Ritt durch Deutschland

Reportage
zuerst erschienen am 19. August 2000 in Frankfurter Rundschau Magazin Nr. 17, S. 8-9
Ein Mann, ein Tier, eine Idee: Früher reiste der Schriftsteller Lorenz Schröter rund um die Welt. Dann kaufte er sich einen Esel und zog mit ihm ganz gemächlich durch Deutschland, vom Hunsrück an die Elbe. Eine meditative Reise durch ein erstaunlich stilles Land.

Es ist August und alles ist grün. Bella, so heißt die Eselstute, kann es gar nicht fassen. So viel zu essen rigsrum! Leckeres Gras in der Spurrille vor uns, reife Weizenfelder recht und ein Wald von Mais links. Das reinste Paradies. Sie zerrt am Strick, bleckt die Zähne und zieht den Duft der Felder bis zu den Riechschleimhäuten ein. Man nennt das Flehmen. Ein Ausdruck von unendlicher Sehnsucht, von Gier und Junger. Dabei hat sie gerae gegessen, sie frisst eigentlich immer, und dünn ist sie auch nicht, weiß Gott nicht. 

Vor zwei Wochen bin ich im Hunsrück aufgebrochen. Da war ich noch schüchtern und habe höflich gerufen: „Bella, auf geht’s“ Bitte, Bella, du sollst mich als Herrn anerkennen. Bitte! Dann wurde ich autoritäter und es klappte. Nach ein paar Tagen waren wir ein eingespieltes Team.

Grüne Pflaumen liegen auf der Straße und vor allem Äfpel. Im Gras unter den Bäumen, da und dort hingekullert, halbe Äpfel, braune, angefaulte Äpfel mit Wespen und Käfern vollbesetzt. Bella bleibt stehen und nimmt das Obst vorsichtig, aber energisch, Wespen verrreibend, auf. Wenn der Apfel zu groß ist, fällt ihr die Hälfte nach dem ersten Bissen aus dem Maul, und sie bleibt kauend stehen, um auch den heruntergefallenen Rest zu fressen. Es ist mühselig, sehr mühselig. Wenn sie, noch kauend, aufs Neue mit einem plötzlichen Energieaufwand ins Feld rennen will, um noch mehr zu fressen, werde ich richtig wütend: „Schluck‘ erst mal runter!“ Außerdem bleibt sie beim Fressen immer stehen.

„Man kann auch kauen und gleichzeitig laufen, du faules Stück!“

Bella ist ein Poitou, erkennbar an den goldenen Haaren in ihren Ohren, ein Großesel und dementsprechend stark und schwer. Ich zerre also an der Leine. Unser täglicher, ach was, stündlicher Machtkampf. Sie will stehen bleiben und fressen, und ich will vorwärts. Das Gemeine ist, dass mein Esel dauernd frisst, während ich schrecklichen Hunger habe. Denn wenn man so durch Deutschland wandert, kommt man nur langsam vorwärts. Etwa vier Kilometer die Stunde wenn alles gut geht, ohne die Rastpausen. Ungefähr so schnell wie mit einem quengelnden Kleinkind an der Hand. Da wir quer durch das Land ziehen und alle Städte meiden, erreichen wir nur alle zwei, drei Stunden einen Ort.

In den wenigsten Dörfern gibt es heute noch Gasthäuser und auch immer weniger Edekas und Rewes. Finde ich mal so einen Laden, hat er garantiert Mittagspause. Auch die Gasthäuser haben dauernd Ruhetag. Im nächsten Dotf, nach sieben Kilometern, gibt es zwar ein Gasthaus das macht aber erst abends auf. So geht das schon die ganze Zeit. Ich bekomme einfach nichts zu essen. Immer bin ich zu spät oder zu früh. Es ist erstaunlich, wie leer die Dörfer sind. Ganz Deutschland ist ausgestorben.

Wir kommen in ein Dorf. Bellas Hufe klappern auf dem Asphalt. Von den Häuserwänden hallt es zurück. Niemand da. Geranien hängen an den Balkonen, ein Rasenmäher stehen im Garten, eine Garagenrür steht offen, ein Kinderfahrrad liegt davor Aber keine Menschenseele zu sehen. Wo sind die denn alle? Sind sie in die Stadt gefahren, in die nächste Videothek? Odet stecken die Bewohner im Keller und halten die Luft an? Es gibt ein Kinderbuch von A.S. Neill, dem Gründer der Summerhill-Schule, in dem hat eine atomare grüne Wolke alles menschliche Leben ausgelöscht und nur die Gegenstände übrig gelassen. So sieht es hier aus.

Der Esel genießt die Eindrücke der Reise. Die großen Ohren drehen sich unabhängig voneinander in die Richtung, aus der ein interessantes Geräusch zu hören ist. Plack-plack, wie ein U-Boot-Periskop. Manchmal, wenn eine Mororsäge aufheult, ein seltsamer Vogel schreit, bleibt det Esel stehen und lauscht.

