»The Life Naija«

»The Life
Ghanatic«
Tagebuch

15.12.

Im schmalen Hofstreifen hinter dem Haus, gleich unter dem Küchenfenster auf dem Beton, lebt seit vergangener Woche eine Ziege. Ihr Besitzer hat sie dort an einem kurzen Seil festgebunden, sie kann wahlweise stehen oder liegen. Alle anderen Ziegen, Schafe und Hühner laufen tagsüber im Viertel herum und fressen, was sie eben finden. Anders als im muslimischen Norden sieht man im zu größten Teil christlichen Accra paradoxerweise keine Schweine. Baby-Schweinebeine, die über die Straße huschen, das war in Burkina einer der lustigsten Anblicke überhaupt. Besonders dort ist es sinnvoller, ein Tier großzuziehen als eine Aubergine.

Als ich mal jemanden fragte, wie die Leute bei all den freilaufenden Viechern wüssten, welche ihre sind, sagte der: »Nicht die Menschen wissen das, die Tiere kennen ihr Zuhause.« Wenn man ein Tier einfach klaue, sei man eben ein Dieb, sowas verbiete sich also von selbst (Gott bzw. Allah bzw. die Ahnen sehen alles).

Die Ziege im Hinterhof meckert tagsüber immer mal wieder, den ganzen Abend und dann wieder ab kurz vor Sonnenaufgang. Obwohl: Meckern trifft es nicht, es sind langgezogene Schreie, die sich sehr menschlich anhören. Sie leidet. Wenn es ganz unerträglich wird, gehe ich runter und streichle sie. Dann beruhigt sie sich. Das Fell riecht gut – nach Ziegenkäse. Ich komme mir ein bisschen vor wie eine hinterhältige Cartoon-Figur, über deren Kopf angesichts des kleineren Tieres eine Denkblase mit der fertigen Mahlzeit schwebt.

Ich kann die Ziege nicht befreien. Sie gehört einem Nachbarn, der sie als Weihnachtsgeschenk mit zu seiner Familie nach Cape Coast nehmen wird - wahrscheinlich wie üblich im Koffer- oder Fußraum eines Trotros. Ich kann auch niemandem erklären, dass die Art, wie er das Tier hält, grausam ist. Weil: Ist sie ja gar nicht im Gegensatz zu dem, wie es da gemacht wird, wo ich herkomme. Und wenn die Ziege morgen als Spieß auf dem Grill liegen sollte, werde ich sie essen. Weil Selbstkochen so viel teurer und aufwendiger und schweißtreibender ist als das Straßenessen. Weil ich niemanden habe, der für mich einkauft und/oder kocht. Weil ich, so sehr ich es mag, nicht drei Monate lang Bohnen mit frittierter Kochbanane essen möchte, Jollof-Reis ohne alles oder wattiges Weißbrot mit Käse, der 5000 Kilometer weit eingeflogen wurde. Ich kenne eine, die in Japan - wahrscheinlich dem Land mit der besten Küche der Welt - drei Wochen lang bei McDonald’s Pommes aß, weil sie nur da sicher sein konnte, dass es vegan war. Ich will so nicht leben. Aber wenn ich Ghana verlasse, war’s das wieder mit dem Fleisch. Dann ergibt es wirklich keinerlei Sinn mehr.

Sobald ich aufstehe und zurück ins Haus gehe, fängt die Ziege wieder an zu schreien. Hier wird Weihnachten am 25.12. gefeiert. Noch zehn Tage.

14.12.

Ghana, Krankheiten und der Tod:

Die Leute sterben hier also früher, aber auch viel öfter als bei uns, jedenfalls dem Anschein nach, weil die traditionellen Beerdigungen gut hör- und sichtbar sind, und die christlichen Toten in ihren Wohnvierteln mit bunten Plakaten betrauert werden. Man wird praktisch jeden Tag damit konfrontiert, dass Menschen sterben. »Gone To Soon«, »Home at Last« oder »Celebration of Life« steht über einem Foto des oder der Verstorbenen, dazu das Alter, eventuelle Spitznamen, die Daten der Totenfeier und der Bestattung, die Namen der chief mourners: der trauernden Familienmitglieder und engen Freunde. Nie wird die Todesursache genannt. Das wäre aufschlussreich. Gleichzeitig: Wer weiß schon so genau, woran die Menschen wirklich sterben.

