Was von Niklas Luhmann bleibt

Spurensuche
zuerst erschienen am 6. November 2008 in Die Welt
Fassung des Autors
Vor zehn Jahren starb der größte Soziologe der Nachkriegszeit. Niklas Luhmann hat die Systemtheorie nicht erfunden, aber zu einer Superwaffe umfunktioniert. Unermüdlich arbeitete er an einer Theorie der Gesellschaft. Thomas Lindemann hat an der Universität Bielefeld nach seinen Spuren gesucht.

6000 Quadratmeter Noppen. Norament 925 heißt der Kautschukboden, der in der Haupthalle der Universität Bielefeld liegt – funktional und noch so frisch wie am ersten Tag 1969. Dass eine Legende der Wissenschaft täglich über diese Noppen ging, klingt irgendwie nüchtern. Damit passt es auch zur Sache: Niklas Luhmann, der große Soziologe, zurückgezogene Denker und Umwälzer seiner Disziplin, war hier Professor, von der Gründung der Reformuniversität bis zu seinem Tod am 6. November 1998.

Luhmann war nicht der Erfinder der soziologischen Systemtheorie, aber der Mann, der aus ihr eine Superwaffe machte. Seine Systemtheorie verband Soziologie mit Biologie, Computerwissenschaft oder Mathematik. Luhmann konnte über alles reden, und tat das auch: Zwischen 1963 und seinem Tod erschienen 53 Bücher und Hunderte von Aufsätzen – über Liebe, Kunst, Ökologie, den mathematischen Kausalitätsbegriff, das deutsche Recht oder die Gesellschaft im Allgemeinen.

Luhmanns Theorie ist Magie. Sie jongliert mit einem kleinen, genau bestimmten Satz von Grundbegriffen – wie Sinn, System, Umwelt, Kommunikation – und bietet eine scharfe und eiskalte Sicht der modernen Gesellschaft. Ihre zwei Grundideen: Sozialsysteme bestehen aus Kommunikationen, nicht etwa aus Menschen oder deren Taten. (Der Einzelmensch also ist für die Gesellschaft unbedeutend.) Und die Gesellschaft zerfällt in Untersysteme wie Recht, Wirtschaft oder Kunst, die autonom funktionieren und von außen kaum steuerbar sind.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass das jetzt wieder viele interessiert. Den Zusammenbruch des Finanzsystems hätte Luhmann leicht durchleuchtet: Innerhalb der Wirtschaft, sagt er, gibt es nur ein Medium der Kommunikation, das ist die Frage nach „Profit oder nicht Profit“. Für alles andere – ob Moral, die Not Arbeitsloser oder das Klima? – ist die Wirtschaft blind. Deshalb kann sie danach auch niemals handeln. Punkt.

Das ist so radikal und scharfsinnig – da muss es verwundern, wie tief Luhmann nach seinem Tod erst einmal in Vergessenheit geriet. Vielleicht war er zu groß. „Für mich ist er eine Jahrhundertfigur und es ist klar, dass es Nachfolger im engeren Sinn gar nicht geben kann“, sagt sein Nachfolger André Kieserling, der heute den Lehrstuhl Luhmanns innehat.

Er sitzt in einem ruhigen Eckzimmer und blickt auf die scharfe Rasenkante vor dem Universitätsgebäude. Ein paar Schritte weiter, im Raum U4-208, hatte Luhmann residiert. Der Westfale Kieserling kam Ende der Achtziger nach Bielefeld und arbeitete noch mit ihm zusammen. „Es gibt eine Gruppe von Schülern, die sein Werk weiter interpretieren, ohne es zu orthodoxieren“, sagt er – und das habe nie aufgehört. Doch die Nachfolger sind verstreut. Luzern ist mit dem Luhmann-Schüler Rudolf Stichweh (jetzt dort Rektor) ein Zentrum. Andere Systemtheoretiker – Dirk Baecker, Peter Fuchs, Arnim Nassehi – sind über Deutschland verstreut. Keiner wurde ein Star wie der Meister.

