»The Life Naija«

»The Life
Ghanatic«
Tagebuch

23.12.

Am Straßenrand an der Küste entlang in Richtung Westen gibt es Rohrratte zu kaufen, genau wie etwas mit langem, schwarz-weiß geringeltem Schwanz – eine Katzenart oder ein Affe, ich kann es nicht genau erkennen. Wie ich im Econimist lesen muss, ist Rohrratte wie alles Buschfleisch doch problematisch, wegen Ebola und weil die unregulierte Jagd das Ökosystem zerstört. Mann! 

Die von mir wegen ihrer Quacksalber ungeliebte VIP-Busgesellschaft wirbt auf Social Media u.a. damit, allen ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Stammes- und Volkszugehörigkeit die gleichen Jobchancen einzuräumen. Für die Religion gilt das offenbar nicht, die Quacksalber an Bord sind immer Christen. Diesmal sind es gleich zwei hintereinander, sie lassen die Passagiere »Amen« sagen, bevor sie ihre Mittelchen auspacken. Der Bus passiert Kormantse, einer von Louis Armstrongs Vorfahren wurde von hier aus auf Plantagen in der Karibik verschifft; ein Ur-Ahne von Michelle Obama sah Afrika das letzte Mal in Cape Coast, nicht weit von hier. 

In Elmina übernachte ich im One Africa Health Resort, das allein so heißt, weil es Massagen anbietet. Direkt vor dem Hotelgelände brechen sich gewaltige türkise Wellen auf den braunen Felsen, davor Palmen. Ich kann nicht glauben, dass ich seit Monaten in einem Land am Atlantik bin und noch nicht einmal darin schwimmen war. (Ich frage dann später noch einmal genau nach. (Merke: Präzise formulieren. Es gibt Strände, es gibt saubere Strände, Strände zum Schwimmen und welche, um nass zu werden) und erfahre, dass man morgens an einer Stelle sehr wohl ins Wasser gehen kann, ohne von der Strömung mitgerissen zu werden).

Die schlohweiß-rastalockige Hotelbesitzerin stammt aus Chicago. Ich beziehe die strohgedeckte Hütte, deren Wände mit Fotos von Malcom X geschmückt sind, das angeschlossene kleine Museum hängt voller Bilder, Zeitungsausschnitte und Dokumente, die sowohl die Sklavenunterdrückung als auch die gesellschaftliche und politische Bedeutung Schwarzer in der Welt dokumentieren. Bibelzitate beweisen, dass Jesus schwarz war, mit kupferfarbenen Füßen. Eine Wand ist Pionier-Frauen gewidmet, Sojourner Truth, Maya Angelou, Condolezza Rice. Karikiert wird der ganze pan-afrikanische Ansatz e i n  w e n i g  durch die offensichtlich seit den 80er-Jahren ungebrochene Liebe der Hotelière zu einem afrikanischen Diktator. Über dem Eingang zur Rezeption steht: »His Excellency President Robert Mugabe«, hinter dem Tresen hängt neben Bildern von Obama und Kwame Nkrumah ein Zeitungsartikel mit dem Bild des zwischenzeitlichen Ex-Präsidenten: »Zimbabwe: We will not capitulate«. Nun ja. Auf dem gesamten Gelände herrscht übrigens Rauchverbot. Zigaretten verteufeln, Unterdrückung bekämpfen und Diktatoren verehren – Joachim würde sagen: Wie unterschiedlich die Menschen doch sind. Und Ullis Oma: Nicht ärgern, nur wundern. Was ja generell ein gutes Lebensmotto wäre.

22.12.

Immer noch keine Rohrratte gegessen. Dabei ist es das ideale Fleisch: Die Tiere sind eine Plage, in den Felder schädigen sie die Mais- und Zuckerrohr-Ernte. Das Züchten klappt anscheinend nicht so richtig gut, es handelt sich also bei also meist um freilaufendes bush meat. Die Upperclass-Damen auf dem Dinner neulich schwärmten davon: Das sei so, so gut und dem Verzehr von Schlange auf jeden Fall vorzuziehen.  

Ich laufe also im Viertel herum und frage diverse Leute, wo ich wohl grascutter finden könnte, irgendeine der vielen Chop-Bars muss doch welches haben. Leider nein. In der Regenzeit kämen die Tiere in die Felder, sagt man mir, dann könne man losziehen und welche fangen. »Ich rufe meinen Bruder an, der kann dir vielleicht eine besorgen«, bietet einer an. Aber ich will keine vier Kilo schwere Ratte in meiner Küche zubereiten. Ich will sie nur essen.  

