»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

31.10.2020

Was alles ließe sich mit einem Aquarium anstellen? Auf diese Frage kam ich gestern, beim Blick aus dem Fenster (es waren mehrere hintereinander, sie ergaben mein Blicken). Mit den Augen hatte ich mich festgesaugt an einem Balkon gegenüber; an einem ganz bestimmten von vielen. Ich beobachte das Treiben auf diesem Balkon schon seit einiger Zeit. Gestern hatte ich sogar das Gefühl: seit ewiger.

In der Wohnung, die sich zu diesem Balkon hin öffnet, zogen kurz vor dem ersten Lockdown im März ein paar junge Spanier ein. Damals nahm ich an, sie hatten sich vor der rigiden Ausgangssperre in ihrer Heimat in Sicherheit bringen wollen. Damals wurden ja in Frankfurt noch ausufernde Freiluftparties auf dem Platz vor der Alten Oper gefeiert. Und die Spanier waren dafür im richtigen Alter. Also gerade schon volljährig, aber noch jung. Außerdem zahlreich. Und da die Wohnung vermutlich nicht mehr als zwei Zimmer hatte, spielte sich sehr viel von dem häuslichen Leben dieser jungen Leute auf diesem Balkon ab.

Damals war es schon warm gewesen. Die Spanier schliefen bei heruntergelassenen Rollläden bis in den späten Nachmittag hinein, wie es in ihrer Heimat Sitte ist — Stichwort Siesta — und bevölkerten die lauen Nächte hindurch ihren Balkon. Beinahe immer wurde mir von ihnen dort ein Augenschmaus bereitet. Eine der Spanierinnen beispielsweise war zierlich gewachsen derart, dass ihre Taille kaum mehr Umfang aufzubieten hatte als ihre inmitten empor führende Wirbelsäule. Mithilfe meines Fernrohres konnte ich das schon recht deutlich erkennen. In aller Drastik wurde es mir allerdings erst vor Augen geführt, als ich bei einem meiner Spaziergänge in der menschenleeren Stadt auf eine Abordnung meiner spanischen Telenachbarn traf. Die Zerbrechliche war mitten unter ihnen dabei, hatte sich aber den gestiegenen Temperaturen zum Trotz eine grotesk überdimensionierte Daunenjacke übergestreift, die dem englischen Begriff vom Puffer Jacket usw usf. Bezeichnenderweise hielten die männlichen Spanier dabei Wegbiere der Brauerei Corona in Händen. Alles in allem also ein herrliches Bild, das ich zudem genießen durfte, als ob ich es durch mein Fernrohr betrachten dürfte, denn zwar erkannte ich diese Gruppe als eine durch mein heimliches Auge mir vertraut gewordene; vice versa hatten die von mir Beobachteten diesen Effekt natürlich nicht.

Gestern nun, als ich mal wieder in die Ferne reiste, schweifenderweise, und spurlos vor allem, allein mit dem Blick, war dort auf dem Balkon ein Aquarium aufgebaut. Allerdings kein leerer Glaskasten, wie er hier im Viertel ab und an mal zusammen mit dem absurdesten Sammelsurium auf die Straße gekippt wird, sondern fachgerecht mit Sand, Pflanzen, Lavagestein und vor allem: mit Wasser gefüllt. Sogar beleuchtet. Fehlen einzig die Fische — beziehungsweise sind die eventuell so klein, dazu noch farblos, vielleicht sogar transparent? dass ich sie durch mein Fernrohr nicht erkennen kann. Vor dem Aquarium selbst agierte (in stehender Haltung) ein Spanier. Um den Wohnraum mit Spaniern nachzuverdichten, wurde vor kurzem die Küche auf den Balkon verlegt. Der Spanier bereitete etwas zu aus Hühnerschenkeln. Die Abschnitte warf er in einen Topf, der unweit von ihm auf dem transportablen Zwei-Platten-Herd stand. Derzeit, womöglich den mittlerweile fallenden Temperaturen geschuldet, vielleicht ist es auch bloß eine Mode, tragen die Spanier diese norwegischen Einteiler aus flauschigem Gewebe, sogenannte One Suits. Der Spanier mit den Hühnerschenkeln war dergestalt als einer von den Minions verkleidet. Sein Kollege als Black Panther, ein dritter als Hulk. Die Spanierin — nicht aber die dünne, sie war nach dem Sommer schon abgereist — war ganz gewöhnlich gekleidet. Offenbar ist diese Einteiler-Mode männlich codiert.