Über dessen Privatleben ist fast nichts bekannt. Niemals soll er ein Feierabendbier mit Kollegen genommen haben. Seine berühmte Ausrede: „Ich lese Hölderlin.“ Kieserling beschreibt ihn als geradezu chinesisch-indirekt. Soziologen, die sich wichtig machen, nannte Luhmann voll Verachtung die „Bosse“. Einem Interviewer sagte er lapidar: „Meine Frau ist gestorben, mein bester Freund ist gestorben.“ Zweimal nur scheint er sich auf das Prinzip Freundschaft eingelassen zu haben.

Luhmann war ein Arbeiter. Er trank viel Tee und saß an seinem Tisch mit dem berühmten Zettelkasten, 24 Schubladen mit am Ende mehr als 30.000 Zetteln in Postkartengröße, aus denen heraus er alle seine Werke schrieb. Einmal soll er stolz berichtet haben, er trinke jetzt nachts. Natürlich meinte er weder Bars noch Partys. Er trank spät genau einen Schnaps und konnte dann besser und länger schreiben.

Bis heute haftet Luhmann etwas Provinzielles an. Die Sparkasse Bielefeld vergibt ihm zu Ehren einen Forschungspreis. Ein Gymnasium an seinem Wohnort Oerlinghausen benannte sich nach ihm – die Website ist seit Monaten kaputt. An seinem Geburtsort Lüneburg wird demnächst die erste Luhmann-Straße eingeweiht, in einem Neubaugebiet. Irgendwie passt das alles zu dem Verwaltungsjuristen, der im Stillen eine Wissenschaft revolutionierte. Ein freundlicher Bürokrat war der Erneuerer der modernen Soziologie.

Luhmann wurde 1969 an die neu gegründete Universität Bielefeld berufen, vorher war er Jurist in Lüneburg und dann an der Verwaltungshochschule Speyer, als Helmut Schelsky – einer der Gründer der Reformhochschule Bielefeld – ihn entdeckte und zum Professor der ersten und einzigen soziologischen Fakultät machte.

Die Soziologie der Nachkriegszeit befand sich in einem traurigen Zustand: Die hochkomplexe, moderne Gesellschaft hatte keinen Begriff von sich selbst. Während Ingenieurswissenschaften, Biologie oder Informatik zum Höhenflug ansetzten, konnte kein Theoretiker beschreiben, wie die Gesellschaft funktioniert. Dann kam Niklas Luhmann. Als er im Alter von 51 Jahren in Bielefeld begann, schrieb er eine berühmt gewordene Notiz in seinen Projektplan: „Forschungsvorhaben – Theorie der Gesellschaft. Laufzeit – 30 Jahre. Kosten – keine.“

Luhmann begann, die Sozialwissenschaften umzukrempeln. Er lieferte sich einen berühmt gewordenen Streit mit Jürgen Habermas – gegen Luhmanns Ideen sah der Philosoph der Frankfurter Schule plötzlich langweilig aus. Luhmann holte sich Begriffe und Ideen bei der Zellbiologie, der Steuerungs- und Automatentheorie, arbeitete mit Paradoxien. Soziale Systeme führen bei ihm unabhängig von ihren Auslösern ein Eigenleben. Sie bilden sich selbst immer wieder neu – „Autopoiesis“ nannte Luhmann das. Man darf es sich wie das Geschwurbel in einem Hexenkessel vorstellen, der niemals ausgeschaltet wird. Genauso darf man sich übrigens auch seine Theorie selbst vorstellen.

Luhmann lesen ist wie Techno hören: Es schadet nicht, mal ein paar Kapitel lang innerlich abzuschalten. Alles wiederholt sich ständig. Dieselben Begriffe werden stets neu angewendet, auf die grüne Bewegung, die Massenmedien, die Weltwirtschaft. In den Jahren vor seinem Tod hatte er zwei visionäre Themen gefunden: Die Globalisierung, die er nur noch nicht so nannte. Und die teuflischen Vorgänge an den Rändern der modernen Gesellschaft – die gnadenlose Ausschließung bestimmter Personen, etwa in den Slums Südamerikas.