Es liegt eine geschäftige Vorfeiertagsstimmung in der Luft: Am Straßenrand stehen fertig gefüllte und in Zellophan verpackte Präsentkörbe (viel Whiskey), es werden Reissäcke in Kofferräume verladen (ein beliebtes Geschenk), Frauen laufen mit Lockenwicklern in den Haaren umher (die Festtagsfrisuren), auf einmal ist auch in Läden etwas los, die ich noch nie offen gesehen habe. Vor allen rattern kleine Generatoren – Stromausfall. An einer Ecke werden Lautsprecher geputzt und schwarz gestrichen, damit sie wie neu aussehen.

Wie viel Wert immer auf das ordnungsgemäße Erscheinungsbild von Dingen gelegt wird. Im staubigen Souvenir-Laden des Mausoleums von Kwame Nkrumah, dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit, wickelte der Verkäufer mir meine Waren erst in Zeitungspapier ein, um sie dann in die obligatorische schwarze, dünne Plastiktüte zu stecken. Auf meinen Protest hin sagte er: »Aber was sollen die Leute denken, wenn sie das Halbverpackte sehen und erfahren, dass du das hier gekauft hast, im Souvenir-Shop des Kwame-Nkrumah-Mausoleums«. (An jedem Stand und jeder Kasse wieder erkläre ich, dass ich für eine Flasche Bier oder eine Limette keine extra Plastiktüte brauche, ich habe ja eine Tasche dabei. Jedes Mal wieder gelte ich damit als mindestens wunderlich. Als sie mich im Lara Mart einmal auslachten, sagte ich: »Die Plastiktüten bringen uns eines Tages alle um und dann werdet ihr an meine Worte denken«. Ich wirke wie eine irre Verschwörungstheoretikerin, das ist mir auch klar.)

Als ich die Rohrrattensuche aufgegeben habe, lande ich im Buka, einem der angesagtesten Restaurants der Stadt mit einer Filiale in New York. Entweder handelt es sich bei er Jeunesse dorée accrabien um Gastro-Mormonen wie ich oder der Laden ist so gut, dass er auch um 15.30 Uhr bumsvoll ist. Der Gastraum befindet sich im ersten Stock auf einer nach zwei Seiten offenen Terrasse. Statt in Plastikschüsseln, die zum Tisch gebracht werden, wäscht man sich die Hände in zwei Waschbecken hinter einer Stellwand. In einer Ecke spielt eine kleine Band: ein Keyboarder und einer, der leiernd dazu singt - keine Weihnachtslieder, sondern Afrikanisches -, während er auf seinem Telefon Whatsapp-Nachrichten tippt. 

Die Leute sind entweder mit Freunden hier oder zum Geschäftsessen hier, in Hosenanzügen, Kostümen und dem, was sich hier political suit nennt. Einer trägt einen im Glencheck-Muster – dreiteilig, komplett mit Weste, Krawatte und Einstecktuch. Ich kann nur immer wieder staunend vermerken: 31 Grad, 85 Prozent Luftfeuchtigkeit. (Eine meiner Hosen schimmelt. Mir kam sie schon lange eigenartig schwer vor, jetzt wachsen überall weiße Flecken. Merke: Leinen-Viskose-Gewebe speichern offensichtlich auf ungute Art Feuchtigkeit.)

Es gibt Perlhuhn in Erdnuss-Suppe und frischen Palmwein – mein neues Lieeeeblingsgetränk. Sieht so ähnlich aus und schmeckt so ähnlich wie Federweißer, nur besser. Man trinkt ihn aus einer halben Kalebasse, eine Art Kürbis, der am Baum wächst. Neue Geschäftsidee: Palmwein-Import. Als Janne und ich 2005 in London in rauen Mengen Ginger Beer tranken, dachten wir kurz darüber nach, es nach Deutschland zu importieren. Ein paar Jahre später tauchte es dann in Berliner Bars als Zutat für diverse Drinks auf. Ich sehe eine große Zukunft für Palmwein als Sommer-Aperitif. 

20.12.