Bella glaubt wahrscheinlich, dass wir durch die Landschaft laufen, um sie aufzufressen. Mein Motiv ist da ein anderes. Ich hasse zwar diese Frage: Warum ziehsr du mit einem Esel durch Deurschland? Denn ich frage ja auch niemanden: Warum sitzt du am Abend auf dem Balkon und gießt die Pflanzen und schaust danach die Tagesschau an? Die möglichen Antworten auf die Frage nach dem Motiv klingen immer etwas einfältig. So Reinhold-Messner-mäßig. Zum Beispiel: an die Grenzen gehen. Das will ich auf keinen Fall, an die Grenzen gehen. Da könnte man auch auf einem Bein hüpfen oder einen Weltrekord im Dauerduschen aufstellen. Können wir also die Frage, warum ich mit einem Esel durch Deutschland ziehe, noch etwas aufschieben? Ja? Danke.

Wir kommen in den Wald. Schlehe und Ginster wuchern in den Schneisen, es riecht nach Bärlauch daneben steht schulterhoher Fingerhut. Bella frisst alles. Immer wieder bleibt sie stehen, jetzt muss sie unbedingt Buchenblätter fressen. Oder alte Zweige. Der Eichelhäher warnt die Tiere vor mir. Aber der Eselsgeruch überdeckt den meinen. So wird das Wild später als üblich auf uns aufmerksam. Rehe brechen durch das Unterholz, ein Fuchs fliegt in leichtfüßif flachen Sprüngen und starrt auf den verwilderten Waldweg verwundert zurück. Stundenlang wander wir weiter, ohne eine Menschenseele zu treffen.

Es geht hinunter in tiefe und modrige Waldschluchten. Ganz oben, über dem Blättergrün, leuchtet die Sonne. Zwei alte Jäger sitzen vor ihrer Hütte und trionen Bier. „Willst du auch eins?“ Es ist elf Uhr morgens. „Nein danke. Haben Sie vielleicht Wasser?“ Wasser haben sie nicht. Zwei Jagdhunde bellen, neben dem beiden Jägern stehen sechs Kreuze, wie bei Anna Seghers, hier sind ihre alten Hunde begraben. Die Jäger sitzen da und trinken friedlich ihr Bier im Wald. Die beiden müssen früh aufgebrochen sein, weg von zu Hause, um hier in aller Ruhe nichts zu tun und dabei Bier zu trinken. Wenn man lange genug still sitzt, fangen die Waldvögel wieder an zu zwitschern. Das Holz knarzt im Hintergrund. Und manchmal weht ein Wind zwischen den Ästen. Man wird von selber friedlich, wenn man nur hockt und Bier trinkt. Friedlich in der Natur kompostieren, si wie alles hier friedlich kompostiert.

„Nach Hauptschwenda? Da kommst du doch gerade her.“ Ich habe mich verlaufen und bin im Kreis gegangen. Das kann man vielleihct in der Sahara oder Antarktis machen, aber im Westerwald? Ich starre [9] auf meine Landkarte. Wie wichtig auf einmal Hauptschwenda geworden ist. Die Jäger heben zum Abschied stumm ihre Bierflaschen.

Die Reise habe ich direkt vom Schreibtisch aus begonnen. Ich glaube nicht an Training und Vorbereitung. Fast zwei Jahre habe ich in den einschlägigen Magazinen wie Pferdemarkt und Reiter Revue nach einem Großesel gesucht. Denn das war mir klar: Mit so einem Mini-Esel aus dem Streichelzoo kann ich im Tierfreundland Deutschland nicht herumziehen, ohne gesteinigt zu werden.

Als ich dann endlich Bella gefunden hatte, sie hat 2000 Mark gekostet, bin ich losgezogen. Ich saß vorher noch nie auf einem Esel oder gar auf einem Pferd. An Reitunterricht dachte ich auch nicht. Was sollte schon passieren? Schlimmstenfalls würde das Tier stehen bleiben. Genauso ist es gekommen. Bella bleibt gerne mal stehen, und ich ziehe. Dann läuft sie nach einer Weile weiter. Immer weiter nach Osten. Bis an die Elbe. Jeden Tag 30 bis 40 Kilometer.

Der Eselin tut die Reise gut. Sie war ein wenig fett geworden, und langsam wird ihr Weidebauch auf unserer Reise schlanker. Verfettung ist die häufigste Todesursache für Esel in Deutschland. Die werden sonst nur gestreichelt. Es täte ihnen schon ganz gut, hin und wieder mal zu wandern. Auch wenn man sie dafür ein wenig prügeln muss.

