube zu wissen, was er meint.      

19.03.

This house is not for sale. In Ghana, wo mir dieser auf Mauern gepinselte Hinweis im sogenannten Trendviertel Osu aufgefallen war, dachte ich, er sei ein Zeichen der fortschreitenden Gentrifizierung. Als wären die Hausbesitzer es leid, Anfragen Kaufwilliger abzuwehren und daher dazu übergegangen, gleich an der Grundstücksgrenze klarzumachen, dass hier kein Geschäft zu machen ist. Erst hier habe ich verstanden, dass es sich eigentlich um einen Warnhinweis handelt, eine ursprünglich nigerianische Spezialität in der bunten Palette der Betrügereien, die nach Ghana exportiert wurde: Während die jeweiligen Haus- oder Grundbesitzer verreist sind, geben Schwindler die Immobilien als die ihren aus, verkaufen sie und verschwinden mit dem Geld. Es soll Ehefrauen gegeben haben, die so die Häuser ihrer dienstreisenden Männer vertickten.

Während Nigeria als das religiöseste Land der Welt gilt (wer misst das und an welcher Stelle steht dann Saudi-Arabien auf dieser Liste?), sind mir hier in einer Woche mehr erklärte Atheisten begegnet als in drei Monaten in Ghana und Burkina Faso (dort nämlich kein einziger). Der Boko-Haram-Experte Hussaini Abdu, der für eine große NGO arbeitet, sagte: »You guys in Europe are very lucky to have overcome faith«, die Künstlerin Peju Alatise: »I am pissed about religion in my country. It’s like brain cancer.« Gegenüber ihres Hauses am Strand von Ajah findet in einer welchblechgedeckten Holzbaracke ein Gottesdienst statt. Nonnenhaft ganz in Weiß gekleidete Frauen und Kinder singen leise Lieder.

Den Abend verbringen wir in Femi Kutis New Afrika Shrine. Wenn er in Lagos ist, tritt der älteste Sohn Felas dort auf. Donnerstags ist der Eintritt frei, sonntags kostet er 500 Naira, ein bisschen mehr als einen Euro. An der Wellblechdecke der Freilufthalle kreisen Dutzende Ventilatoren, es riecht nach Gras und gegrilltem Ziegenfleisch mit Zwiebeln. Als sich die Musiker gerade warmspielen wollen, fällt der Strom aus, zum wiederholten Mal an diesem Tag. Zwanzig Sekunden lang ist es stockdunkel und fast ganz still, dann springt der Generator an. Um Punkt halb neun läuft Femi Kuti auf die Bühne, im gelb-grün-roten Fantasy-Anzug (ich kann nicht genau ausmachen, ob es sich um Satin handelt). Seine Band besteht aus elf Musikern und genauso vielen Kalakuta Queens, den Tänzerinnen/Sängerinnen/Perkussionistinnen mit bunter Gesichtsbemalung, Kopfschmuck und knappen Perlenkostümen. Viele der Lagosians, die vor der Bühne tanzen, können jedes Wort seiner Texte mitsingen. Mein Herz gehört dem jungen Typ mit dem schwarzen Basecap, der die arschwackelnden Choreografien der Tänzerinnen imitiert, als wollte er sich um einen Platz unter ihnen bewerben.

20.03.

Mein Tropenarzt hat mir einen Auftrag mitgegeben. Er arbeitet seit Jahren an einer Liste, die das Wort für »Aua« in allen Sprachen der Welt versammelt. Nigeria eignet sich besonders gut als Forschungsfeld. Ich frage die Leute also, welche ihre Muttersprache ist und was sie sagen, wenn sie sich den Kopf stoßen. 

Yoruba: lua


Igbo: chineke


Hausa: wayooo


Mandra: kauweguye

Mir fehlen jetzt nur noch die 513 anderen Sprachen in Nigeria. 