Bemerkenswert:

Das Bücherregal in der Apotheke: Neben 100 Ways To Make Sex Spectacular steht Muammar al-Gaddafis My Vision.  

Dass die Ghanaer »Oh, sorry!« sagen, wenn jemand anders stolpert, etwas fallen lässt oder sich den Kopf stößt. Als hätten sie schuld daran. Jemand sagte mal: »Wir empfinden den Schmerz mit«.  

Der Slang im Trotro. Ich habe zum Beispiel erst jetzt verstanden, dass für aussteigen das mir bis dahin unbekannte Verb to alight benutzt wird. Dachte immer, es heißt »I will enlight at the next stop« als hätte das was mit Aufklärung zu tun oder, wahrscheinlicher, mit Religion. Der mate, dem man seinen Aussteigewunsch mitteilt, nennt den Fahrer »my masta«.

Dass geglättetes Haar relaxed genannt wird. Das Gegenteil ist ja der Fall: Es wird sehr aufwendig in Form gebracht und darf dann bloß nicht mit Wasser in Berührung kommen. Krauses afrikanisches Haar steht also permanent unter Spannung, während glattes per se als locker gilt. (Zum Frisuren-Business ein anderes Mal. Lange Geschichte.) 

Dass der stärkereiche, sättigende und in meinen Augen uninteressantere Teil eines Gerichts immer zuerst genannt wird: Fufu mit Sauce, Yam mit Sauce, Reis mit Sauce, Banku mit Tilapia. Das Beste sind und bleiben frittierte Kochbananen, Rest egal. 

Dass Besucher die verloren gehende afrikanische Authentizität beklagen, zum Beispiel angesichts der sehr beliebten indonesischen Indomie-Instant-Nudeln, während sie als Ausdruck ihrer Weltläufigkeit zu Hause Burger oder Sushi (die es hier auch gibt) verspeisen. Weil Instant-Nudeln aus dem Asien kommen, das nicht Japan ist, weil sie viele sind und billig?

An Tag 11 ihrer Gefangenschaft schreit die Ziege nicht mehr. Ich fürchtete erst, meine heimlich gefütterten Äpfel und Maronen hätten sie über Nacht umgebracht, aber sie steht einfach nur noch da, ihr Widerstand gebrochen.

Vieler meiner Mails nach Europa landen im Spam oder werden gleich vom Empfänger-Postfach abgewiesen, auf Webseiten mit Login muss ich immer wieder Sicherheitspasswörter eingeben. In Burkina ging die Google-Suche oft einfach nicht oder nur unter diversen Captcha-Hürden. Erwäge eine Klage gegen die Mailserver, wegen Diskriminierung. Auch schlimm: Auf Youtube bekomme ich jetzt Werbung des Mormon Channel vorgespielt. 

19.12.

Als Kontrastprogramm zum Vortag und der Vollständigkeit halber bitte ich Hamza, mich nach Agbogbloshie zu begleiten. 

Wir nehmen ein Taxi quer durch die Stadt und laufen ein Stück, bis wir am Rand der Müllkippe stehen. Hamza geht voran, grüßt ab und an jemanden mit »Salam Aleikum«, ich gehe hinter ihm her und tue dasselbe. Berge von Plastikbehältern, einer gelb, der andere blau, daneben weiß. Lila Coral-Waschpulver-Behälter, blau-rote Wassertüten, grüne Wasserflaschen. An einem Gerüst hängt eine Paketwaage mit Haken, gleich dahinter werden Leinensäcke voller Plastik in einen Schredder geworfen, heraus kommen bunte Schnitzel, die auf einer Decke in der Sonne ausgebreitet werden, bevor sie, erklärt Hamza, in den Weiterverkauf gehen. Müllkippe klingt irreführend chaotisch, hier herrscht ein sichtbares System, Ordnung sogar. 

Neben der Plastikabteilung liegt die für Elektroschrott. Urplötzlich ändert sich der Sound, statt von Häckselgeräuschen ist die Luft von metallischem Klonken erfüllt. Wohnhütten, dort, wo man die Erde sieht, ist sie tiefschwarz von Öl und Asche, überall anders sitzen Jungen und Männer inmitten von Metallhaufen und bearbeiten mit Hammern, Meißeln und Macheten die Rückwände von Kühlschränken, Waschmaschinen-Innenleben, Automotoren, Kabel. Alu zu Alu, Kupfer zu Kupfer, Rost zu Rost. Dazwischen türmen sich Autoreifen auf, Karossen, stehen antike Druckermaschinen der Firma Myford (Nottingham, England) und intakte Kinderfahrräder zum Verkauf. Uns kommen zwei junge Männer entgegen, jeder von ihnen trägt fünf alte Laptops auf dem Kopf.

