Das Tier im Tier

Essay
zuerst erschienen in u_spot Kunstmagazin 01/2005, S. 22-25
Fassung des Autors

Das „Haus der Schweine“ von Rosemarie Trockel und Carsten Höller war ein Publikumsliebling der documenta X. Aber auch Joseph Beuys und seinem Kojoten oder den freundlichen Tigerkindern in Jean Jacques Annauds aktuellem Film „Zwei Brüder“ ist die Tierwelt zu einem kulturellen Schauplatz geworden. Dabei erhalten die Tiere einen extrem behutsame Behandlung, die sich nach den neuesten Erkenntnissen der Verhaltensbiologie richtet. Woher aber rührt die Sehnsucht nach Wildnis?

Als die Bevölkerung Kassels 1997 aus dem reichhaltigen Angebot der Dokumenta X ihr Kunstwerk auswählte, traf sie sich im „Haus für Schweine und Menschen“.  Auf einer Grundfläche von 8 x 12 Metern hatten die Kölner Künstler Rosemarie Trockel und Carsten Höller einen Betonbau errichten lassen, der zur Hälfte von Schweinen – einem Eber, drei Sauen mit einigen Ferkeln – bewohnt wurde und im anderen Teil den Besuchern eine Rampe bot, von der aus sie auf Matten entspannt liegend dem Treiben der Schweine zusehen konnten. Wer auf der documenta in Kassel war, wird wahrscheinlich auch erlebt haben, wie die Besucher reagierten. Es war meist irgendjemand da, der die Befindlichkeit der Schweine taggenau kommentierte. Vor zwei Tagen sei der Eber noch nervöser gewesen, vielleicht sei ja eine der Sauen schwanger und ein bald zu erwartender Wurf stünde bevor und so weiter. Zuhörend  wurde man so Zeuge eines Prozesses, der sehr häufig einsetzt, wenn Tiere lebend ausgestellt werden: Sie setzen menschliche Erzählungen und Deutungen frei, die oft uferlos scheinen. Das kennt jeder, der mal im Zoo oder Zirkus war.

Trockels und Höllers Arbeit ging aber weiter als bloß eine gewöhnliche Tiershow nachzustellen. Sie fußte auf etwas, das unausgesprochen blieb, aber nicht zu übersehen war: auf Ergebnissen der Wissenschaft; genauer, denen der Verhaltensbiologie. Die Schweinehaltung im Kunstkontext war – wie man heute sagt – artgerecht. Um allerdings an den Punkt der Erkenntnis zu gelangen, der es erlaubt, einem Tier als Art in der Haltung auch räumlich Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, war ein langer Weg nötig. Die dabei auftretenden Kämpfe durchziehen das gesamte 20. Jahrhundert und hinterlassen nicht selten blutige Spuren. Die Begriffe „Raum“, „Territorium“ oder „Besitzergreifung“ legen davon bis heute Zeugnis ab.

Im Kasseler Schweine- und Menschenhaus herrschte derweil von Juni bis September 1997 eine andere Stimmung, die ihre genaueste Entsprechung in einem Text im theoriegesättigten Hauptkatalog der Veranstaltung fand. „Trotz aller Techniken, die ihn besetzen, und dem ganzen Wissensnetz, das ihn bestimmen oder formalisieren läßt, ist der zeitgenössische Raum wohl noch nicht gänzlich entsakralisiert (im Unterschied zur Zeit, die im 19. Jahrhundert entsakralisiert worden ist)“, heißt es in Michel Foucaults Text mit dem Titel „Andere Räume“. Und als sakral konnte man die Atmosphäre im Kasseler Haus häufig empfinden.

Der Witz an dieser Situation war, das eine solche Aufladung angesichts von Tieren geschah, die einem sonst eher profan als Schnitzel oder Wurst begegnen. Das von der Wissenschaft sozusagen in seinen Fähigkeiten freigesetzte Tier ermöglicht als lebendige Erscheinung den Wiedereintritt des heiligen Kultes in die entzauberte Welt des kapitalisierten Kunstbetriebs. Es mag zwar sein, dass darin der Grund für die künstlerische Attraktivität lebender Tiere liegt. Aber als Erklärung reicht diese Analogie nicht aus.

Eine Arbeit wie das Schweine- und Menschenhaus ist schon kunstintern und über die Biographien Trockels und Höllers so verstrickt, das man nicht darum herum kommt ein paar Fäden zu folgen. Das führt zwangsläufig zurück zu Joseph Beuys. Trockel hatte bereits vor der documenta ein Buch mit dem Titel „Jedes Tier ist eine Künstlerin“ herausgebracht. Dass der Titel in direkter Konfrontation zu Beuys’ Diktum, jeder Mensch ist ein Künstler, stehen dürfte, soll hier nicht weiter betrachtet werden. Es ist Beuys’ berühmte New Yorker Performance „Coyote: I like America and America likes me“, in deren Verlauf Beuys 1974 eine Woche lang in der Galerie René Block mit einem wilden Kojoten zusammenlebte, die als Basislager von Trockel-Höller und auch Ayse Erkmens Ausstellung von zwei lebenden Tigern in der Kokerei Essen 2002 gelten kann.

