Ein Beat pro 25 Jahre

Essay
zuerst erschienen am 10. Juli 1997 in Süddeutscher Zeitung, S. 14

Warum zum Teufel geht das alle so entsetzlich langsam? Immer noch wird die Diskussion vom alten Vater-Sohn-Konflikt zwischen Wehrmachtsgeneration und 68ern bestimmt, sei es Goldhagen, Wehrmachtsausstellung oder der ARD-Film „Todesspiel“. Frührentner gegen 80jährige, als gäbe es nur einen kulturellen Beat pro 25 Jahre. Die Pioniere von House/Techno, der ersten eigenständigen Popkultur, die Deutschland (vielleicht seit der Operette) hervorgebracht hat, sind alle Mitte dreißig. Und doch gelten sie in den Augen der Öffentlichkeit als Jugendbewegung. Das ist traurig. Diese Jugendbewegung hat mit der Love Parade in den Punkt gestochen, wo es weh tut: beim Politikbegriff. Die Party, auf der alle Drogen nehmen, mit Trillerpfeifen den Haubenschnepfling aus dem Tiergarten vertreiben und zur grauenhaft stumpfen Musik wie nicht ganz dicht Tag und Nacht durchtanzen, das soll vergleichbar sein mit so ehrenwerten und ernsten Parolen wie „Hopp, hopp, hopp, Ellenbogengesellschaft stop“? Dabei ist die heutige Jugend doch bekanntlich unpolitisch. Wobei vergessen wird, daß den sogenannten politischen 68ern, die meistens nur 1972 einen Töpferkurs gemacht haben, das Soziologisieren und Adornisieren auch hauptsächlich dazu diente, Provinzhühner auf den Flokati zu ziehen; und nur ein paar arme Irre, die dazu zu blöd waren, sich wirklich das Gesamtwerk von Marx/Engels reingezogen haben. Was können deren Kinder, ach was Enkel, denn anderes tun, als mit rasierten Achseln und schweißüberströmt zu lauter Musik zu zucken, allein im Trockeneisnebel oder dichtgedrängt in der Masse?

Habt Sonne im Herzen!

Und dann sagt Dr. Motte im einzigen Zeitungs-Interview, das er dieses Jahr zu geben bereit war, zu dem Motto der Demonstration „Let the sunshine in your heart“: „Das Licht der Sonne erhellt die Dunkelheit, so daß wir alles erkennen können. Und sie wärmt auch. Das sind die Qualitäten, die ich mit Liebe und Mitgefühl ausdrücken würde.“ Verdammte Hybris. Wohl zu viele Pilze gegessen. Ein Ereignis wie die Love Parade kann nicht einfach vom Veranstalter zur Politik erklärt werden. Das ist irgendwie unverschämt.

Aber es ist doch ziemlich lustig; da hatte einer eine nette Idee – wie wäre es, wenn Menschen auf dem Kudamm tanzen? – und schwuppdiwupp, ein paar Jahre später wird daraus die größte Demo der Welt, mit Nachfolgern in Brighton, München, Hamburg, Melbourne und New York. Hunderttausende, vielleicht eine Million Menschen kommen da am Samstag nach Berlin und machen angeblich Politik, wo doch keine zu sehen ist. Eine Million, das wurmt. Das ist fünfmal mehr als die größte Demonstration der 68er, im Bonner Hofgarten, gegen den Nato-Doppelbeschluß. Und das war 1981.

Ein bißchen ist es mit der Politik so wie mit der modernen Kunst. Jede Generation steht da vor einer neuen Generation und fragt sich: Soll das Kunst sein? Im Museum traut sich natürlich keiner mehr, das laut zu sagen. Man schaut nachdenklich, nickt ein wenig, macht „hm, hm“, guckt sich die Bildunterschrift an, leider „Ohne Titel“, nickt noch etwas und geht zum nächsten Exponat. Alles, was als Kunst bezeichnet wird, ist auch Kunst, sagt man sich bequemerweise, als wäre das schon alles, was ein Werk zu sagen hat, und verläßt dann nach getaner Pflicht die Ausstellung, mit müden Beinen und leerem Kopf.

Was heißt hier Politik?

Diese Scham kennt man beim Politikbegriff noch nicht. Obwohl er verschwindet wie das schwarze Quadrat auf dem schwarzen Hintergrund bei einem Gemälde von Malewitsch. Schröder versteht sich mit Stoiber, die PDS akzeptiert Sparbeschlüsse der Berliner und der Erfurter Regierung, Geißler gilt als Linker.

Warum soll dann nicht ein friedliches Gruppenerlebnis auch identifikationsstiftend sein? Politische Demonstrationen sind wie die Kunst – manchmal Hammer, wie die Anti-Schah-Demo, manchmal Spiegel, wie die Love Parade.

Die Love Parade, so ihre Kritiker, sei umweltbelastend. Sie führt über die Straße des 17. Juni. Rechts und links davon ist eine Grünanlage, der Tierpark. Diese Strecke hat sich der Berliner Senat ausgedacht, weil die vielen Menschen hier weniger Schaden anrichten als in der Stadt. Der Senat zahlt freiwillig die Müllabfuhr für alle Demonstrationen, die Veranstalter der Love Parade zahlen freiwillig die Reinigung des Tiergartens. Die lizensierten Getränkeverkäufer arbeiten nur mit Pfand, gegen die Wilden hilft nur das Gewerbeaufsichtsamt, nachdem die Getränkeindustrie es abgelehnt hat, alle Händler zu Großhandelspreisen direkt auf der Parade zu beliefern und dann den Müll zu entsorgen. Es werden keine Flyer oder Werbegeschenke verteilt.

Im vergangenen Jahr hat der offizielle Eisverkäufer das Eis beim Verkauf ausgepackt und das Papier gesammelt. Richtig rührend. Natürlich wird auch dieses Jahr in die Grünanlagen gepinkelt werden. Wie bei jedem Bundesligaspiel, dem Oktoberfest und der Tour de France. Oder der Demo gegen den Nato-Doppelbeschluß.

Dr. Motte ist Jahrgang 60. Er hat alle Bundeskanzler der Republik miterlebt. Er hat also noch alle Zeit der Welt, in der CDU als Junger Wilder zu gelten, sollte er in den nächsten zehn Jahren in diese Partei eintreten. Dabei heißt es, unsere Gesellschaft sei dem Jugendwahn verfallen. Eigentlich sollte schon längst die nächste Generation bei den Mittdreißigern an die Tür klopfen und sagen: Mach Platz, Opa! Und sie mit einem noch verwirrenderen und wilderen Politikbegriff nerven. Aber was ist? Die Mittdreißiger müssen immer noch an die Tür klopfen, hinter der sich ihre Väter mit den Großvätern prügeln. Und sich mit 17jährigen Ravern verbünden, was für eine Schmach. Warum zum Teufel geht das alles so langsam?