Dafür, wie viele Menschen hier leben und arbeiten - 40.000 sollen es sein -, ist es eigenartig still, fast friedlich. Null bedrohlich jedenfalls. Bis auf das geschäftige Hacken ist wenig zu hören, alle gehen ihren Jobs nach. Zwei kleine Jungen spielen Verstecken in einem ausgeweideten Kühlschrank, zwei Männer ein Brettspiel. Eine Köchin verkauft aus in zwei Blecheimern heraus Mittagessen, ein Handyhüllenverkäufer dreht seine Runden, Mädchen verkaufen Wasser, einer lässt sich von einem anderen mit dem Rasiermesser die Haare schneiden, wie immer freilaufende Hühner und Ziegen. Agbogbloshie unterscheidet sich nicht von vielen anderen Orten Ghanas, nur dass es vom hiesigen und europäischen Wohlstandsmüll lebt. Im Gegensatz zu anderen Städten aber wird hier nichts achtlos fallengelassen, sondern alles einer Verwendung zugeführt - entweder nebenan direkt weiterverkauft (Schrauben, Muttern, Unterlegscheiben, Federn, Kugeln aus den Kugellagern), verbaut (Öl- und Kerosinfässer zu Metallmöbeln) oder eingeschmolzen. Nichts, gar nichts wird verloren gegeben. Alles ist wertvoll, selbst die ausgekratzten Kokosnussschalen, die verbrannt und zum Fischräuchern benutzt werden. Es riecht nicht besser oder schlechter als irgendwo anders. Aber es ist auch trocken gerade. In der Regenzeit versinkt hier alles in schwarzem Matsch und Pfützen. Jemand hat Agbogbloshie mal den giftigsten Ort der Welt genannt. Und wer hier als Burner arbeitet, also Plastik verbrennt, um an die Metalle zu kommen, stirbt mit Mitte 20 an den Schäden durch die Dämpfe, die er permanent einatmet. Agbogbloshie wird auch Sodom und Gomorra genannt. 

Die Einwohner sind interne Arbeitsmigranten, fast alle von ihnen stammen aus Tamale im muslimischen Norden. Am Rand der Siedlung angekommen, dort, wie Rauchschwaden aufsteigen, es riecht es nach Plastik. Vor uns tut sich eine fußballfeldgroße Fläche voll plattgetrampeltem Müll auf, darauf ein paar Jungen und eine Herde Zebus - Rinder, die auf Plastik grasen.

 Wir drehen rum und verlassen den Schrottplatz in Richtung Zwiebelmarkt, gleich daneben. Säckeweise rote Zwiebeln, Hunderttausende, ein Händler neben dem anderen, durchs nichts zu unterscheiden, jeder bietet »Quality Products«, alle Ziebeln stammen aus Niger. Sie gelten als leichter zu verarbeiten und besser als die heimischen. Der Zwiebelmarkt geht nahtlos in den Agbogbloshie-Markt über. Bankgebäude, ein Pepsi-Werk, ein Partei-Büro der New Patriotic Party, ein Parkplatz, auf dem ein alter deutscher Transporter steht: »Öko-Qualität mit Sicherheit«, eine reisige Markthalle, deren Geschäft sich bis auf die Straße ergießt: Second-Hand-Kleider und -Schuhe, Ingwer, Yam, frische Chili, getrocknete Chili. Ein junger Mann hängt auf einem flachen Hausdach Wäsche auf, Bettler unter Sonnenschirmen, eine Händlerin, die vor sich einen Reissack voller weißer Kristalle stehen hat, ruft: »Madam, lokales Salz!«. Ich lehne dankend ab, genau wie die Kokosnüsse, Mangos, Ananas und Melonen, die links und rechts zum Verkauf stehen. Ein wenig lächerlich, weil der Großteil des Obstes und Gemüses, das man in Accra kaufen kann, über diesen Markt in die Stadt gelangt. Ein Truck kämpft sich durch die Passantenmenge, auf der Scheibe steht: »No condition is permanent«. Na dann ist ja gut. 