Die angebliche Meningitis an der Kumasi Academy, die ein paar Tage später in der Presse als Schweinegrippe identifiziert wurde, war in Wahrheit eine Art Denkzettel. So erzählt mir das Ben, mit dem ich mich über den Freiluftmarkt der Stadt drängele, mit mehr als 10.000 Händlern der größte Westafrikas (Ben erzählt mir auch, dass die Männer mit den Wickelkleidern, Leopardenkappen und Schwertern, die ich auf der Beerdingsfeier sah, früher die executioners des Ashanti-Königs waren. Henker trifft es nicht - sie köpften die Totgeweihten, daher die Schwerter). An der Schule hätten ein paar Mädchen eine Clique gebildet und spirituelle Kräfte zu ihrem Schutz angefordert. Allerdings hätten sie ignoriert, dass die Inanspruchnahme dieser Schutzkraft bestimmte Rituale verlange. Die Geisterwelt habe wegen der übertretenen Regeln etwas geschickt, das diese Mädchen eines nach dem anderen dahingerafft habe. Als das erledigt war, sei der spirituelle Führer des Ashanti-Königshauses an die Akademie geschickt worden, um den Ort zu reinigen. »Sie sagen jetzt, es sei die Schweinegrippe gewesen. Aber was es in Wirklichkeit war, wird nie jemand erfahren«, sagt Ben. Jedenfalls werde es nun vorerst keine weiteren Toten geben.

Sofort nachdem der klimatisierte Bus, den ich am Tag zuvor nach Kumasi genommen hatte, endlich losgefahren war, fing ein Typ mit Leder-Basecap, Gucci-Polohemd und Hermès-Gürtel im Gang gleich neben mir seine Verkaufsshow an. Ich hatte davon gehört, aber es war noch viel ätzender als erwartet: Anderthalb Stunden lang brüllte er auf Twi herum, schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust oder wahlweise auf die Plastik-Gepäckfächer über den Sitzen. Ich verstand nur ab und zu ein Wort wie »Diabetes« und musste mir ein Ohr zuhalten, um einigermaßen in meinem Buch lesen zu können. So sauer. Als ich mich bei einem Mitreisenden über die ungefragt veranstaltete Butterfahrt beschwerte - dafür hätte ich nicht bezahlt -, zuckte der die Schultern und sagte: »Das ist eben das Business«. Irgendwann packte der Ledertyp auch das Wundermittel aus, das er zu verkaufen gedachte: kleine weiße Schachteln voller Pflanzensamen, es sah aus wie Schwarzkümmel oder Moringa. Zehn Cedis die Packung. Immerhin war der Humbug nicht sonderlich teuer. Ich war trotzdem endlos genervt. Diverse Leute dagegen kauften. Und der Glaube an ein Medikament oder eine Therapie kann ja auch heilen.

Am Krater-See Bosomtwie komme ich auf Elodies Ranch unter, wo sie mit ihrem Mann und den zwei kleinen Söhnen, acht Herbergs-Angestellten, neun Pferden und zwei Katzen lebt. Elodie also fragt, ob ich die Nachrichten verfolge, wegen der Schweinegrippe. Ich erzähle ihr die Geschichte, die ich darüber gehört habe. Sie ist französische Atheistin und versucht seit neun Jahren, in denen sie hier ist, die Logik hinter dem spirituellen Glauben zu verstehen. Es falle ihr schwer, sagt sie. Auch sei es kompliziert nachzuvollziehen ob oder wie die Widersprüche, die sich zwischen dem Kirchen- und dem traditionellen Glauben auftun, kognitiv versöhnt werden. Ihre katholisch-ghanaische Schwiegermutter sei vor einiger Zeit langsam blind geworden und nachdem die Ärzte in den Kliniken alle zu demselben Ergebnis gekommen seien, nämlich dass die Sehkraft der Dame nicht zurückzuholen sei, hätte es die Familie jahrelang bei allen möglichen Fetischpriestern versucht. »Die behandelten die Augenkrankheit wie einen Geist, der von jemand anderem in böser Absicht über die Mutter gebracht wurde, aus Rache oder Missgunst.« Aber auch alle exorzistischen Rituale hätten keine Verbesserung gebracht, »Also abgesehen vom der Verbesserung im Geldbeutel der Fetischpriester«, sagt Elodie verächtlich. Im Vergleich erscheint die christliche Herangehensweise an Krankheiten als von Gott gesandte sinnvolle Prüfung, die man durchleben muss, dann fast wieder vernünftig.