Ob wir gemeinsam Weihnachten feiern werden? Eventuell dient das Aquarium der temporären Aufnahme von Meeresbewohnern, die dann dem Festschmaus dargebracht werden sollen. Und ist das Aquarium auf diesem Balkon dann ein Mise en abyme?

30.10.2020

Bei der bloßen Ahnung einer Möglichkeit von Sonnenschein hatte ich gestern alles stehen und liegen lassen, um hinauszustreben. Unaufhörlich morphten die Wolken und ich war innerlich wie zusätzlich noch bewegt von der Ankündigung, dass ab Montag wieder nichts mehr so sein würde wie es heute noch war. Letzte Gelegenheiten, Prix choc. Und das Café des Bäckers am Tel-Aviv-Platz: Würde auch er seine Terrasse schließen müssen? Noch war dort alles wie immer, wie gestern und an all den anderen Vormittagen zuvor. Vormittage waren derweil zu meinen Nachmittagen geworden (ich schlief in der Nacht) und die Zeit auf den Uhren war freilich auch damals noch anders vergangen, weniger persönlich — nehme ich an, direkt unpersönlich, als diese als anders, weil innerlich wahrgenommene Zeit.

Der Marktleiter des großen Rewe — bald würde es für mich Zeit, auch dieses groß groß zu schreiben, wie im Großen Bruder — nutzte die konspirative Pause bei Plundergebäck und Zigaretten, um seine Einräumhilfen und Getränkekästenstapler (und Champignon-Abbürster und Aufschnitt-Aufschneider und vor allem auch die Kassiererinnen und Kassierer) auf die neue Zeit einzuschwören (auch dieses neu bald Neu): «Ab Montag haben alle zu, die Leute müssen wieder selber kochen, alle kaufen bei uns ein.» 

Noch war er sich nicht sicher, ob pro 10 Quadratmeter ein kaufender Mensch sich frei bewegen darf, oder ob es doch zwanzig waren (Quadratmeter. Sein Markt hat 2000).

Ein seidiger Hund hatte sich neben mir niedergelassen. Seinem Verfüger hatte ich sofort angesehen, dass der noch mit ganz anderen Sphären seinen Austausch pflegte als bloß mit der städtischen Welt. Und der Hund lag wie versprochen friedlich da. Ich besah mir sein glänzendes Fell, die Mannigfaltigkeit schwarzer Haare. Seine Schnauze wies in die selbe Richtung wie mein Blick. Beide schauten wir jetzt über den Platz in die Ferne, zu den großen Baustellen im Dunst. Unablässig die Hämmer auf Schalbetonbrettern, unaufhörlich die Wolken, und ich fragte ihn, leise bei mir: Bist Du es, das Jahr?

28.10.2020

Zuletzt ließ selbst die schwarzäugige Susanne ihre Lider fallen. Es bleibt die Erinnerung an diesen einen Tag, als wir in den Weinbergen zu Gast sein durften. Jede Rebsorte färbt ihr Laub unterschiedlich ein. So entstehen bunt gestreifte Hänge.
Heimgereist mit einem Hartschalenkoffer voller Quitten. In meiner Kinderzeit gab es eine Fernsehwerbung, da klappte einer auf verschneitem Gipfel seinen Samsonite auf und surfte, mit beiden Beinen in den Hartschalenhälften stehend, zu Tal. Ich fand, meine Zweckentfremdung passte auch nicht schlecht in unsere neue Zeit.
Gestern noch viel über Farben gelernt: Von Quittengelb und Himmelblau. Bis ins Hohe Mittelalter hatten in den Färberhütten die Bottiche für gelbe und blaue Farbstoffe voneinander getrennt aufbewahrt werden. Sogar räumlich geschieden à la Milchiges und Fleischiges. Das Mischen der reinen Farben war mit einem Sondertabu belegt. Weshalb es in der mittelalterlichen Welt kaum grüne Kleidungsstücke gab.
Heute früh war alles grau. Frühlingshafte Milde. Mittags fing es zu regnen an.

26.10.2020

Jetzt zeigen sich die Blattstiele der wilden Erdbeerpflanzen mit einem Mal tiefrot gefärbt, zur Erinnerung an die Farbe ihrer Früchte. Die Farnwedel hingegen knochenbleich. Der Haselstrauch lichtet sich und offenbart den Sommersitz der Amsel. Und in den Wäldernmeldet das Gemeindeblatt, geht ein unbekannter Mensch mit Kettensäge umher, damit sein Unwesen treibend; ein Rogue Holzfaeller demzufolge, der in einer der vorvergangenen Nächte sieben Bäume gefällt hat (zwei Buchen, zwei Eichen, zwei Kirschbäume und eine Douglasie). Einfach so.

