Zur großen Liebe gehören mehr als zwei

von 
Essay
erschienen am 7. Dezember 2015 auf dem Zeit-Online-Blog „10 nach 8“
Noch immer glauben wir an das verliebt-verlobt-verheiratet-Märchen. Und scheitern erbärmlich. Warum wir die Monogamie begraben und die sexuelle Freiheit leben sollten.

Als Kim Gordon und Thurston Moore 2011 das Ende ihrer Ehe und damit auch das von Sonic Youth bekanntgaben, zerklirrten Tausende Herzen, erwachsene Menschen brachen in Tränen aus. 30 Jahre lang hatte es die Band gegeben, 27 davon waren die beiden das Traumpaar des Indierocks gewesen. Einer ganzen Generation galten sie als Beweis dafür, dass es gehen kann, inmitten des Irrwitzes dieser Welt: sich verlieben, gemeinsam Kunst machen, heiraten, ein Kind aufziehen, cool bleiben.

Das Ende der Geschichte geht so: Mann in der Midlife-Crisis nimmt sich eine Geliebte und führt so lange ein Doppelleben, bis alles auffliegt. Schnüffeleien, verzweifelte Versuche, die Affäre zu beenden, Ultimaten, Lügen, Scheidung. Szenen eines ganz banalen Ehe-Endes, sogar die Rollen waren klischeegerecht verteilt. In ihrer Autobiographie schreibt Kim Gordon, sie und Moore seien eben auch nicht anders gewesen als all die anderen Paare. „Und was passiert war, war vermutlich die normalste Sache der Welt.“

Die Scheidungsraten in dieser Welt hätten, angewendet auf die kommerzielle Luftfahrt, schon lange zur Abschaffung derselben geführt. In unserem Intimleben dagegen gilt ein solches vermeintlich individuelles Scheitern als menschliches Versagen. Und als ganz normale Sache, wegen der nichtsdestotrotz nicht wenige die furchtbarsten Schmerzen erleiden.

Es war Arthur Miller, der sagte, dass eine Ära als beendet gelten kann, wenn sich ihre grundlegenden Illusionen als gescheitert erweisen. Die Erkenntnis aber, dass etwas mit unserem Beziehungsstandardmodell nicht stimmen kann, scheint sich erstaunlich langsam durchzusetzen. Zu sehr scheint uns diese verliebt-verlobt-verheiratet-Geschichte eingepflanzt. Die Vorstellung von einer einzigen, lebenslang monogamen Beziehung allerdings wurde bekanntlich längst durch die von der (in vielen Fällen lediglich scheinbaren) seriellen Monogamie ersetzt. Und da stehen wir jetzt.

Der traurigste Anblick, den ich kenne, ist der von verkleidet und sichtlich besoffen durch Innenstädte eiernden Frauen- oder Männergruppen beim JungesellInnenabschied. Sauber nach Geschlechtern getrennt genießt man die letzte Nacht in Freiheit, gern auch mit Strippern oder im Puff, bevor man am angeblich schönsten Tag seines Lebens allen Ausschweifungen ein für alle Mal abschwört. Die Franzosen übrigens nennen diese Veranstaltung „enterrement de la vie de jeune fille“ bzw. „de jeune homme“. „Enterrement“ heißt Begräbnis.

Das Begehren soll endlich eingehegt und in die Schranken verwiesen werden. Auf dass es sich ab dann hoffentlich ausschließlich auf diese eine Person fokussiert, denn andernfalls stünde alles auf dem Spiel: die Beziehung, die Familie, das mühsam aufgebaute Glück. Die eigene Freiheit endet genau wie die des geliebten Anderen an der Tür zum Standesamt.

Doch nichts gegen die Ehe. Ein paar der Männer, für die ich die größte Liebe hege, sind verheiratet.

Das eigentliche Problem ist ja auch nicht die Institution selbst, sondern die Idee, die ihr zugrunde liegt: Monogamie, bis dass der Tod uns scheidet. Sexuelle Treue, bis dass wir uns wirklich nicht mehr sehen können. Wir – nur wir zwei – unsere Kinder und unser Erbe, das auf sie übergeht – sollte es nicht vorher durch einen langwierigen Scheidungskrieg aufgezehrt worden sein.

Alles wird von dieser Einheit erwartet: Dass sie diese zwei Menschen mit Liebe, Sex und Leidenschaft versorgt, heute und für immer, mit Freundschaft und Gesellschaft bis ins hohe Alter. In ihrem Buch Unsagbare Dinge nennt Laurie Penny das: Liebe®. Die sauber verpackte eine Liebe, „die Vorstellung, dass jeder Mensch eine verwandte Seele hat, die in alle Ewigkeit zu lieben ihm bestimmt ist, und dass das Leben erst vollständig sein kann, wenn man mit dieser Person Tisch und Bett teilt“, nennt sie nicht nur unglaubwürdig, sondern schlichtweg grausam. Weil es impliziere, dass alle versagt haben, die das nicht schaffen – und die das gar nicht schaffen wollen.