Der von Regenwald gesäumte Krater-See, den ein 800 Meter breiter Meteorit vor mehr als einer Million Jahren in die Landschaft gehauen hat, gilt bei den Einwohnern als ein Ort, den die Seelen der Verstorbenen bei ihrem Übergang in die Ewigkeit besuchen. Ein lokales Tabu verbietet, dass das Wasser mit Metall in Berührung kommt, deswegen benutzen die Fischer seit Jahrhunderten ausschließlich schmale, aus einem Baumstamm geschnitzte Holzfloße. Gerudert wird mit den Händen. Am Westufer steht ein Fetisch im Wasser, ein an eine große Kleckerburg oder einen Termitenhügel erinnernder Haufen aus Matsch, Holz und Stroh, gesprenkelt mit Hühnerschiss. Unerklärlicherweise gibt es hier keine Moskitos und angeblich auch keine Bilharziose, aber darauf will ich mich nicht so gern verlassen. Über dem See hängt seit zwei Tagen der Harmattan, die grauen Staubschleier vor der Sonne und in der Luft machen es unmöglich zu sehen, wo das Wasser aufhört und der Himmel beginnt. Eine einzige große Waschküche, nur in trocken und heiß.

Was man oft sieht, sind Erwachsene mit deformierten Beinen. Ich nehme an, sie haben Polio. Am Straßenrand stehen im ganzen Land Schilder, auf denen Kräutermediziner ihre Expertise in allen möglichen Krankheiten bewerben, unter anderem: madness - Irrsinn. Epilepsie gilt in Teilen der Bevölkerung als Geisteskrankheit. Um die sich im Zweifel die Kirche kümmert, man kann sich vorstellen wie. Im Krankenhaus, das teilweise als Verwahranstalt für solche Fälle fungiert, wissen sie es manchmal besser. In jedem größeren Ort habe ich bis jetzt ein oder zwei obdachlos umherstreifende Männer und Frauen gesehen, staubig, mit verfilzten Haaren und entweder unfassbar viel Kleidung an oder so gut wie nackt. In einer Gesellschaft, die so viel Wert auf Familie und Gemeinschaft legt, würde man eigentlich erwarten, dass keiner ohne Zuhause ist, sondern immer irgendwo Aufnahme findet. Nicht die sogenannten Verrückten. Mohammad, erstaunt angesichts der Berliner Obdachlosen, erzählte mal: So etwas kenne er nicht aus dem Vorkriegs-Syrien, Obdachlose habe es selbst in der Großstadt Damaskus nicht gegeben.

Im Norden, in Gambaga, liegt das sogenannte Hexendorf, in dem seit dem 19. Jahrhundert Frauen Unterschlupf finden, die man in Ghana, Burkina Faso oder Togo verstoßen hat. Weil die Ernte schlecht war oder jemand ohne erkennbaren Grund starb und man die Frauen des bösen Zaubers verdächtigte. Im Hexendorf sind sie sicher, und ein Leben lang isoliert.

In Kumasi werden von der ghanaischen Gesundheitsbehörde zur Stunde 87 neue Verdachtsfälle von Schweinegrippe gemeldet. Frauen und Männer.

11.12.

