»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

19.10.2020

Beim Tun mit Kindern erinnert mich viel an meine Schwierigkeiten im Umgang mit den Gleichalten, allerdings in einer mir angenehmen Form — bloß weil ich der Überlegene bin?

Gestern Nachmittag wurde ich anlässlich unseres Besuches bei Amelie und Thomas von deren Tochter auserwählt, mit ihr zusammen ein Geschenk für ihre erkrankte Kindergartenfreundin herzustellen. Ich saß etwas schräg an ihrem für mich sehr viel zu niedrig gebauten Schreibtisch. Sie schien das nicht zu bemerken. Wie Mirko mir neulich bei meinem Besuch im Landhaus zu den zwei Hunden erklärte, haben diese beiden Hunde, deren Größen- wie Kompetenzenunterschied beträchtlich ist — der Kleinere ist zudem noch stark körperbehindert —, keinerlei Bewußtsein ihrer Unterschiedlichkeit entwickeln können. Sie rauschen regelmäßig ineinander und gemeinsam dann als ein Knäuel gegen die Wand, als Ebenbürtige. So ähnlich einigten das Kind und ich uns auf ein Ergebnis, zu dem wir beide stehen konnten. Mit Thomas dann über Kunst, beziehungsweise: dass Künstler sein bedeutet, zu wissen, wann ein Kunstwerk fertig ist. Im Sinne eines Ordnungsrufes, im Sinne von «Halt!»

In dem Sinn (und nach dem schönen Spaziergang heim, am Main entlang, der Milch führt, dieser Tage, und in Nizza sind die Pomeranzen reif) war der Eintrag vom Samstag noch nicht fertig. Einhalt mir zu früh geboten, der Satz müsste lauten:

Mir ist es immer latent unangenehm, wenn ich mit makellos assimilierten Ausländern konfrontiert werde. Soll ich es manierlich finden dürfen? Mir kommt es zudem immer so vor, als ob es dann um deutsche Förmlichkeiten geht, um Bürokratie und Kitsch. Als ob der Kern der Sache, der selbst mir unbeschreiblich scheint, in den Hintergrund gedrängt wird; durch Sprache. Oder könnte ich genauso behaupten, kein Deutscher zu sein? Zu welcher Gelegenheit? Und wer würde mir widersprechen — am Ende doch sie?

17.10.2020

Die Bäume am Europagarten — war das am vorigen Wochenende oder an einem davor, dass ihr Kleid noch golden flimmerte — inzwischen waren sie zu Transvestiten geworden. Der Blick von der Bühne, mitten im Strip, zeigte nichts als leere Stühle und Krähen; nun wussten sie nicht recht, wie weiter: Soll ich, oder lass‘ ich’s lieber sein?

Die Zeitung knatterte im Wind. Der Bundespräsident hat beschlossen, die Paulskirche renovieren zu lassen. Von der AFD, die ein Konferenzzimmer nach der Paulskirche benannt hat, will man sich die Sprache aus Zeichen und Symbolen nicht länger umdeuten lassen. Frau Grütters, die während ihres Besuches in unserer Stadt schon den teuersten Beckmann aller Zeiten (ein Gemälde, ein Selbstporträt) als Gabe für die Sammlung des Städel Museums in die Kamera gehalten hat, will gleich neben Paulskirche ein sogenanntes Haus der Demokratie bauen (lassen). Ich freute mich schon! Erinnerte mich freilich, wenn auch nur blitzhaft, an das Haus der Geschichte von Helmut Kohl (nicht in Brake, Bielefeld, aber back in Berlin). Das war kein Erinnern, es war ein Entsinnen.

Die Jugend von heute saß derweil schräg vor mir. Schräg schaut es für meine alten Augen noch immer aus, wenn jemand irgendwo draußen videotelefoniert. Welt am Draht: Das war einmal die Zukunft. Wo bleibt der Rest?

Sie unterhielten sich auf dreifache Weise verschlüsselt. Auf Französisch und Englisch und — für die Flüche, aber vielleicht waren es auch Ausrufe ihres Erstaunens: Arabisch. Die andere, das Gesicht auf dem Bildschirm wurde also mutmaßlich aus Marokko, Tunesien oder Algerien herangefunkt. Ersteres war der Fall, wie es sich im Laufe des Videogesprächs herausstellen sollte. Es ging um das Corona-Management dort. Die Hiesige erwies sich als harsche Kritikerin der politischen Führung in der Heimat ihrer Eltern. Das Lob der Führung hierzulande fasste sie zusammen in dem Dreisatz: «Niemand weiß genau Bescheid über dieses Virus. Die Politiker müssen die Regeln machen, aber natürlich kennen sie sich auch nicht besser aus. Wir müssen jetzt alle selbst denken und handeln.»