Tramadol ist so etwas wie das Oxycontin Westafrikas: ein starkes Schmerzmittel, nur billiger und leichter zu beschaffen. Arbeiter von Accra bis Lagos nehmen es, um die Tage zu überstehen, Farmer geben es ihren Rindern, damit diese länger auf dem Feld durchhalten, man fand es in den Taschen von festgenommenen Boko-Haram-Kämpfern. Olamide hat es als Droge in seinem Song Science Student thematisiert, was die nigerianische Behörden dazu veranlasste, das Stück als »nicht für den Rundfunk geeignet« zu labeln. Wir treffen den Arzt und Pastor Tony Rapu, der mit seiner Kirche Drogenabhängige von der Straße holt. Er sieht aus wie ausgedacht, das aber so gut, dass es unheimlich ist: groß und attraktiv, mit schwarzer Brille, crispen weißen Hemd, knöchellangen schwarzen Hosen und nackten Füßen, die in Lederschuhen stecken. Ein Lächeln, dass er nach Bedarf anknipsen kann. 75.000 Follower auf Instagram. Selbstbezeichnung: husband, father, pastor, doctor, mentor, social reformer. »Er hat PILF vergessen«, flüstere ich Kathrin zu und wir kichern ein bisschen in uns hinein. 

Lieblingssatz heute (er kam von Deyemi Okanlawon, einem der erfolgreichsten Nollywood-Schauspieler): »Nicht nur Schwule müssen wegen ihrer Sexualität Kämpfe austragen. Auch als heterosexueller Mann muss man sich fragen: Will ich monogam oder polygam leben?« Mit dem kleinen Unterschied, dass auf Homosexualität 14 Jahre Gefängnis stehen, aber das sagt er nicht. 

21.03.


Ich glaube ja, dass man eine Gesellschaft gut über die Namen und Titelgeschichten ihrer Zeitschriften verstehen kann. Landlust, Spiegel Sonderausgabe irgendwas mit Hitler, Slow, Flow, irgendeine Krise. 

Hier heißen sie African Banker, Highbrow Living (»Nigeria’s Luxury Real Estate Markets«), Mode Men (»2018’s Hottest Bachelorettes«) und Diaspora (»Exceptional Nigerian Neurosurgeons in Texas«). 

Die Zeitung Daily Trust zählt auf der Titelseite einer jeden Ausgabe, wie lange die Entführung der Chibok-Mädchen schon anhält. 1433 Tage. Am Morgen dann heißt es auf einmal, einige der Verschleppten von Dapchi seien frei.

22.03.

Der Großteil der deutschen Delegation ist abgereist, die offiziellen Termine sind vorbei. Anders als anfangs angedroht, brauchen wir Zurückgebliebenen doch keine einheimischen Aufpasser. Die große Freiheit. Mit Hilfe einer Visitenkarte schaffen es Kathrin und ich auf die Party von BBC News. Der Sender feiert die Inbetriebnahme der Programme auf Igbo, Hausa und Yoruba und die Eröffnung seines Büros im 12. Stock eines glitzernden Turms in Ikoyi. Als wir ankommen, ist der Palmwein schon alle. Gin Tonics nehmen wir aber auch. 

Auf einer Bühne führen kostümierte Truppen ihre Tänze auf. Das Publikum hat sich aufgedresst: die Frauen in ausladenden Kleidern und High Heels, die Männer wie immer sehr elegant. Neben den Alltags-Zweiteilern aus über einer Hose getragenen kragenlosen Hemden, deren Länge von hüft- bis knöchellang reicht, bin ich Fan der Kopfbedeckungen: der flachen Kappe namens Kufi, den okpu agu, die schwarz-rot-weiß geringelten Mainzelmännchen-Strickmützen der Igbo, die schlafmützenartig schlaff auf einer Seite herunterhängenden Mützen der Yoruba namens fila und die fula, die hohen gemusterten Hüte der Hausa, wie sie auch der Präsident trägt. 