Nicht immer haben wir Glück und ziehen auf leisen Wanderwegen durch idyllische Landschaften. Auf den Straßen fegen die Autos an uns vorbei. Wir beide, der Esel und ich, ziehen uns in unser jeweiliges
Inneres zurück. Wie indische Asketen, die die Welt
verneinen. Wir gehen automatisch vorwärts, die
Gepäcktaschen schleifen manchmal an den Leitplanken. Alle 50 Meter steht ein Leitpfosten. Davon
muss es Millionen geben. Niemand hat jemals die
Leitpfosten gezählt. Seit wann gibt es sie überhaupt?
Bewachen sie die Straße oder die Landschaft? Auf so
einer Straße, wo die Autos rasen, als hätten sie ein
Ziel, da muss man einfach weiter lindern und darf
nicht viel denken.

Mäusefellfetzen sprenkeln dii Straße, von den rasenden Reifen immer weiter in den Teer gedrückt, bis der braun-weiße Flaum darin ganz versunken und abgeschliffen ist. Beim Vorbeiwandern sind es Dutzende pro Minute. Auf dem Asphalt liegen ausgewalzte Igel, blutige Innereien quellen unter dem zerknickten Stachelfell hervor. Platte, silbrige Schlangenleichen, Tauben und Meisen mit zerbrochenen Flügeln liegen am Straßenrand. Das sind noch die Glücklichen mit dem schnellen Tod.

Im Graben liegen die, die es noch ein paar Meter geschafft haben und dann dort, wer weiß nach wie langer Zeit, verreckt sind. Das Kaninchen sieht noch fast heil aus. Ist es innerlich verblutet oder mit gebrochenen Läufen verhungert? Von einem Katzenkopf hat sich das Fell vom Schädel zurückgezogen, als wäre es im Tod zu klein geworden. Das fleischlose Maul mit den spitzen langen Zähnen grinst, die leeren Augen starren wütend zurück zur Straße, direkt zu mir. Wie ein Fluch. Das wäre mal ein interessantes Bodendesign für das Küchenlinoleum: flache Fauna.

Ein kleines, rotes Auto mit einem Rentner hält an. Er kurbelt das Fenster runter und will mir ein Zweimarkstück geben. „Hier für den Esel. Damit er was zu fressen kriegt.“ Danke, aber wir haben alles, was wir brauchen. „Nehmen Sie doch, für das Tier.“ Ich habe genug Geld, und auch der Esel hat genug zu essen. Das hat Bella wirklich. Aber der tierfreundliche Rentnet lässt nicht locker, und dann rutscht mir ein böser Satz raus: „Lassen Sie doch das Geld. Ich habe sicher mehr als Sie.“

Beleidigt rast er davon. Mir tut es sofort schrecklich leid. Wie konnte ich nur einen armen, alten Mann so kränken? Ein junger Vagabund soll mehr Geld haben als er nach einem arbeitsreichen Leben? Ich schäme mich. Die zwei Mark hätten mir auch nicht weh getan.

Weiter als Hauptschwenda kommen wir heute nicht. Dort betreibt ein Dorfbewohner als Nebenerwerb einen Getränkehandel. Ich trinke in seinem Hof zwei Limonaden. Bella riecht den Stall, das Heu, da will sie hin. Gegenüber, auf der anderen Seite, ist eine freie Wiese, ein Fußballplatz. Da will ich übernachten, aber mein Esel will sich nicht von dem Heugeruch trennen und bleibt stehen. Irgendwann lasse ich sie einfach auf dem fremden Hof, schnalle Sattel und Gepäck ab und trage beides vor das Fußballtor. Dort mache ich es mir gemütlich. Endlich kapiert auch das Tier, dass wir jetzt hier bleiben, und kommt angetrottet. Es knabbert das hohe Unkraut bei den gefällten Holzstämmen ab, die als Zuschauertribüne dienen.

Wir schlafen diese Nacht unter freiem Himmel, ohne Abendbrot für mich, aber dafür gibt es eine satte Wiese für den Esel. Es ist noch erwas zu früh, um zu schlafen, aber ich habe nichts zu tun. Der Akku meines Handys ist leer.

Warum ich das hier mache, die existenzielle, fast schon theologische Frage von Bruce Chatwin: Was mache ich hier? Ich lausche einem einsamen Insekt, das wie ein Hubschrauber über die unendliche Weite der Wiese brummt. Vielleicht deshalb. Oder klingt das kitschig? Vermutlich.

Es ist dunkle Nacht, und riesige, weiße Flecken flammen auf. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos werfen ihr Licht auf die Wand des Waldrands. Es sieht aus wie ein Gespenstertuch. Tiefschwarz steht Bella auf der Wiese, ihr massiger Schädel zum Boden geneigt. Obwohl sie nicht angebunden ist, bleibt sie immer in meiner Nähe und grast. Ein Urvieh. Ich schlafe weiter.

Am Morgen wache ich auf, mit Eselscheiße neben mir. Genau wie letzte Nacht, als wir unter der dicken Linde übernachtet haben. Machst du das eigentlich absichtlich, Bella?