Mir ist es immer latent unangenehm, wenn ich mit Assimilierten konfrontiert werde. Soll ich es manierlich finden dürfen? Eben noch hatte ich am Glas einer Bushaltestelle den Kleber der linksjugend [solid] studiert: Neben der Zeichnung einer Brünetten mit pornöser Brille stand: Kontrolletti?! keine Hektik… Es passiert allen mal. Ticket vergessen, nicht abgestempelt oder einfach keine Zeit oder Kohle gehabt, um eins zu kaufen. Wenn die Kontrollettis jetzt nur lange genug brauchen würden, dass man sich an der nächsten Station schnell verdrücken kann… Damit andere eine Chance haben: Lass dir Zeit. Hol das Ticket erst raus, wenn du persönlich gefragt wirst und auch dann weißt du sicher nicht sofort, in welcher Tasche es steckt. Zeig Solidarität mit Menschen ohne Fahrschein!

Links war ich also auch nicht mehr.

16.10.2020

Die Lektüre abgeschlossen, danach bis heute sprachlos gewesen wie schon lange nicht mehr. War das jetzt außergewöhnlich gut, oder hat es bloß mich so erwischt? Aus welchem Grund auch immer. War dann noch viel zu lang (für mein Gefühl) damit beschäftigt, eine Stelle zu suchen; sie wiederzufinden, dabei war ich mir die ganze Zeit meines Lesens doch so sicher gewesen, wo in etwa sie zu finden war. Aber noch nicht einmal ihre Position auf der Seite hatte ich mir richtig eingeprägt — von wegen links unten! In einem anderen Buch, darin ging es um Dahlienzüchter und andere Phytofreaks, nahm ich mir einst einen Ratschlag zu Herzen hinsichtlich des Jätens: «Weed as you go» hatte dort gestanden, das weiß ich noch genau. Glaube ich! Seit Jahren denke ich und nehme es mir vor, diesen Tip auch bei meinen Gängen durch die Bücher zu beherzigen. Aber gegen mich bin ich machtlos, bekanntlich. Sagt Peter Kurzweil. Wählte gestern aus Langeweile einen Livestream von der Buchmesse an, da wurde der traurige Dennis Scheck gezeigt, der in der menschenleeren Festhalle an einem Tisch mit lauter Büchern saß, die er der einäugigen Witwe anpries wie Aale-Dieter auf dem Fischmarkt (ebenso selig).
Alles selig. Keiner lacht.

13.10.2020

Die schwanzlosen Katzen, und die mit lediglich einem Stummel ausgestatteten, die ich Ende der neunziger Jahre erstmals in Bangkok gesehen hatte, es gab sie dort also auch schon Ende der siebziger Jahre; und nicht nur dort, auch anderswo in der Region, beispielsweise auf Borneo, wo ich niemals war. Sie tauchen jetzt wieder auf in einer Reiseerzählung von Horst Laube. Den Text hat mir der Verleger empfohlen, neulich im Sonnenschein. Gestern tauchte er überraschend selbst auf, in der Tagesschau. Einen Augenblick lang wurde er mir gezeigt, wie er von der Nachricht erfährt, dass seine Autorin Anne Weber den Deutschen Buchpreis gewonnen hat.

12.10.2020

Gang auf den Altkönig, der Hausberg hinter Königstein. Wahrscheinlich und vielleicht war dies der letzte Tag, um sich der Natur in dieser ihrer derzeitigen Gestalt noch einmal hingeben zu können. Sie, die Natur, war dafür nicht bloß Gabe, sie gab auch selbst so viel. Und unaufhörlich. So kamen wir nach der Einstimmung durch eine Passage im Tannenwald auf einen steilen Pfad, der uns durch lichter werdendes Gehölz zum Gipfel führte. Gravel-Bikende holperten uns abwärts radelnd entgegen. Zu ihrer Belustigung waren an des Weges Rändern niedrige Schanzen in den Waldboden verankert worden. Die schnittig kostümierten Familienväter mit Helmen stürzten sich in den Pedalen stehend auf diese Hindernisse, um sie zu nehmen. Dies alles wortlos bei gepresstem Atem. Wer so bergab durch den Wald radeln kann, der beherrscht auch die Kunst des geräuschlosen Abbeißens vom Apfel.

Indes waren wir auf einen Holzweg abgezweigt, der entlang einer Schonung halb um den Berg herum führte. Im Gras, das, von Tautropfen besteckt, darniederlag, wuchsen die prächtigsten Fliegenpilze. Darunter einige noch unangeknabbert vom Wild. Asiatinnen knieten zwischen Heidelbeersträuchern und machten Aufnahmen, teilweise sogar mit Ton.

