»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

9.4.

»Morgen früh, um 9 Uhr 30, findet eine Venusbedeckung statt«, sagte ich zu Jan. »Ist total selten, angeblich, ich habe mir heute schon mal ein Fernrohr gekauft.«

»Aha«, sagte Jan. Und schaute in die Speisekarte des Fischrestaurants Ergüns Fischbude, in dem wir schon lange nicht mehr gewesen waren. Viel zu lange, wie wir beide feststellen mussten, als wir den schönen Raum in den Kasematten gegenüber der Wohnschlange betreten hatten. Es hatte sich dort nichts verändert. Noch immer waren sämtliche Wände, teilweise sogar die Deckenfläche des Lokals, mit gelben Pappstücken gepflastert, auf denen die Gäste in schwarzer Handschrift ihr Lob auf Ergün und seine Fischgerichte hinterlassen hatten. Es war außer dem Durchgang zur Küche und zu dem des Toilettenlabyrinths nur noch ein Fleck frei, da hing der große Fernseher mit den Fußballspielen. Mal schauen.

Die Speisekarte zeigte mit Blitzlichtaufnahmen die verschiedenen Meeresbewohner, die zur Auswahl stehen, auch daran hatte sich nichts geändert, noch nicht einmal die Preise. Sogar der obskure Blaufisch wurde angeboten und wir gedachten der herrlichen Szene aus Inherent Vice von Paul Thomas Anderson mit dem unübersetzbaren Wortwitz, wenn Doc Sportello den Aal »nach Art des Troubadours«, den »Eel Trovatore« bestellte.

»Erzähl mir doch mal, wie Friederike aussah, in deinem Traum«, sagte Jan.

»So, wie sie halt aussieht«, sagte ich. Das war in diesem Traum so, ich glaube, es ist in fast allen meinen Träumen so, dass ich spüre, das ist jetzt die oder der, aber ich habe da keine Bilder vor mir, ich spüre die Anwesenheit. Und die ist gewiss.

»Schlimm, diese Kombination aus Traum und Frau«, fiel mir ein, aber das behielt ich für mich. Und dachte noch kurz an die Zahl Zehn und an Blake Edwards und halt leider auch an Bo Derek und diese traumatische Szene mit ihren vielen Rastazöpfen, und dass dabei ausgerechnet und geradezu natürlich der Bolero von Maurice Ravel gespielt wurde.

Dann kam das Essen und wir sprachen abwechselnd darüber, wie gut es schmeckte und über Hegel, der noch recht hatte, und über Marx, der dann irgendwie schon nicht mehr so, und darüber, dass ich es jetzt ja leibhaftig erleben dürfte, dass einem etwas zweimal widerfahren kann, aber eben beim zweiten Mal als Idyll. Und dass dieses Erlebnis gewaltig war; ich hoffentlich eines Tages darüber würde schreiben können, aber halt nicht allein. Denn das Ding am Vertrauen war, dass man als Schreiber beinahe unerbittlich darauf gepolt wurde, alles von einer Seite heraus zu betrachten. Man musste auf sich selbst vertrauen, und dass das alles so stimmte, wie man es sah, um es ausdrücken zu können. Zumindest so, dass ein stimmiger Text dabei herauskam. Dazu brauchte ich Liebe für die Welt, für die Dinge, die Tiere und Blumen, für die Literatur, weil sonst würde das unschön. Wenn diese Welt aber in einem anderen Menschen bestand, der mir dieses Vertrauen zurückgeben konnte und gibt und mich mit diesem liebenden Blick anblickte und blicken würde, fänden sich zwei dieser Autorenperspektiven überkreuzt. Sie kommen aus zweierlei Welten und fänden in einer dritten zu sich.

»Wenn du das abbilden willst, also diese dritte Welt, die ja auch ein Wachstum bedeutet und zugleich auch noch Wandlung und Heilung, alles zugleich – und das will ich auf jeden Fall –, dann kann ich das nicht alleine und von mir aus, auch wenn ich mir durchaus im Klaren bin, dass das der Job wäre.«

»Finde ich nicht«, sagte Jan. Mach alles so, wie du es willst.