Am Abend bin ich zurück in Osu, sonnenversenkt und mit brennenden Augen. Die Ziege im Hinterhof schreit sich ein weiteres Mal in den Schlaf. 

18.12.

Kurz vor Ende des Jahres bekommt mein Sozialleben noch einmal einen interessanten neuen Aspekt: die Welt der wachsende oberen Mittel- und Oberschicht Accras, die Expats und Zurückgekehrten. 

Selassie wurde hier geboren und ist in New York aufgewachsen, nach Jahren bei der UN im Südsudan, dem Senegal und Kenia ist sie zurück in der Stadt. Als Spitzenköchin veranstaltet sie einmal im Monat ein großes Garten-Dinner mit dem, was sie New African Cuisine nennt: alles von hier, angepasst an den zeitgenössischen verfeinerten Geschmack, dazu gibt es Wein, der innerhalb von Minuten im Glas warm wird. Meine Tischnachbarn adoptieren mich umstandslos. 

Emefa hat ghanaische, libanesische und englische Wurzeln, sie nennt sich afropolitan. Sie ist mit ihrer gut gelaunten Mutter, ihrem stark an Dapper Dan erinnernden Vater und zwei ihrer leicht gelangweilten, jüngeren Brüdern gekommen. Sie betreibt ein Modelabel und ist angehende Yogalehrerin. Gefragt, wie sie auf die ständigen Werbungsversuche der Männer reagiert, sagt sie, sie erzähle entweder, dass sie ein Transmann mitten im geschlechtsangleichenden Prozess sei oder dabei, Nonne zu werden. Beides funktioniere. Poem (»Man spricht es Pumm aus, also nicht ganz so prätentiös«) ist Niederländerin, lebt aber in Ghana, seit sie zwei Jahre alt ist. Zusammen mit ihrem Mann, einem Deutsch-Ghanaer, dessen Mutter aus Leipzig stammt, betreibt sie einen Laden für afrikanisches Kunsthandwerk. Als ich sage, dass sie mir die nächste Frage verzeihen soll, sagt sie, ich solle mich nur für nichts entschuldigen, niemals: Und ja, sie habe bis vor zwei Jahren, also bis sie  59 Jahre alt wurde, ihre Unterwäsche selbst gewaschen, von Hand. Eine Waschmaschine habe auch sie nicht, wegen der wenig verlässlichen Wasserversorgung. Stattdessen besitze sie um die 100 Unterhosen, das reiche eine Weile. Weihnachten werde sie im Bett verbringen, wo sonst. Sie schaut etwas genervt zu Pamela, Handtaschendesignerin, die an jedem der fünf Gänge etwas herumzumäkeln hat und vor allen anderen verschwindet. 

Am nächsten Tag besuche ich einen Kindergeburtstag, 20 Kilometer nordöstlich von dort, wo ich wohne, in einem Vorort namens Baatsoona. Naa hatte auf Facebook öffentlich eingeladen, alle, die am Sonntag nichts besseres zu tun hätten. Ihr älterer Sohn wird zehn Jahre alt. Auf ihre Zusage hin fuhr ich zur Accra Mall, auf der Suche nach einem Geschenk. Auf der Fußgängerbrücke, die über die Spintex Road führt, laufen wie immer bettelnde Kinder umher - Migranten aus Niger, Mali, Tschad und dem Sudan. Einer ihrer Tricks ist es, sich an die Beine von Passanten anzuklammern, bis die ihnen Geld geben. Gesehen habe ich das schon, passiert ist es mir zum Glück noch nicht. 

In der Mall kaufte ich eine Wasserpistole, der Supermarktangestellte im pinken Hemd riet mir dringend, für einen Jungen lieber die grüne statt die pink-lilafarbene zu nehmen, wie ich es eigentlich vorhatte. Auf der Geburtstagsfeier dann (ich finde sie nur, weil Naa mir über Whatsapp ihren Standort sendet), bemächtigen sich sowieso zuerst die Mädchen des Spielzeugs, das Trampolin ist kurz uninteressant. Es läuft Pharell Williams und Taylor Swift, ich lasse mir vom Kokosnuss-Mann mit der Machete eine Frucht öffnen und trinke das Wasser, dazu gibt es frisches Popcorn, Palmwein, ein Reis-Fleisch-und-Salat-Büffet und zwei dreistöckige Sahnetorten. Für die Erwachsenen eine mit Bailey’s, auf der jugendfreien steht: »You Are 10 - The Galaxy Is Your Limit!« 

17.12.