Nicht umsonst wird er in Lateinamerika besonders gut aufgenommen. Während die USA, Heimat des wissenschaftlichen Pragmatismus, ihn nie ganz verstanden, weiß man im Süden, was Ausgrenzung aus dem System bedeutet. „Jetzt beginnt gerade die Zeit von Luhmann in Lateinamerika“, sagt Javier Torres Nafarrate. Auf dem Industriegummi-Fußboden der Bielefelder Mensa kann man auch ihn treffen. Der Mexikaner sieht aus wie eine frohe Variante des Dichters Paulo Coelho und kommt seit Jahren immer wieder nach Bielefeld, um „wie ein Mönch zu leben“ und an Luhmann-Übersetzungen zu arbeiten.

Der feine Zynismus, der das Werk durchzieht, macht das nicht leicht. Luhmann konnte mitten in seinen hochtheoretischen Ausführungen kurze Seitenhiebe auf den „Schlottertanz in modernen Diskotheken“ setzen oder mal einen Aufsatz kühl „Wahrnehmung und Kommunikation sexueller Interessen“ nennen.

Alles passt, alles gehört dazu – das ist aufregend, aber auch etwas hochtrabend. „Die Zeit der großen Entwürfe ist doch vorbei“, sagt jedenfalls Otthein Rammstedt. „Sinngebung der Welt durch Soziologie ist eigentlich nicht mehr gefragt.“ Der Soziologie war, von Adorno kommend, erster Assistent Luhmanns in Bielefeld. Sein Sohn Tilman Rammstedt – der gerade mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnete Schriftsteller – ist Bielefelder eigentlich nur wegen Luhmann.

Denn in die Stadt selbst zog es niemanden. Rammstedt senior lebt im Grünen an der etwas ausgelagerten Uni und braucht bis heute einen Ortsplan, wenn er etwas in der Innenstadt sucht. Nur die Universität Bielefeld war damals ein Versprechen. Sie versammelte renommierte, sehr junge Lehrer. Mit ihrer verzahnten Haupthalle die „Universität der kurzen Wege“ genannt, war sie betont interdisziplinär. Alles war modern, nichts borniert, nirgends Muff unter Talaren – deswegen ging Rammstedt genau wie Luhmann täglich gern über die Noppen des „Norament 925“.

Auch Rammstedt, der Luhmann bis zuletzt traf, kannte ihn nur als „schüchtern, fast ängstlich“. Nie hat er ihn anders als mit „Sie“ angesprochen. Er schätzt ihn – sagt aber: „Angesichts der Wirkung bin ich skeptisch.“

In seinem letzten Jahrzehnt veröffentlichte Luhmann wie im Akkord Bücher: „Das Recht der Gesellschaft“, „Die Wirtschaft der Gesellschaft“, „Die Kunst der Gesellschaft“ – zu jedem sozialen System eins. Am Ende schrieb er gegen die Zeit an. Der krönende Abschluss, sein als Gesamttheorie geplantes „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, wurde ein mangelhaftes Opus Magnum. Man merkt ihm an, dass Luhmann sich beschränken musste. „Er hatte einen Co-Autoren“, sagt Kieserling. „Das war der Tod.“

Selbst um Luhmanns Tod am 6. November 1998 ranken sich Legenden. Offiziell litt er an Blutkrebs. Manche Kollegen behaupten bis heute, es sei Aids gewesen. In einem Nachruf schrieb der Medientheoretiker Friedrich Kittler den seltsamen Satz: „Er hatte in Kairo einfach ein nicht handelsübliches Hotel bezogen.“ Hin und wieder raunt man sich in der Welt der Wissenschaft Dinge zu wie: Die Uni Göttingen soll kurz nach seinem Tod eine Gewebeprobe untersucht haben, in der sie eine seltene Nebenform von HIV fand. Zu bedenken bei allen Gerüchten ist, dass Luhmanns Feinde immer zahlreich waren. Bis heute braucht sich an manchen deutschen Hochschulen nicht zu bewerben, wer als Systemtheoretiker gilt.