Dann lange nichts.

»Wieso eigentlich ausgerechnet Raki zum Fisch?«

Jan setzte die Lesebrille auf und sah in die Speisekarte: »Hier steht’s doch: ›Durch das Hineinschütten des Wassers entstehen im Anisschnaps die typischen Wolken.‹«

Er faltete die Lesebrille zusammen und verstaute sie in der Tuchtasche seines Jackets: »Wasser und Wolken, damit ist der Himmel des Meeresbewohners hergestellt. Mehr bekommt er davon nicht zu sehen.«

Als Jan vom Händewaschen zurückkam, hielt ich ihm eine gelbe Postkarte hin, darauf stand in meiner Handschrift:

DIES IST DEIN SELFIE:

DEIN GESICHT BESTEHT AUS LAUTER BUCHSTABEN

8.4.

Der Geldschein im Wert von 50 Schekel zeigt auf seiner Rückseite die Brille, das Notizbuch und den Stift von Samuel Agnon.

Viel lieber als den Nobelpreis, oder dass dieses Bett, in dem ich Untitled geschrieben habe, für zig hundertausend Dollars versteigert werden könnte, also extrem viel lieber würde ich gern einen Euroschein (oder wie auch immer dann die gültige Währung heißen mag) in beliebiger Höhe ausgeben, dessen Rückseite illustriert ist mit meinem iPad Pro, meiner »Olympussy« LS-14, dem Pencil und meiner Brille namens Wallace.

7.4.

Nach einem langen Spaziergang durch die Innenstadt ließ ich mich gestern hinter dem Haus der Kulturen der Welt nieder. Die Weiden zeigten lindgrüne Schleier und auf dem Platz nah am Wasser machte eine Frau ein Selfie, für das sie eine kleine Plastikflasche mit Tankstellenwasser mit in den Bildausschnitt streckte. Wahrscheinlich ist ihre Beziehung halt einfach so geartet.

Ich dachte an den Blumenstrauß von Jeroen de Rijke und Willem de Rooij im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, der dort in einem Ausstellungsraum in einer weißen Vase auf einem Sockel steht seit dem Jahr 2006, und der immer frisch aussieht, weil er andauernd, angeblich wöchentlich, frisch arrangiert wird, dabei aber stets in der prinzipiell gleichen Zusammenstellung von Nelken und Rosen und zarten Rispen in Rosatönen und grünlichem Weiß.

Der ewig frische Strauß ist zu einem Wallfahrtsziel der Fans von Tocotronic geworden, seit er das Cover von Schall und Wahn zieren durfte und damit sogar noch doppelt verewigt wurde, eigentlich dreifach: als Konzept für ein Bild aus dem Atelier von Jeroen de Rijke und Willem de Rooij, als Skulptur dieses Konzepts in Frankfurt und als Abbild dieser Skulptur in der Musikgeschichte. Schade, dass die Blumen das nicht erleben können, wie berühmt sie gleich werden, wenn der Gärtner kommt, um sie abzuschneiden, weil es für einige auserwählte unter ihnen dann auf nach Frankfurt geht, ins Museum für Moderne Kunst, wo eine ganz besondere Vase auf sie warten wird.

6.4.

Geträumt, ich säße mit Friederike in einem dieser roten Minibusse, die durch die grünen Berge gleich hinter Chiang Mai fahren. Außer uns beiden ganz viele Thais und mit einem Mal fiel mir auf, dass alle außer uns Ketten aus Blüten trugen.

Ich fragte Friederike, ob heute etwa buddhistisches Neujahr sei, und obwohl es im Inneren des Busses so laut war, konnte sie mich verstehen. Ich wiederum konnte verstehen, dass sie die ältere Person neben sich fragte, ob heute buddhistisches Neujahr gefeiert würde, obwohl die Fahrtgeräusche alles übertönten. Dann freuten sich alle und wir haben aus einem Körbchen heraus ausgewickelte Schokoladenhasen verteilt.