Die Meninghitis an der Kumasi Academy war die Schweinegrippe und ist angeblich unter Kontrolle. Ich beschließe, in die Stadt zu fahren, wo seit Tagen die Beerdigungsrituale für die verstorbene Queen Mother der Ashanti andauern. Nana Afia Kobi Serwaa Ampem II war seit 1977 Asantehemaa, also als Mitglied der Ashanti-Königsfamilie eine enge politische Beraterin des jeweils amtierenden Königs. Letztes Jahr im November verstarb sie 111-jährig (ihr Alter schwankt in jedem Zeitungsartikel, den ich dazu lese, aber sie war ururalt – fast zweimal die ghanaische Lebenserwartung) Nach einem Jahr finden nun die Festivitäten statt. Gestern wurde ihre Nachfolgerin installiert, es herrschte in der gesamten Stadt Ausgehverbot, alle zwei Millionen Einwohner Kumasis waren angehalten, von  21 bis 2 Uhr nachts ihre Häuser nicht zu verlassen, alle Geschäfte hatten geschlossen. Schwer vorstellbar, wo doch fast das gesamte Leben auf der Straße stattfindet, aber war wohl so.

Die Reise von 270 Kilometern wird sechseinhalb Stunden dauern, zwei brauche ich allein für die ersten drei Kilometer zum Bahnhof. Es ist Sonntag und alle in der Kirche, es dauert dementsprechend lange, bis die Fahrzeuge voll sind. Ehe der Reisebus losfährt, ist es kurz vor 9 Uhr.

Am Ortseingang nach Kumasi haben sie eine der riesigen Werbetafeln durch ein Bild der verstorbenen Queen Mother ersetzt: 1905 - 1916. You will be forever missed. Endlich angekommen, springe ich in ein Taxi und lasse mich zum Manhyia-Palast bringen. Auf den Freiflächen davor sitzen unter Sonnendächern schon Hunderte Menschen in schwarz-weiße Stoffe gehüllt, essen, trinken und warten. Ich frage einen der Herumstehenden nach Kaffee, er läuft geduldig mit mir übers Gelände, aber sowas gibt es hier heute nicht. Wie sich herausstellt, ist Adjei Mitglied der Palast-Musiktruppe, er nimmt mich mit in den Innenhof, vorbei an mit Maschinengewehren bewaffneten Uniformierten. Was ich immer für ein Glück habe. Adjei stellt mich der Band vor: vier Sängerinnen, zwei Trommler, Adjei und ein zweiter spielen jeweils ein metallenes Instrument, das Ähnlichkeit mit einem Croissant hat und mit einer Art Schraubenzieher geschlagen wird. Er erklärt mir, dass sie immer vor Ort sein müssen, wenn der Ashanti-König im Palast ist. Seit zehn Tagen sagten sie alles andere ab und seien hier. Gerade sei der König mit seiner Entourage in der Kirche, seine Ankunft wird in den nächsten Stunden erwartet.

Ich schaue einer anderen Band beim Spielen zu. Vor ihren Trommeln tanzt ein Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt: Sie trägt eine breite silberne Kette um den kleinen Kopf, ein zum Kleid gewickelten Stoff, bunte Ketten an Armen und Beinen. Sie tanzt barfuß mit kleinen Schritten kreiselnd in der Runde herum, bewegt den oberen Teil ihres Körpers unabhängig vom unteren und die Arme noch mal anders, es wirkt zugleich selbstvergessen und absolut kontrolliert, ihr Blick ist stolz, fast ein wenig verächtlich. Adjei sagt anerkennend: »Sie ist sehr gut«, ich antworte: »Sie ist unglaublich«. Ich habe so was noch nie gesehen, es ist endlos faszinierend und auch ein wenig beängstigend, ein wenig wie die geisterhaft synchron tanzenden Kinder in Pjöngjang, bei deren Anblick man gleichzeitig lachen und weinen will, weil es so unwirklich aussieht und weil man den Drill dahinter ahnt. Nur ist das hier viel schöner. Die Leute geben ihr Geld, indem sie ihr Scheine an die Stirn halten. Wer nichts zahlen kann, hält Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand über ihren Kopf, das zählt auch als Anerkennung.