Diese Art romantischer Liebe sei der Erwerbsarbeit in letzter Zeit immer ähnlicher geworden: „Sie ist gleichzeitig alles verzehrend und prekär.“ Und Penny hat recht: Wir müssen uns unserem Job und unserer kleinen Liebe ganz widmen, mit allem, was wir haben. Denn sie können uns jederzeit entzogen werden. Zum Beispiel dann, wenn wir uns daneben zu sehr für anderes interessieren, freie Zeit oder andere Menschen.

Dieses Klima der Angst macht zögerlich und kleinlaut. Diese Art von Liebe schafft, so Penny, „selbstreproduzierende Familieneinheiten, jede isoliert in ihrem jeweiligen Kampf.“ Was wir aber oft so unspezifisch Liebe nennen – und womit wir meist die monogame Zweierbeziehung mit ihren Fluchtpunkten Ehe und Kleinfamilie meinen – ist gemessen an der Geschichte der Menschheit eine recht neumodische Erfindung und oft ein mehr als unordentliches, vielgestaltiges Gefühl.

Nur so eine Idee: Wenn die Liebe® für viele nicht funktioniert, müssen sich vielleicht nicht die Menschen selbst ändern, sondern die Menschen ihre Definition von Liebe. Das erfolgreichste und glamouröseste Paar der jüngeren Fernsehgeschichte, Claire und Francis Underwood aus der Serie House of Cards, pflegen und gönnen sich in einer unreinen Mischung aus Liebe, Freiheitsdrang, Machtspielchen und Kalkül ihre jeweiligen Affären. (Vor den Augen der Öffentlichkeit müssen sie freilich das brave Ehepaar spielen.) Irgendwann gegen Ende der zweiten Staffel verführen sie gemeinsam ihren Bodyguard – kurz darauf ziehen sie als Flotus und Potus ins Weiße Haus ein. Dass es für ihre jeweiligen Geliebten nicht gut endet, ändert nichts an der Tatsache, dass die Underwoods die offene Beziehung mit unerhört dunklem Sexappeal aufladen.

Von Bill Clinton, einem erklärten Fan von House of Cards, der bekanntlich sowohl Erfahrungen mit dem Weißen Haus als auch mit außerehelichen Affären hat, ist überliefert, dass er 99 Prozent dessen, was die Serie zeigt, für wahrheitsgemäß dargestellt hält. Der Gegenbegriff zu Liebe® könnte Große Liebe heißen. Weil sie immer mehrere betrifft als zwei und weil sie wie die Liebe von Eltern zum Kind oder die unter Freunden auch kein Nullsummenspiel ist, bei dem für den einen weniger übrigbleibt, wenn die andere mehr bekommt. Im Gegenteil.

Dazu müssen alle Beteiligten aufgeklärt sein, über sich selbst, die anderen und deren jeweilige Bedürfnisse. Sie müssen von sich selbst absehen können und überdurchschnittlich kommunikationsfähig sein. Sie müssen die missgünstige Form der Eifersucht als das erkennen, was sie ist: wie die Ehe vor allem etwas, das den eigenen Besitz wahren soll. Ein kapitalistisches Gefühl. Mein Haus, mein Auto, meine Frau, mein Sohn – und du lässt besser die Finger davon.

Ein unfreiwillig sehr treffendes Stück Musik zum Thema stammt von einem jungen Mann namens Robin. In einem YouTube-Video mit dem Titel Ich liebe dich rappt er ein Lied an seine Freundin Sarah. Darin die Zeile: „Und du weißt, ich werd’ dich immer richtig lieben/ Und packt dich einer an, dann fick’ ich diesen Hund“. Robin ist jung und unerfahren, er weiß nichts von der süßen Variante der Eifersucht, compersion, von der Faszination für den Rivalen. Aber er scheint sie zu erahnen und falsch zu interpretieren.

Wenn man sich von der traurigen Vorstellung befreit, dass Männer Jäger sind und Frauen Gejagte, ist die Große Liebe eine geschlechtsübergreifende Fantasie. Denn wenn Frauen frei über ihre Sexualität bestimmen können, wenn sie lieben können, wen sie wollen, bekommen in der Regel auch Männer mehr von beidem: Sex und Liebe.

Die Währung der Großen Liebe heißt nicht sexuelle, sondern emotionale Treue. Oder wie es in Rebel Boy auf Tocotronics jüngstem, dem sogenannten Roten Album heißt: „Ich will keine Punkte sammeln/ Gib mir nur ein neues Leben/ Ich will keine Treueherzen/ Kannst du mir Liebe geben.“

Das mit Thurston Moore und der anderen Frau währte übrigens nur kurz. War wohl nicht so wichtig. Kim Gordon hat heute Affären mit jungen Surfern. Ihre jeweilige Freiheit, die Option, sich mit 50 Jahren noch mal neu zu verlieben, Abenteuer – das alles hätten die beiden auch anders haben können. Wenn sie wirklich anders gewesen wären.