Dann aufgewacht und gesehen, dass der Baum vor meinem Fenster tatsächlich ein Kirschbaum ist.

5.4.

Wahrscheinlich wird es so sein, dass die Menschheit in zwei Hälften zerfällt, wie eine Melone; aber niemand weiß, wer hier das Messer führt, also sind es wir selbst. Gut, und dann heißt es halt aus sicherer und ästhetisch ungefährlicher Perspektive heraus gesprochen: Futurismus, ganz toll. Und dann kommt das Zitat mit dem Düsenflieger, aber der einzige mir bekannte Dichter, der das vereinen konnte, nämlich Antifaschismus und Düsenflieger, war halt Reinhard Mey. »Irgendjemand kocht Kaffee/In der Luftaufsichtsbaracke« ist nicht nur reimtechnisch nicht zu schlagen, auch alles drumherum ist eine Huldigung der Technik, die beides vereint: hart und weich. Und das finde ich menschlich. Von daher gut.

Wer die eine Hälfte ignorieren will oder zu müssen glaubt, büßt die Hälfte seiner Weltwahrnehmung ein, sagte Heinz Bude gestern, als wir uns auf knappe eineinhalb Stunden zum Gedankenaustausch trafen. Musikalisch gesprochen ist es doch so: Wer The Partisan von Leonard Cohen anhören kann, ohne an Lesbos zu denken, hat eine Schraube locker. Dazu aber will man dann in dem Fall auch unbedingt Reinhard Mey hören. Es gibt auch die Ernie-und-Bert-Version aus der Sesamstraße, die so etwas darstellen will wie einen Dub von Lee Scratch Perry, aber das Original verströmt diese Sanftheit, mit der alles, was Marinetti in seiner Verblasenheit kaputtmachen wollte, g u t  g e m a c h t  w i r d; allein, wie er beschreibt, also Mey jetzt, wie ein Flugzeug zum Sehnsuchtsträger wird. Dass sich »Wolken spiegeln im Benzin, das in Pfützen schwimmt«, vor allem aber die Körnung seiner Stimme, dass er es nur haucht (That’s Power, btw. Und er kann halt auch noch ein derart schönes Französisch!!!), selbst in der Version mit Ernie und Bert in dem blöden roten Bühnenflugzeug. Dass er so sanft sich den Puppen gegenüber gebärdet. Und ich hatte auch diese Lust, die runde rote Flauschnase von Ernie in den Mund zu nehmen.

»The heart suffers its beating just as it could be helped« singen Giant Sand. Right on!

4.4.

Die Seligkeit ist wie Sonnenschein an einem Sonntagnachmittag im April. Das fand ich gestern heraus, als ich im Gastgarten des kleinen Hotels gegenüber saß und mich von der Sonne bescheinen ließ.

Sonst nichts. Also: nichts sonst tat, als mich anleuchten und wärmen lassen von der ultravioletten Strahlung dieses lieben Himmelskörpers namens Sonne (und normalerweise sehe ich dann ein Drop-down-Menü vor mir mit all den anderen Namen, den die liebe Sonne in all den anderen Sprachen hat). Aber nun kam das nicht, und ich musste erst nachdenken, um auf die vage vertraute Wortfolge zu kommen: Sonne, sun, sol, la soleil, الشمس und immer so weiter und immer so fort.

War die Sonne ein Planet oder sind alle Sonnen Sonnen?

Auch das schien jetzt »mit einem Mal« schwer zu entscheiden.

Mein Wissen, zumindest doch mein Gedächtnis, so dachte ich frei von Angst und dafür erfüllt von einem Gefühl des innerlichen Sonnenscheins namens Tja, so ist das halt jetzt mit der Seligkeit, dafür hast du deine Manie eingetauscht und den Furor, immer alles womöglich noch ultraoriginell beschreiben zu wollen; aber von Anneliese Mackintosh weißt du inzwischen, dass es beim Schreiben halt auch nicht drauf ankommt, »immer und jederzeit drei Silvesterraketen gleichzeitig zünden zu wollen«.