22.10.2020

Ein wunderbarer Tag bei spätsommerlicher Temperatur. In meinem Nachmittagstermin fehlt die Hälfte, lässt (über FaceTime) schön grüßen aus der Quarantäne. Wenn man den Schutzraum verlässt: Daisy’s Café, Final Sun, die Elbestraße. Am Ende, direkt filigran, eine Erscheinung: der Eiserne Steg.
Trotzdem nicht tröstlich, dass es anderen immer noch schlechter gehen wird als einem selbst. Junkies in der Perma-Krise.
Vor dem Plank sagt auf einmal jemand zu mir meinen Namen: Hallo Oskar! Ja, vor ein paar Monaten hatten wir uns von weitem gesehen — bei Anne Imhoff war das gewesen. Es war derart voll, man drang nicht durch zueinander. Bestimmt tausend Menschen damals im MMK.

Eine Frau trägt 18 Kilogramm Duftreis und drei Kochbananen vorbei — vor ein paar Monaten habe ich einen Internet-Radiosender namens NTS abonniert und es bis dato nie bereut — im Gegenteil! Vor allem seit ich die Bibliothek der Klänge in der British Library entdeckt habe. Die Unterwassergeräusche sind First Class! Aber auch das hier: ‹From Dusk to Dawn›

https://www.nts.live/shows/british-library-sound-archive/episodes/the-british-library-9th-june-2018

21.10.2020

Annäherungen mit einer Krähe: Wir kennen uns schon seit ein paar Monaten, aber gestern war es soweit. Die Sonne schien, vielleicht lag es daran, und mit einem Mal saß der Vogel, ein Tier, direkt vor mir und hielt sich dabei auf einer mir gegenüber gelegenen Lehne. Die Füße mit den regenwurmhaften Zehen geradezu artig beieinander versammelt wie sonst bloß die Hasen. Ihr Auge: klug blitzend. Wünschte, es wäre anders gewesen als im Klischee — wünschte ich das? Legte ihr stücklesweise Brezelärmle auf den Tisch zwischen uns beiden: Wie nennst Du den, Vogel? Was bedeutet der Dir?
Am nächsten Tag, nach der Nacht, heute: bin ich wieder hin. Der Himmel war ähnlich, aber auf dem Platz: keine Krähe.
Eine Frau schoß mit ihrem Lastenfahrrad dahin. Das Kind vorne, in der Schote, von behauchter Plane umhüllt. Sie betrillerte es trotzdem, während der Fahrt: «Finde ich übrigens ganz toll, Oskar, was Du da heute gezeichnet hast.»

20.10.2020

Renata Adler, die gestern ihren 83. Geburtstag feiern durfte, hat ihre Arbeitsmethode vor einigen Jahren noch so beschrieben: I wake up at five or six, I have breakfast, I think, ‹I should be writing.› And then I think, ‹Well, maybe after a little nap.› And that way several years pass. Truly, several years pass.

Der Blog, von dem ich diese Information bezogen habe, Subtle Maneuvers, meint dazu: «Sounds about right.»

Ich hingegen finde: Sounds just wrong.

Wilhelm Genazino hingegen, in einem wunderschönen (postumen) Gesprächsbändle im Verlag von Ulrich Keicher: «Es klingt zwar merkwürdig, aber ich muss kein Buch schreiben. Ich könnte mal fünf Jahre lang aufhören. Allerdings hätte ich dabei ein bisschen Angst. Wenn ich so eine lange Zäsur mache, denke ich, dann werde ich Schwierigkeiten kriegen, wieder auf das Gleis zurückzufinden. Diese Angst hätte ich. Das ist ja schon oft passiert, dass allzu selbstzufriedene Autoren gedacht haben, jetzt weiß ich, wie es geht, das weiß ich also auch in drei Jahren noch oder in fünf. Ich vermute aber mal, dass sich das Wissen nicht hält, die Nähe zum Stoff und zum Material und zum Vorgang.»

Ganz meine Meinung, übrigens: Es hält sich nicht. Bei mir noch nichteinmal bis zum übernächsten Tag!

Und ich weiß nicht, ob Jan Peter Bremer und Genazino sich gekannt haben. Der jedenfalls schrieb neulich erst, ein Schriftsteller sei jemand, der glaube, die Welt warte auf sein nächstes Buch.

Und auf der Straße drunten sagt eine in die Jahre gekommene Mitbürgerin, die mich von ihrer Sonnenbrille her an Joan Didion erinnert, zu ihrer Begleiterin: «Eigentlich ist es beinahe grauenvoll.»

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