[24] Neben den mythischen Bezügen (der Kojote als heiliges Gotttier der Indianer) und den politischen Konnotationen  (die Verfolgung und Vernichtung der Indianer setzt sich im weißen Amerika in der  schonzeitlosen Bejagung des Kojoten fort) ging es Beuys um den direkten Kontakt mit dem Tier. Er warf „Little John“, so hieß der Kojote, seinen Handschuh zu, schlug mit einer Triangel Krach oder lag einfach in der Ecke auf einem Strohhaufen und rauchte.

Das alles sind Methoden, die zu Beuys Zeiten auch noch zu den geläufigen der Verhaltensbiologie zählten. Der Gänsevater Konrad Lorenz – „Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen“ heißt ein Lorenzbuch - hatte ein Jahr zuvor zusammen mit dem Verhaltensforscher Nico Tinbergen und dem Bienentanz-Entdecker Karl von Frisch den Nobelpreis für Medizin erhalten. Und Beuys bezieht sich nicht nur durch den Krankenwagen, in dem er sich vom Flughagfen in Filz gewickelt in die Galerie und wieder zurückfahren ließ, auf den Nobelpreis. Seine ganze Haltung gegenüber dem Kojoten, den er nach einer Woche ungeachtet der enstandenen Beziehung zwischen ihm und „Little John“ unsentimental verließ, entspricht der eines ausgezeichneten Forschers. Die in den siebziger Jahren zur Modewissenschaft gewordene Verhaltensbiologie hatte ihre Erkenntnisse über die Tiere noch nicht zur Maxime des eigenen behutsamen Umgangs mit dem „Versuchstier“ werden lassen. Das ändert sich erst in den achtziger Jahren und resultiert auch aus den zunehmenden Schreckensmeldungen von Tieren, denen ihr natürlicher Lebensraum genommen wird und die dadurch an den Rand des Aussterbens gedrängt werden.

Mittlerweile greift man im Unterschied zu Beuys für Kunstaktionen immer seltener auf  „wilde“ Tiere zurück, sondern bedient sich gleich der „zweiten“ Population von bereits in Gefangenschaft gehaltener Tiere – so wie es Erkmen in Essen mit ihrem aus einer Privatzucht stammenden Tigerpaar getan hat. Womit allerdings auch eine weitere Verschiebung in der Konstruktion von Wildnis in der Kunst beziehungsweise auch im Film verbunden ist. Die wilden Tigerpopulationen waren bereits mehrmals im Laufe der letzten hundert Jahren dem Ende nahe, und es war ein Gemisch aus politischen Zufällen und aktiver Tierschutzpolitik, das sie bis heute vor dem Aussterben bewahrte. Nichtsdestotrotz konnten natürlich an den letzten wilden Tieren Beobachtungen gemacht werden, die das alte Bild des Tigers etwa als zum Sozialleben unfähiger Einzelgänger revidierten. Insofern setzen Erkmen mit der Ausstellung ihrer beiden Tiger und aktuell Jean-Jacques Annaud mit seinem Film „Zwei Brüder“ diese Erkenntnisse konsequent in Szene.

Im Drama der Ausstellung und des Spielfilms werden Erkenntnisse über das in der Freiheit im Verschwinden begriffene Tier in die Welt gesetzt, ohne dabei wiederum in die Wildnis zu drängen. Das ferne exotische Tier kann einem im Kino oder in der Kunst sehr nahe kommen. Worin aber auch gleich eine Gefahr liegt. In einigen Kritiken zu Annauds „Zwei Brüder“ über die erst getrennten und später wieder zusammengeführten Tigerbrüder war dann auch von der „Kleinfamilie“ die Rede, die wieder zusammengefunden habe. Es bleibt bei einer Anthropomorphisierung, doch so nah am Menschen wie es die Metapher der Kleinfamilie suggeriert, sind die Tiere dann aber doch nicht. Aus der Welt der Menschen sind sie in Annauds Film wie in Erkmens Environment in der Essener Kokerei ausgeschlossen.

Insofern entgeht man mit den Tigern noch nicht der Fabel-Falle. In der Fabel wird das Tier aus der großen Guppe, in der es existiert, herausgenommen und auf das Einzelwesen reduziert, „wo die Metamorphose gewissermaßen Konzept wird, wo der Mensch in seinen Verschiedenheiten Mensch wird“ (Michel Serres). Der bisher avancierteste Versuch, den Psychologisierungen der Fabel und der Deutung des Raumes als Territorium, das ein Käfig ist, zu entkommen, ist in Jacques Perrins Film „Nomaden der Lüfte“ zu sehen. Zugvögel, denen Perrin in seinem Film auf ihrem Weg zwischen den Sommer- und Winterquartieren folgt, sieht man in der Regel in großen Ansammlungen – Schwärmen – am Himmel. Der ziehende Schwarm ist das Schwierigste überhaupt. Seine Mitglieder lassen sich nicht einfach isoliert individualisieren. Sie verlieren sich im Rauschen der Bewegung des Verbandes. Perrin findet dafür im Film das adäquate Medium. Er kommentiert kaum, zeigt den Zug als eine fast unendliche Folge von lokalen Vorgängen und Einstellungen. Die Vögel fliegen durch New York, rasten in der Wüste Nevadas an einem Autowrack, schlafen auf dem Schnee des Himalayas und werden irgendwo an einem See in Europa von Jägern abgeschossen. Die Orte sind nicht begrenzt, sie sind verbunden durch die Tiere, die durch sie hindurchziehen.