Auf den letzten Metern vor dem Gipfel lag, trotzdem dort die Baumgrenze freilich noch längst nicht erreicht war, massenhaft Granit herum. Der Altkönig soll zur Zeit der Altvorderen eine Kultstätte gewesen sein für die Kelten. Darauf wies allerdings kein einziges der vielen Schilder dort oben hin, die Hinweisflächen waren vollends ausgelastet mit Ver- und Geboten (beispielsweise «Nicht lagern», das Piktogramm zeigte einen Knieenden mit einem Buch in der Hand — offenbar handelte es sich dabei um ein Symbol für ein Liederbuch, das ja beim Lagern, wie ich es kenne, unerlässlich bleibt; sollte es sich allerdings um ein Symbol für religiöse Schriftbände handeln, fände ich dieses Gebot pikant.) Das Wissen zum Keltenkult musste man sich also selbst mitbringen. Da wir diesbezüglich vorgesorgt hatten, erkannten wir in dem zentralen Baum auf dem Gipfel die Esche, den Kult-Baum der nordischen Völker (Stichwort Yggdrasil), der aber auch in einem Gedicht der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück eine wesentliche Rolle spielt (Dietmar Dath hat darauf hingewiesen). Wie bei Glück hatte diese Esche auf dem Altkönig sich schon all ihrer Blätter entledigt. Einzig die dunkelroten Beeren zierten das Reisig vor dem leergefegten Grau des Himmels (wie die Tautropfen dort unten vor der Granitgrenze das waidgrüne Gras). Ein Gipfelkreuz gab es nicht.

Beim Abstieg fanden wir wie von selbst in die passende Schrittgeschwindigkeit, um rechtzeitig mit dem Sonnenuntergang aus dem Waldsaum herauszutreten. Ein nahegelegenes Wohnviertel von Königstein nahm uns auf in die städtische Welt. Rechtschaffen müd‘ und erfüllt von den Gaben, auch ziemlich durchgefroren saßen wir in der Taunusbahn Richtung Heimat. Die Maske wie ein Schlafsäckle für das Gesicht.

10.10.2020

Auf dem Weg zum Tel-Aviv-Platz fiel mir eine neuartige Plakat-Kampagne auf: Beworben wurden gewohnt einfallslos gestaltete Mietshäuser auf quadratischem Grundriss, wie sie hier überall im sogenannten Europa-Viertel von Frankfurt schon fertig gebaut herumstehen. Die Häuser auf den Plakaten standen allerdings in Wien. Und dort sollte man, von Frankfurt aus, investieren. In diese Häuser hinein. Obwohl es genau diese Häuser, in genau dieser Form hier längst gibt — und zwar, wie gesagt in jenem Viertel, wo die Werbung plakatiert wurde, in den Aufbau einer solchen Siedlung im fernen Wien zu investieren. Für mich war es damit klar und unklar zugleich, an wen sich diese Werbung richten sollte. Genau genommen fiel mir der Artikel in der F. A. Z. ein, einer von vielen, die anlässlich der Einweihung des sogenannten Grand Tower erschienen waren, einem Wohnturm, der ausschaut wie aus Downtown Manila in den neunziger Jahren. Das einzig interessante an diesem vielstöckigen Wohngebäude ist, dass dort seit der Einweihung die Fenster stets dunkel bleiben bei Nacht (ich wohne nebenan). Die Besitzer der Wohnungen wohnen nicht nur anscheinend nicht vor Ort. In der Zeitung hieß es, das sei wie es sei, aber mit solcherart Gebäuden würde halt dem weltweiten Anlagedruck Rechnung getragen. Gerade so, als ob dieser ominöse Anlagedruck diese Gebäude aus dem Boden heraus in die Höhe treiben dürfte wie Stapel von Münzen …

Am Tel-Aviv-Platz nun, wo ich ursprünglich die Literaturbeilage studieren wollte, die anlässlich der nicht stattfindenden Buchmesse erschienen war, zu deren Eröffnung es aber am Dienstagabend wenigstens eine Festveranstaltung in der Festhalle geben wird, auf die ich mich schon sehr freue, wurde ich von der Beilage abgehalten durch eine sehr lange Reportage eines mir unbekannten Autoren, der von seinen Erlebnissen bei der Räumung des linksextremen Wohnprojektes in der Berliner Liebigstraße berichtete. In Österreich nennt sich diese Form Lokalaugenschein. Der Autor Gregor Schwung ist aber kein Österreicher. Seine höchst kuriose Ausdrucksweise («Die Linksextremen in Friedrichshain greifen auch Menschen an») verleitete mich, seinen Namen zu googeln: Es erschien das Portraitbild eines sehr jungen Mannes, der weiß, was er will. Das Schreiben sollte er allerdings lassen. Den Linksextremen hingegen würde ich raten, dass sie demnächst mal keine baufällige Immobilie besetzen, die Nostalgie akkumuliert, sondern eins dieser Investorenprojekte wie beispielsweise den Grand Tower. Oder die seelenlosen Häuserlkasten in der sogenannten Gartenstadt von Wien.