Was fehlt: 

Die Möglichkeit, unsichtbar zu sein - in der Menge zu verschwinden. Jeder meiner Schritte wird wahrgenommen und manchmal auch kommentiert: »Geht es dir gut? Ich habe dich gestern gar nicht gesehen« oder »Ich habe dich gestern gesehen, du hattest eine Mango und Bananen gekauft«. Rrrright. Verloren gehen kann ich so aber auch nicht. Irgendjemand weiß immer, wo ich gerade stecke. 

Die Möglichkeit, einigermaßen unkompliziert von hier nach da zu kommen. Um nicht völlig durchgeschwitzt und pünktlich zu Terminen in den teureren Gegenden im Norden Accras zu erscheinen, benutze ich Taxis, die kosten halt zehn Mal so viel wie Trotros. Uber boykottiere ich, aus Prinzip. Einladungen kommen mit ellenlangen Wegbeschreibungen. Viele Straßen haben mindestens zwei verschiedene Namen, die aber meist sowieso niemand kennt, sichtbare Hausnummern existieren nicht, Taxifahrer orientieren sich an Gebäuden, die mir oft nichts sagen, Google Maps wiederum kennen sie oft nicht, es irritiert sie, die Stadt auf einer so kleinen Karte zu sehen, manche sind zu eigensinnig, um sich von mir den Weg weisen zu lassen, wenn ich sage, ich sei da auch noch nie gewesen etc. pp. Im Zweifel kann man denjenigen, den man besuchen möchte, immer anrufen, das Handy an den Taxifahrer weiterreichen und die andere Person den Weg beschreiben lassen. Im Stau (werktags von 6.30 bis 9.30 Uhr und 16 bis 19.30 Uhr) steht man aber so oder so. Ein Moped wäre perfekt, aber auch ein bisschen selbstmörderisch. (In Jamestown, dem historischen, hafenstadtmäßigen Teil von Accra, jagden gestern Dutzende Motorräder die Straße auf und ab, darauf je zwei Jugendliche mit Whiskeyflaschen in der Hand, dazu eine Handvoll Autos, aus deren Fenstern jeweils sechs Leute hingen, Füße auf den Polstern, Hintern freischwebend, Hände in der Luft, 80 km/h, Hupkonzert, Gejohle. Sie gehörten zu einer Beerdigung; die Frau neben mir – die Kirche hatte gerade einen Schwall Besucher freigegeben – sagte: »Schau sie dir an, wie sie ihr Leben riskieren.« Ich fand es ein bisschen toll, aber das sagte ich ihr nicht.)

Was nach wie vor nicht fehlt: 

Europäische Weihnachten. Es hat erfreulich lange gedauert, bis sich das sogenannte Fest bemerkbar machte. Weihnachtslieder (Joy To The World und Last Christmas in supercheesy Versionen) laufen schon länger, aber erst seit vergangener Woche sind die Läden geschmückt: draußen sind Säulen und Balkone mit grünen und roten Stoffen umwickelt, drinnen: goldene Girlanden, Kugeln, blinkende Plastikbäume. Auf der Straße verkaufen sie billige Weihnachtsmannmützen mit einer blinkenden 2018 darauf, manche Trotro-Fahrer und mates tragen die. Bekloppt, aber auch lustig. Ich habe damit nichts zu tun. 

Auf einmal laufen sehr bunt kostümierte junge Männer mit Strohmasken im Gesicht herum und sammeln Geld. Es sind Fante, die irgendeinen einen brasilianischen Brauch übernommen haben. Überhaupt: Gruppen von Leuten, die zu sehr lauter Musik hinter einem massiven Soundsystem hinterher rennen, tanzenderweise. 