Als der Meister mit 71 starb, wurde es zunächst still um die Theorie. Der Suhrkamp-Verlag verschlief vor einem knappen Jahr sogar den 80. Geburtstag Luhmanns. Jetzt, zu seinem zehnten Todestag, erscheint eine Seminarunterlage von 1969 als Büchlein. Sie trägt den Titel „Liebe“ und ist ungewöhnlich leicht lesbar, eine verspielte Studie mit Sätzen wie: „Liebe hilft das Problem der sexuellen Konkurrenz lösen oder doch entschärfen.“ Wie immer geht es Luhmann um die soziale Funktion, die etwas hat, und sei es Leidenschaft.

„Wenn man seine Theorie mit dem Rest der Soziologie vergleicht, ist sie ein spektakulärere Erfolg“, sagt André Kieserling. „Alles andere neben Luhmann ist zweitklassig.“ Die anderen Soziologen arbeiten weiter mit den Ideen des 19. Jahrhunderts und hätten nicht mitbekommen, dass die Welt sich geändert habe.

Dafür wurde Luhmann in der Popkultur wahrgenommen. Nicht nur in Form von Luhmann-Fan-Shirts, die im Internet zu bestellen sind. Der Schriftsteller Rainald Goetz befasste sich immer wieder mit dem für ihn „einzigen maßgeblichen Philosophen“, nannte die Systemtheorie ein „ultimatives Kunstwerk“ und schrieb in seinem Anekdotenwerk „Abfall für alle“: „Mich erschüttert Luhmanns Totale, immer wieder, und zwar weil ich finde, dass sie selbst so erschüttert ist. Bloß hat sich Luhmann angenehmerweise nie dafür interessiert, aus dem seinem Denken zugrunde liegenden existenziellen Beben eine Nummer zu machen, einen Auftritt.“

Schien Luhmann wissenschaftlich nach seinem Tod zunächst vergessen, kommt gerade jetzt wieder Bewegung in seine Sache. Der Streit der Erben, der drei Kinder Luhmanns, um den Nachlass, wurde gerade beigelegt. Erst jetzt ist besiegelt, was er wohl auch wollte, dass seine Tochter Veronika alles verwalten wird. Aus dem Nachlass werden nun noch drei größere Werke erscheinen: Eines aus den Siebzigern über das Erziehungssystem, ein Frühfassung seiner Gesellschaftstheorie und eine Einführung in die politische Soziologie.

Und dann kommt der Zettelkasten. Kieserling ist begeistert: „Man kann lange Passagen daraus im Zusammenhang lesen.“ Er soll komplett abgeschrieben werden und vielleicht auf CD-ROM erscheinen.

Irgendwann in den nächsten Jahren wird also das komplette Werke eines Mannes vorliegen, der die Postmoderne auslachte und noch einmal alles wollte: Die Theorie, die das Soziale ganz erklären kann. Ihr hat er sein Leben gewidmet – und hat sich einen Platz unter den großen Systematikern gesichert, neben Kant, Hegel und Freud. Luhmann, der sich immer von der „alteuropäischen“ Tradition absetzte, war heimlich ihr letzter Vertreter.

Wie seine großen Vorgänger, und wie vielleicht jeder große Wurf, ist er zumindest in Teilen gescheitert. Aber seine Theorie ist nach wie vor gut lesbar, ist nicht gealtert, und ihre Strahlkraft bleibt. Wer sich ihr widmet, bekommt Aha-Erlebnisse auf jeder Seite geschenkt.

„Erstaunlich“, sagt sein Übersetzer Nafarrate mit rollendem Mexiko-Akzent, „ist die Leidenschaft, mit der einer sein ganzes Leben einer Idee widmet. Das kann nur ein Deutscher. Wir Lateinamerikaner kennen so etwas nur in Bezug auf Liebe.“