Der Hof füllt sich derweil mit Gästen, die an Tischen unter weißen Sonnendächern Platz nehmen. Die Feier ist öffentlich, der Dresscode, das war zuvor auf der königlichen Website zu lesen gewesen, lautet: schwarz-weißer Adinkra. Es wurde extra ein Stoff mit dem Bild und den Lebensdaten der Queen Mother gedruckt, den man auch vor Ort kaufen kann. Die Frauen tragen eng anliegende Kleider und Kopfputz, bedruckt mit den Akan-Symbolen für Glauben, Wahrheit und das Königshaus, die Männer Togen aus denselben langen Stoffbahnen, die ihnen von der Schulter rutschen, was später das Tanzen erschweren wird. Eine Gruppe von Männern hat Schwerter bei sich und kleine Kappen in Leopardenmuster auf dem Kopf, ihren Stoff tragen sie als eine Art Wickelkleid unter der Brust. Auf den ersten Blick sehen gleich aus, auf den zweiten alle verschieden voneinander. Viele Chanel-Sonnenbrillen, Moschino-Taschen, dicke goldene Uhren, sehr hohe Stilettos, aufwendige Frisuren, Make-up, großes Hallo, ein einziges Fest. Wen auch immer ich frage, ob ich sie oder ihn fotografieren darf, wirft sich bereitwillig in Pose. Ein Ashanti-Sprichwort besagt, dass man alles dafür tun sollte, Reichtum zu erlangen - selbst seine Oma kann man verkaufen. Ist man erfolgreich, kann man sie später immer wieder zurückerwerben.

Die wichtigen Leute laufen ein, erkennbar an Alter, Körperumfang und daran, dass sie unter seidenen Sonnenschirmen laufen, die jemand anders für sie hält. Dann rollt die Entourage des Königs heran. Zuerst Motorräder mit Blaulicht, die Fahrer machen mehrmals die Runde durch den Hof und vollführen dabei Stunts: stehen auf den Sitzen, fahren Schlängellinien, heben beide Hände in die Luft. Die Leute stehen Spalier und lachen sich kaputt. Dann kommen mehrere Range Rover mit verspiegelten Scheiben, das Volk winkt, dann geht die Party weiter. Offene Bar, offenes Buffet, an Alkohol nur der ganz harte Stoff: Adonko Bitters – sehr beliebt mit 42 Prozent; Schnapps, Whiskey aus Viereinhalb-Liter-Flaschen. Zum Essen Reis, Hühnchen, Fisch. Die Leute stehen geduldig an, tanzend, nur hier und da kommt es zu kleinen Drängeleien, die einer derer mit Schwert schlichtet.

Der Platz, auf dem Adjeis Band spielt, wird zur Tanzfläche: Den Anfang machen ältere Frauen, nach und nach kommen immer mehr Leute dazu. Das Zentrum des Geschehens ist eine beleibte Dame, vielleicht 60, die irgendwann einen Stapel Ein-Dollar-Noten auf die Band regnen lässt, als sei das hier ein Stripclub. Ein junger Typ in seinen Zwanzigern tanzt sie an und zusammen vollführen sie eine lustig grimassierende Choreografie, die um sie herum heben ihre Zeige- und Mittelfinger.

Ich stehe neben dem Boxenturm, schon halb taub, tanze ein bisschen, bekomme ein paar Zeige- und Mittelfinger, und als es dunkel geworden ist und der Whiskey längst alle, verabschiede ich mich und fahre in mein Hotel mit dem sleazy Namen Daddy’s Lodge, das ansonsten aber ganz okay ist. Mir klingeln die Ohren.

9.12.

Der falsche Ehering übrigens: schöne Idee, aber meist sinnlos.

Als ich neulich aus der Gallery 1957 kam und auf der Suche nach einen Taxi die Gamel Abdul Nasser Avenue hinunter lief, sprach mich ein blau uniformierter Security-Typ der UN an, der vor dem Gebäude Wache hatte. Die ersten fünf Sekunden des Smalltalks reichen normalerweise für die Frage nach Namen, Ehestand und Telefonnummer. Aus Recherchegründen und mit dem erneuten Hinweis auf meinen Ehering gab ich sie ihm. Nur selten ruft dann auch wirklich jemand an. Es ist, glaube ich, eher die Idee, dass man es könnte, die zählt. Andere Möglichkeit: Jemand, mit dem man eine Weile verbracht hat oder ein Stück zusammen gereist ist, erkundigt sich Tage oder Wochen später nach dem Befinden: »Hallo, wie geht’s dir?« - »Danke, sehr gut. Und dir?« - »Okay, gut! Mir auch. Hab noch einen schönen Tag!« - »Bye!«