Auf weißen Kunstledersofas sitzen die oba. Der Häuptling der Yoruba aus dem Osten des Landes ist mit seiner Frau gekommen, sie tragen zueinander passende, funkelnde Kappen mit einem ebenfalls mit Glitzersteinen besetztem Horn an der Stirnseite. Hinter ihnen steht der Zepterhalter mit dem mehr als einen Meter langen, von einem Vogel gekrönten Stab, neben ihm ein uniformierter Security-Mann. Während der Vorführung des Yoruba-Tanzes erhebt sich der Häuptling in seinem bodenlangen Gewand, holt einen Stapel 1000-Naira-Scheine hervor und lässt sie auf die Performer regnen. 

Im Hotel hat uns der diensthabende Rezeptionist sehr freundlich gefragt, ob wir vielleicht tageweise und bar bezahlen könnten. Unklar bleibt, ob er das Geld selbst einstecken oder die Hotelleitung es an der Steuer vorbeischmuggeln will.

23.03.

Es gibt tatsächlich Menschen, die für eine Rückkehr des Kolonialismus sind. Er habe wirtschaftliche Entwicklung gebracht, Gesetze installiert und den Kolonien Freiheit verschafft. Einer seiner größten Fürsprecher ist Nigel Biggar, ein Theologie-Professor in Oxford. Er argumentiert, der Kolonialismus habe Ordnung in der nicht-westlichen Welt verbreitet. »Der Schrecken der postkolonialen Welt scheint eine Amnesie der Schrecken des Kolonialismus geschaffen zu haben«, so die New York Review of Books.

Das irrste Argument ist, dass der Kolonialismus geholfen habe, die Sklaverei zu beenden. Das ist in etwa, als würde man sagen: Der Brandstifter hat das Haus angezündet und Dutzende Menschen getötet, aber am Ende immerhin einen Eimer Wasser ins Feuer geschüttet. 44 Prozent der Briten denken, dass der Kolonialismus etwas sei, auf das man stolz sein könne. Empire Nostalgia. Auf so etwas kann man nur kommen, wenn man in einem Königreich lebt, das durch den Brexit nur weiter an Bedeutung verlieren wird.

24.03.

In Ajegunle leben vielleicht sechs Millionen Menschen. Sie nennen es das Ghetto, ein Nigeria in Nigeria, das Binnen- und Migranten aus anderen westafrikanischen Ländern beheimatet. Der muskulöse Ken, der sonst im Niger-Delta mit Palmöl handelt, fungiert als unser Bodyguard und Fixer. Er bringt uns zu einer überhitzten Wellblechhütte von vielleicht sechs Quadratmetern Fläche, in der sich das Commercial Sounds Studio befindet, erbaut, so Ken, mit dem Geld der örtlichen Gangster. Gegen einen überteuerten Kasten Bier, dessen Preis sich im Laufe des Nachmittags noch erhöht, dürfen wir mit dem Ghetto-Star sprechen, umringt von Jungs mit selbst gemachten Tätowierungen, Tränen auf dem Jochbein, das Puma-Logo über der Augenbraue und so. Der Ghetto-Name des Stars lautet Antilope, seine Reaktionen sind eigenartig verlangsamt (neben Tramadol ist wohl Hustensirup beliebt), aber er singt sehr schön über die cartoonhaften Melodien.

Wir nehmen zwei Okadas. Ken ist nicht begeistert, dass Kathrin und ich uns zusammen hinter den Fahrer setzen. Aus Sicherheitsgründen sollte eine Frau immer mit einem weiteren Mann Motorrad fahren. Na ja. Wir fahren noch tiefer ins Ghetto hinein, es wird ärmlicher, schmutziger auch; Ziegen, die auf Plastikmüll grasen. Als wir absteigen und zu Fuß gehen müssen, laufen uns drei Dutzend »Oyibo«-rufende Kinder nach, als wären wir die Rattenfänger von Ajegunle. Das Wort für »Weißer« geht angeblich auf einen Yoruba-Ausdruck zurück: »Der Mann mit der abgezogenen Haut«. 