Das Fest findet für die Christen selbstverständlich in der Kirche statt. Manche Gottesdienste dauern schon an jedem gewöhnlichen Sonntag vier Stunden, ich kann mir also ungefähr denken, was an Weihnachten los ist. Das wäre der Tag, an dem ich fast unbeobachtet die Straßen Accras entlanggehen könnte. Was die Moslems machen, werde ich nicht mit eigenen Augen sehen (Nichts besonderes wahrscheinlich. Toufic für seinen Teil ist mit seiner Frau zu ihrer Familie nach England gefahren, »zum Frieren«, wie er sagte, dabei schüttelte es ihn. Hamza, der im Immigrantenviertel Nima lebt - im poshen Norden der Stadt nennt man es einen Slum -, hat mich zu einem Weihnachtsessen eingeladen, das sie dort veranstalten). Ich bin trotzdem zufrieden mit meiner Entscheidung, in Begleitung einer Flasche südafrikanischen Weißweins (mein Weihnachtsgeschenk an mich selbst, einem Laden namens Say Cheers! sei Dank) an einen Strand ganz im Westen zu fahren (275 Kilometer, sechs Mal umsteigen, zwei Tagesreisen), an der Grenze zur Elfenbeinküste. Dort soll es Schildkröten geben; gerade ist die beste Schildkrötenbeobachtungszeit. 

16.12.

Großthema Körperlichkeit: 

Es fängt damit an, dass ein Kind die ersten paar Jahre seines Lebens, mindestens bis es laufen kann, aber auch darüber hinaus, von seiner Mutter oder ersatzweise einer älteren Schwester, einer Tante oder Großmutter in einer Bahn Stoff auf dem Rücken umhergetragen wird. Ich habe bislang genau einen Kinderwagen gesehen und das war, wie Hunde an der Leine, ein sehr außergewöhnlicher, fast absurder Anblick. Die Frau knickt mit durchgestreckten Knien so in der Hüfte nach vorn, dass der Oberkörper senkrecht zum Boden ist, in derselben Bewegung wird das Kind an einem Arm auf den unteren Rücken gehoben oder es klettert selbst, dahin, wo das Hohlkreuz ist. Das Tuch wird darüber geworfen und im Aufrichten einmal so um den Oberkörper geschlungen, dass die Babybeine rechts und links herauskucken, ein fester Knoten, die Schwerkraft und die Brüste halten alles an Ort und Stelle. Wenn es sein muss, kann so ein weiteres Baby vor dem Bauch getragen werden. Jungen und Männer benutzen kein Tuch, tragen Kinder aber auch manchmal auf dem Rücken. Wer zwei Jahre lang von unterschiedlichen Menschen auf diese Weise transportiert wurde, ist körperliche Nähe gewohnt, stelle ich mir vor. 

Das Stillen passiert, wann immer das vom Rücken herunter gekletterte Kind danach verlangt und an Ort und Stelle: beim Essen, im Gespräch mit anderen, im vollbesetzten Trotro – dazu sind die großen Ausschnitte der Kleider gut –, und ganz ohne das Diskretionstuch, das bei uns gern über die Angelegenheit gebreitet wird. Geschäftsidee: heilsame Kulturschock-Reisen für hysterische Amerikaner und andere Menschen, die den Anblick weiblicher Brüste von ihren Gedanken an Sex und was weiß ich noch trennen können wollen.

Direkt gegenüber des Eingangs zu dem Haus, in dem ich wohne, befindet sich die Toilette der dazugehörigen compound (es gibt, soweit ich weiß, keine gute Übersetzung für diese Art von mehr oder weniger abgeschlossenem Hof mit einer oder mehreren Wohnungen darin. Wohnanlage klingt in den meisten Fällen zu grandios für das, was es ist). Die Toilette ist ein Loch im Zementboden, darum vier etwa brusthohe Wände. Unisex, versteht sich. Wenn man darin steht, kann man immer noch auf die Straße schauen und Passanten grüßen.

Händeschütteln ist wichtig und wird ausgiebig getan. Wie im Nahen Osten auch laufen besonders gut miteinander befreundete Männer gern ein Stück Hand in Hand durch die Gegend. Mich nahm neulich ein fürsorglicher Busfahrer am Handgelenk und führte mich am Hauptverkehrsknotenpunkt Circle über die Straße. Ich hatte nach meinem Trotro gefragt, er zeigte mir den Weg durchs Chaos zudringlich rufender Taxifahrer. Wenn mir einer von ihnen auf die Schulter tippt und ich fauche: »Warum fässt du mich an?«, kriegt derjenige Ärger von den Umstehenden. Obrunis haben andere Vorstellungen davon, was als persönliche Distanzzone gilt. Sie müssen sich aber auch den überwiegenden Teil ihres Lebens mit Stoffschichten, Daunen, Glas und Mauern vor der Außenwelt schützen. 

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