UN-Joseph aber schickt eine SMS:

»Hi, My Beautiful Queen. How We Doing? I Miss U To The Bone. I’m Sitting Here Lonely Thinking About You My Good Friend

Dass man recht schnell Freunde ist oder sisters, wenn es sich um Frauen handelt, meinetwegen. Aber der Quatsch mit der Königin geht zu weit. Außerdem liest sich das mit den ganzen Versalien wie irgendwo herauskopiert. Also bitte.

»LOL. Does this normally work for you? I really hope so. As for me: I’m no queen, and certainly not yours. I am not even your good friend – not in my world. And what exactly are you thinking about after having talked for 10 seconds? Let me know, please!«

Er ruft dann noch einmal an. Aber da habe ich die Forschungen zum Thema Dating and Mating einstweilen eingestellt. Wegen unüberbrückbarer Differenzen. So komme ich da nicht weiter.

Ich schreibe Naa, einer politisch aktiven Unternehmerin und zweifachen Mutter, der ich seit geraumer Zeit auf Facebook folge. Ob ich sie mal zum Thema Genderfragen und Feminismus befragen dürfe? Sie antwortet: »Sure. Anything to support women’s research and women in research.« 

8.12.

Third-World Problems:

Die Fenster sind wie überall mit diesen Glasjalousien ausgestattt, deren milchige Lamellen jeweils so breit sind, dass im waagerecht gestellten Zustand eine Katze darauf Platz hat. Der angenehme Wind, der vom Atlantik her durch die vor den Jalousien fest installierten Insektennetze ins Haus hineinweht, bläst beim Kochen ständig die Gasflamme aus. 

Die Moskitos (ich nenne sie jetzt nur noch Dirty Needles), die es trotz allem ins Haus schaffen, hören einfach nicht auf zu stechen. Von wegen Trockenzeit. Mit aller Macht klammern sie sich ans Leben und meine Adern, die Arschgeigen. 

Der Bauarbeiter, der die Wohnung in der zweiten Etage renoviert, hört den ganzen Tag Bob Marley. Wenn er Feierabend hat, übernimmt jemand draußen auf der Straße den Reggae-Dienst und macht einfach weiter mit der Beschallung. Ich meine: Wie oft am Tag kann man Buffalo Soldier und diese andern drei Lieder hintereinander spielen? 

Um dem Sound zu entkommen (und weil ich prokrastiniere), verbringe ich ein paar Stunden bei Photo Club. Dort machen sie Passbilder und Porträts und verkaufen die passenden dunklen Holzrahmen dazu. Ob ich gern ein afrikanisches Porträt hätte, fragt die Angestellte mit der kinnlangen Lockenperrücke. Sie zeigt auf ein gerahmtes Bild einer Frau im Ashanti-Outfit. »Na ja, wenn ich schon mal da bin.« Sie klatscht vor Freude in die Hände und nimmt mich mit in den Hinterraum des Studios, der Verkleidekammer. Aus einem pinken Plastikkoffer holt sie drei unterschiedlich breite, gewebte Stoffbahnen, das geometrische, gelb-grün-blau-orange Muster heißt kente, und hält sie mir nacheinander hin. »Den schlingst du dir als Rock um die Hüften. Den bindest du dir um die Brüste. Und daraus mache ich dir ein Kopftuch.« Dazu neun Holzperlenketten für Arme, Füße und um den Hals, goldene Sandalen und als Accessoire einen dieser Pferdehaarpuschel aus dem Fetischpriesterbedarf. Roter Lippenstift. Als sie fertig ist, ruft sie angesichts ihres Werks mehrmals »My friend! So beautiful!«. (Ich verzichte darauf, mir vorzustellen, was das ganze Szenario umgedreht wäre: Sie in Deutschland in einem traditionellen Outfit.) 