Bevor ich dann die Literaturbeilage überhaupt angeblättert hatte, war ich schon beinahe geschafft. Überhaupt finde ich es zunehmend anstrengend, das alles, das mir entgegenwächst politisch aufgeladen erscheint. Wenn ich Socken kaufen will, frage ich mich, ob ich die richtigen Socken kaufe. Ob es den Tieren gut ergangen ist, bis aus den Fasern ihrer Felle die Wolle für meine Füße wurde? Ob das ganze Unternehmen nicht zu viel Wasser verbraucht hat. Zuviel Sprit. Und dass Nerze, also die Nagetiere mit dem seidig flauschigen Fell, aus denen man die schönsten Mäntel macht, sich auf Pelztierfarmen in Utah, dem Mormonenstaat in den Vereinigten Staaten, die von Menschen übertragene Krankheit Covid-19 zugezogen haben. 8000 starben, sind verendet. Tot.
Das war zuviel. Die Sonne war herausgekommen. Die Bäume hatten in meiner Abwesenheit goldgelbes Laub bekommen wie andere graue Haare. Das sah ich erst jetzt. In diesem Licht. Ihre Pracht. Die Literaturbeilage legte ich beiseite. Ich konnte kein Elend mehr ertragen. Da näherte sich mir, hüpfend, eine Krähe. Schräg über den menschenleeren Tel-Aviv-Platz hüpfte sie auf mich zu. Wir kannten uns längst. Dass ich sie wiedererkannte, schien sie genauso zu verwundern wie es mich verwunderte, dass sie mich. Das letzte Mal, vor meinen Fahrten nach München und zuvor nach Heimerdingen, hatte sie sich in einem ähnlichen Manöver ganz flach und dabei auch breit gemacht, um, flach und breit vorantrebend wie ein hüpfender Pilz mit blauschwarz schimmerndem Hut, ein Stück von meiner Brezel, ein Brezelärmle, das unter meinen Stuhl gefallen war während ich den Rest dieser Brezel aß, zu erheischen. Listig hatte sie geschaut während ihres Manövers; von daher kam mir der  Gedanke des Erheischens gerade recht.

Aber heute hatte ich nichts zu essen, bloß diese Zeitung. Und ich dachte ‹Bis zum nächsten Mal›. Sie legte den Schnabel schräg und ließ ihr Knopfauge funkeln. Mir fiel das gespräch ein mit Friederike ein vom frühen Morgen, bevor ich losgegangen war mit der Zeitung, um die Literaturbeilage zu lesen. Es ging um Insekten. Friederike mag sie nicht. Ich dachte bislang immer, alle sollten Insekten mögen. Insekten sind wie Vögel, bloß halt für sehr kleine Menschen. Sehr viel kleiner noch als Du oder ich.

Das Datum bietet sich heute als Delikatesse an für Dezimalfetischisten. Das nächste Mal wird das in allenfalls ähnlicher Form im Jahr 3030 der Fall sein, wenn nicht nur ich, eigentlich: wenn alle, die das jetzt lesen, längst nicht mehr am Leben sind.

9.10.2020

Gestern war der Klempner da, um die Heizungsanlage aufzuwecken und einzustimmen auf ihre Ära. Er ging im Haus von Stockwerk zu Stockwerk, von Wohnung zu Wohnung, die Türen hatten alle offen stehen zu bleiben indes wie im Inneren der Räume die Ventile — ‹interessante› Frage, nebenbei entstanden für mich: Waren Türen für Klempner bloß andersgeartete Ventile? Also folgte ich ihm. Und außerdem, wann hat man das schon mal, dass man anstandslos in die Wohnverhältnisse sämtlicher Nachbarn Einblicke erhält? Bald kam es mir aber so vor, als ob die Wohnungen der anderen allesamt großzügiger geschnitten waren als die unsere — sollten wir etwa Pech gehabt haben bei der Vergabe? Bis es mir auffiel: Die hatten alle keine Bücher.

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