Als wir auf dem nahegelegenen Markt auf unser Taxi warten, gerät Ken in einen Streit mit einem anderen, weil dem nicht passt, wo wir stehen. Die beiden schreien sich gegenseitig in Gesicht, eine Frau und zwei andere Männer kommen dazu und machen mit. Es ist also wirklich kein Witz, dass die Nigerianer zur aggressiven Auseinandersetzungen neigen, im Zweifel mit Handgreiflichkeiten. Einer, der lange in der nigerianischen Botschaft in Berlin arbeitete, erzählte, wie dort die Mitarbeiter regelmässig aufeinander einprügelten. Als wir im Taxi sitzen, sagt Ken gut gelaunt: »Das mag ich an Nigeria: Wenn du dich streitest, bist du nie allein. Es mischt sich immer jemand ein.« 


25.03.

Wie immer wird es erst am Ende so richtig gut. Der letzte Tag geht mit Besuchen bei der menschenleeren Post (der Mann hinter dem Tresen ist erst unwillig und verkauft mir dann doch ein paar Briefmarken. Es würde mich allerdings wundern, wenn die Karte, die ich in den leeren Briefkasten für die Übersee-Korrespondenz geworfen habe, jemals ankäme) und im Nationalmuseum (eine eher unterwältigende, weil verstaubte und vergilbte Angelegenheit) vorüber.

Am Abend zeigt Jakob, ein Berliner Regisseur mit Wohnsitz Tunis, seinen Dokumentarfilm über den Kameruner Paul und dessen Weg übers Mittelmeer bis nach Europa. Eine Szene spielt am marokkanisch-spanischen Grenzzaun in Melilla. Als die Afrikaner den Zaun stürmen und die, die es nicht schnell genug hinüberschaffen, von der Polizei wieder heruntergeprügelt werden, lachen die Nigerianer. Es ist nicht ganz klar, ob aus genereller Freude an der Anarchie oder aus Schadenfreude denen gegenüber, die einstweilen in Spanien bleiben müssen. (Später wird sich herausstellen, dass es wohl eher ersteres war. Das Publikum zeigt sich sehr angetan vom Film.)

Kathrin lernt Tom kennen, einen jungen Fotografen. In seinem Riesenauto fahren wir ins Stadium Hotel, einen heruntergekommenen modernistischen Bau. Es handelt sich weniger um ein Hotel als um einen offenen Innenhof, um den herum Tische gruppiert sind, durch ein Gitter gibt es Bier zu kaufen. Ein sehr schön altmodischer Ort. Auf der Bühne spielt eine Band I just called to say I love you, die Trompeten klingen lustig verstimmt.

Es sind mehr Musiker da als Gäste, ein alter Mann tanzt selbstvergessen vor sich hin, eine dicke Frau gesellt sich zu ihm und die Probleme, die sie beim Laufen zu haben schien, sind auf der Tanzfläche plötzlich verschwunden. Zwischendrin fällt der Strom aus, die Band spielt ungerührt weiter - was Tom in seiner Meinung bestärkt, dass das hier echte Musik ist und nicht der Autotune-satte Afrobeats-Sound, der im Radio läuft und den ich so liebe. Ich mache mich ein bisschen über sein antikes Kunstverständnis lustig.

Wir brechen auf und fahren stundenlang ziellos durch die Stadt und über die Brücken, die die Insel mit dem Festland verbinden. Auf dem Wasser glitzern die hell erleuchteten Ölplattformen. Die Straßen sind wie ausgestorben, nur der Müll des Tages erinnert an die Menschenmassen und das Chaos, das hier tagsüber herrscht. Rund um den Jankara-Markt liegen Dutzende Schlafende auf dem Gehweg, manche unter Moskitonetzen. Tom zeigt uns, wo alle sind, die noch wach sind. In Obalende in unmittelbarer Nähe der Polizeibaracken befindet sich das Rotlichtviertel von Lagos, auf der Straße drängeln sich Biertrinker, Kiffer und Prostituierte. Durch die heruntergelassenen Scheiben des Autos weht der heiße Wind herein, am Himmel liegt der Halbmond auf dem Rücken.