Ihre Kollegin hinter der Kamera ist nicht ganz so enthusiastisch. »Du hast deine Tasche auf den Boden gelegt«, stellt sie ganz richtig fest. Als ich den rechten Arm in die Hüfte stütze, um irgendwie Beyoncé-mäßig stolz auszusehen, fragt sie mich ohne eine Spur von Boshaftigkeit in der Stimme, ob ich Rückenschmerzen habe. Ich frage zurück, was sie denn an meiner Stelle mit dem freien Arm machen wurde. Sie nimmt ihn, legt ihn in Position und sagt: »Du schwitzt«. Auch damit hat sie recht. »Immer«, sage ich. »Für euch ist bei 30 Grad kühl, aber für mich ist es immer noch heiß.« Irgendwann findet sie dann doch Gefallen an der Sache. Mit Blick auf meinen falschen Ehering sagt sie: »Your hubby is going to love this!«. 

Die Retusche betreibt sie sehr gewissenhaft. Während sie sehr lange mit dem Mauszeiger auf dem Bildschirm herumwischt, schaue ich mir die ausgestellten Fotos des winkenden Präsidenten in der Kente-Toga an, und die Aufnahmen, für die sich Pärchen als Chief und Queen Mother verkleidet und nebeneinander gesetzt haben. Am Ende fragt mich Dorcas, wie sie sich jetzt vorstellt, ob sie das Foto bei sich im Laden ausstellen dürften. »Klar«, sage ich. Mir gefällt die Idee, dass ich in ein paar Jahren nach Accra zurückkomme, und dieses ein wenig lächerliche Bild dann immer noch hier hängt. 

7.12.

Am Morgen sitze ich mit meinem Vermieter Toufic herum und befrage ihn zum Forschungsprojekt Die Länder Westafrikas und ihr Ruf unter Ghanaern. Toufic hat schlechte Erfahrungen mit den Grenzbeamten in Togo gemacht, die ihn von oben herab und wie einen Bittsteller behandelten. Er bringt es auf folgende Formel: »Die Engländer haben drei Dinge nach Ghana gebracht: schlechtes Essen, Bürokratie und Höflichkeit. Die Franzosen nach Togo: gutes Essen, guten Wein und fragwürdiges Benehmen«. Die schlechte Reputation Nigerias unter Ghanaer erklärt er sich damit, dass viele Nigerianer ambitioniert und erfolgshungrig seien, was manche Ghanaer als egoistisch und hochmütig interpretierten. Nigerianer würden für ihre Meinung einstehen, hier dagegen gelte es als respektlos, wenn zum Beispiel ein Schüler mit einem Lehrer diskutiert.

Am Nachmittag schaue ich mir die aktuelle Ausstellung in der Gallery 1957 an, die trotz (oder gerade wegen) ihrer Lage in der zum Kempinski-Hotel gehörenden Mall die beste der drei Galerien Accras ist. Peter, der dort als Assistent arbeitet, hat im Februar den Studentenpreis des panafrikanischen Filmfestivals in Ouagadougou gewonnen, Preisgeld: zwei Millionen CFA. Davon könnte er sich in Burkina drei Monate lang Breitband-Internet leisten. Er hat Verwandtschaft in Aachen, aber seine Tante hat ihn mit den Worten »Deutschland ist ein Dorf, fahr’ lieber dahin, wo du was erlebst« bislang von einem Besuch abgehalten. Er war dann in Nigeria und hat es geliebt. Weil alle dort wüssten, dass Ghanaer eher »langsame Lerner« seien (seine Worte) seien alle extra-entspannt mit ihm umgegangen. »Wir sind die Goldkinder Westafrikas« sagt er und dass Ghanas erster Präsident nach der Unabhängigkeit, Kwame Nkrumah, viel für die anderen Länder getan habe. Das hätten diese nicht vergessen.

Zum Abendessen kehre ich bei Master’s Fast Food auf der Lokko Street ein, eine Hütte mit vier Tischen, in der die Hitze des Tages gespeichert ist. Es gibt zwei Gerichte: Jollof-Reis oder gebratenen Reis. Was sie nie dazu sagen, ist, dass der Reis nicht trocken kommt, sondern es Fleisch dazu gibt, in diesem Fall einen gebratenen Hühnerschenkel, außerdem Krautsalat und scharfe Sauce. Ich bleibe der einziger Gast und schaue die Nachrichten, die auf einem kleinen Fernseher unter der Decke laufen, Bild und Ton heillos asynchron.