Macht nix, so ging der echt ziemlich lange Name dieses Wohlgefühls weiter, weil, so, wie du dich jetzt fühlst, willst du dich immer weiter fühlen können. Deine Beine sind schwer, da registrierst du elektrische Impulse wie von einer 9-Volt-Blockbatterie an der Zungenspitze und allein die Idee, irgendwann wieder von diesem Sitzplatz hier aufstehen zu wollen, woanders hingehen zu wollen, und sei es auch bloß ins Bett, erscheint dir bereits derart lästig, dass er mir, dem im Lichte der Seligkeit sich Sonnenenden, bloß noch nichtig und mückenhaft erscheint.

Weiterhin waren da noch Empfindungen an den äußeren Rändern meiner Gefühle, die sich ausstrecken wollten wie Fingerspitzen; wie die Härchen rings um ein Pantoffeltier; die wollten auch rein in mein Bewusstsein, um dort verarbeitet zu werden, um Eingang gewährt zu bekommen in meinen Gefühlshaushalt, der ja, wie ich seit vorgestern früh wusste, in Wirklichkeit gar kein schnöder Haushalt war, sondern ein Reich. Und von dem Friederike einst vermutete, es handelte sich dabei nach ihrer Ansicht um eine Art von Wikipedia, aber nun empfand ich präzise seit vorgestern auch selbst Freude daran, in mir herumzuklicken.
In der Seligkeit braucht man, so scheint’s, vor allem doch eines: Zeit, auszuruhen. Schließlich war Sonntag.
Definitiv, so empfand ich es und dieses Gefühl ist hochaktuell, will ich mich meiner Seligkeit fortan unterwerfen. Und das radikal. Ich will, so empfand ich die Gegenwart der Seligkeit, als sie erneut in mich drang, um mir die Schönheit des Seligseins vor Augen zu führen, nichts weiter mehr tun oder lassen, das die Seligkeit von einer rückhaltlosen Herrschaft über mein innerlich gespürtes Gebiet verhindern könnte. Ich will, und das war zwar ein bei der Niederschrift seltsamer Gedanke, aber ich nahm ihn dennoch auf, wie diktiert von jemandem, den ich liebe: mich nonstop von meiner als selig empfundenen Seele ficken lassen.

Ich könnte jetzt endlos über den passiv-aggressiven Kellner schreiben, der seine Gäste mit »Wollen Sie essen?« begrüßt; über die Unsitte, zumindest ist es eine seltsame, die Teelichter in Windlichtergläsern auf Kaffeebohnen zu betten; oder über die Menschen, die sich dort drüben am Abhang noch immer so aufstellen, wie einst in den »Sommergästen« von Peter Stein.

Aber ich will es halt nicht mehr.

3.4.

»Selig sein« – davon hatte ich immer nur gelesen und mir nie einen Begriff davon machen können, wie das wohl sein könnte. Wie das wohl wäre. Wie das wohl ist.

Seit gestern Morgen kenne ich nun ein Gefühl, und sozusagen automatisch war dann dieser Begriff zuhanden: Selig, dachte ich, jetzt bist du also selig. Und es hörte seitdem nicht mehr auf. Weder im Gefühl noch in meinem Denken.

Zum ersten Mal in 45 Jahren fühle ich mich frei.

So lange kann das also dauern. So lange kann man dann wohl leben müssen, um herauszufinden, warum man das auch automatisch gerne tut (leben); so lange kann man sehr viel auch nicht so Schönes miterleben, weil man, ebenso quasi automatisch fühlt, dass da irgendwo, irgendwie, irgendwann vor allem: noch etwas kommen wird. Und es kommt. Also ein Mensch. Wohl automatisch.

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