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An der Akademie von Kumasi ist am Dienstag eine junge Frau gestorben, der elfte Todesfall dort seit März. Noch haben sie keine Ursache ausfindig machen können, jetzt werden alle Studenten gegen Meningokokken geimpft.

Es ist Tag sechs von 15 im finalen Beerdigungsritus für die Queen Mother der Ashanti in Kumasi, Asantehemaa Afia Kobi Ampem II, die letztes (!) Jahr im November 109-jährig verstarb, nach fast vier Jahrzehnten der Regentschaft.

Der anlässlich des National Farmer’s Day zum erfolgreichsten Bauern des Jahres ernannte 50-jährige Aweku Agyman erhält 100.000 Dollar Preisgeld. (Der rundgesichtige Präsident will den Berufstand, der für nur noch 22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verantwortlich ist, wieder für die Jugend attraktiv machen.)

Der Häuptling von Tamale hat die Marktfrauen zur Ordnung gerufen. Sie sollen sich nicht mehr gegenseitig mit Flüchen belegen.

In den Dörfern Gomoa und Odembo gibt es ein Müllproblem, erste Fälle von Typhus werden gemeldet.

Dutzende erzürnte Kunden haben das Kundencenter einer staatlichen Prepaid-Kreditkarten-Firma gestürmt, nachdem das Aufladen der Karten nicht funktioniert hatte.

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Auf dem Heimweg kaufe ich in der Bude gegenüber ein 15-Liter-Pack Wasser und transportiere es auf dem Kopf nach Hause, wie ein Profi. (Ich habe den Männern übrigens Unrecht getan: Lange dachte ich, sie könnten abgesehen von ein paar Bahnen Stoff und anderer leichter Fracht nichts auf dem Kopf transportieren. Bis mir gestern einer mit einer Nähmaschine entgegenkam – ein Schneider, der die Straße auf der Suche nach Aufträgen hinunterging und mit zwei Stücken Metall klapperte, um auf sich aufmerksam zu machen; das schwarze, eiserne Gerät trug er auf einem Kissen gebettet auf dem Haupt, freihändig.)

Mittwoch ist der kleine Freitag. Die Kirchen versorgen das Viertel stundenlang mit Gospelgesang und frenetischem Jubel. Für alle, die nicht beten, dröhnt auf der Straße Musik aus den Boxen.

6.12.

Neulich am Pool eines der teureren Hotels im Umland: Zwei junge Ehepaare mit je einem Kind im Vorschulalter. Eine der Frauen mit Kopftuch, die andere trägt die langen Haare offen, die Männer in bunten Polohemden. Sie sprechen Arabisch und Französisch miteinander, mit den Kindern reden sie zusätzlich Englisch. Libanesen, vermute ich; die machen die größte Gruppe von ghanaischen Immigranten aus. Mit dabei hatten sie zwei einheimische Nannies, die, während sich die Ausflügler auf den Liegestühlen einrichten und die Frauen die Kinder in Badehosen stecken, wortlos daneben stehen. Die Mütter sprechen meist nur indirekt zu den Nannies, durch die Kinder. Dann übergibt man die Kleinen den Aufpasserinnen, die mit ihnen Planschen gehen sollen. Schwarze Frauen: überall auf der Welt die Hilfsarbeiterinnen wohlhabenderer Familien (also: wenn gerade keine Philippinas zu haben sind).

Auf dem Weg zurück nach Accra wird das vollbesetzte Trotro von der Highway Patrol angehalten. Alle zwei Dutzend Fahrgäste müssen aussteigen, aber nur zwei Typen in ihren Zwanzigern ihre Taschen durchsuchen lassen. »Wir tun das nicht, weil wir euch verdächtigen«, sagt der eine Polizist und bleibt die Antwort auf die Fragen nach dem Warum dannschuldig. Junge, melaninbegünstigte Männer: überall auf der Welt ständig unter Verdacht. 

Davon unabhängig das bestimmende Gefühl des Tages: nichts als kalter Hass für Trump. 

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