Auferstanden aus Ruinen

Reportage
zuerst erschienen am 13. November 2005 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 45, S. V1-V2
Eine Reise ins antike und moderne Libyen, zu Römergräbern und gezähmten Revolutionären

Das Buch versprach die „endgültige theoretische Lösung des Problems des Regierungsinstruments“. Das klang etwas holpriger als die beim Philosophen Ludwig Wittgenstein, der in seinem berühmten „Tractatus logico-philosophicus“ glaubte, „die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben“, spielte aber in einer ähnlichen Dimension. Nur ohne jede Ironie. Das Buch, von dem hier die Rede sein soll, ist das „Grüne Buch“ des libyschen Revolutionsführers und Staatslenkers Muammar al Gaddafi. Als es im Jahre 1976 erschien, war es so etwas wie Gaddafis Mao-Bibel. „Die dritte Universaltheorie“, wie das Buch im Untertitel heißt, bot einen praktisch-theoretischen Leitfaden, der im nachhinein die 1973 begonnene libysche Kulturrevolution zu erklären versuchte. Das ist für den Besucher, der heute in Tripolis durch die Suks, die kastenartigen kleinen Läden der Altstadt, wandert, nicht ohne Bedeutung.

Ein zentrales Anliegen der libyschen Kulturrevolution war die sogenannte Produzentenrevolution. Damit wollte Gaddafi ein unmittelbares Verhältnis zwischen den Produzenten von Gütern und deren Verbrauchern herstellen, unter der totalen Auslassung jedes Zwischenhandels. Das hatte so absurde Folgen wie die, daß jeder Libyer mindestens zwei Hühner halten mußte, um sich an der Eierproduktion und am Verbrauch zu beteiligen. In den mehrstöckigen Neubausiedlungen von Tripolis wird das zu merkwürdigen Verhältnissen geführt haben. Und so wurde der Hühnerplan auch bald wieder zurückgenommen.

Anders verhielt es sich mit den Einzelhändlern in den Suks: Die Rolläden wurden heruntergezogen und blieben jahrelang geschlossen. Mit den Händlern verschwanden auch die Bewohner aus der Medina, und das Viertel verfiel. Erst in den letzten Jahren wurden die Läden und Wohnungen wieder bezogen. Heute sieht man wieder Arbeiter, meist Einwanderer aus schwarzafrikanischen Ländern, die mit Schubkarren und Schaufel gegen den Verfall ankämpfen.

Das geschieht aber ganz langsam. Wie auch die Händler und Handwerker in den Suks ohne Hektik ihren Geschäften nachgehen. Zwischen den ausgestellten Kleidern, Töpfen, dem Kunstgewerbe, Straußeneiern und Elfenbeinschnitzereien geht man spazieren, ohne bedrängt zu werden. Es gibt alles mögliche zu kaufen, aber es will einem nicht unbedingt jemand etwas verkaufen. Es zupft einen niemand an den Kleidern, noch wird man marktschreierisch auf eine Pfanne oder einen Kessel aufmerksam gemacht. Der libysche Ölsozialismus sichert bis heute jedem Libyer ein Grundeinkommen zu.

Und das merkt man auch. Man wird in Libyen nämlich nicht angebettelt. Für einen Moment kommt einem der böse Gedanke, ob nicht vielleicht doch Diktaturen die besseren Reisebedingungen schaffen. Denn eine Diktatur bleibt Libyen auch nach dem Ende des Embargos im Jahre 1999, seit seiner langsamen Öffnung auch für Touristen und den mit alledem verbundenen Liberalisierungen. Gaddafi ist auf Plakaten allgegenwärtig. Und wenn man seinen Namen allzu oft in einem Gespräch in einer fremden Sprache erwähnt, kann das libyschen Begleitern unangenehm sein. Am besten sucht man ein Pseudonym - wir nannten ihn einfach cheesecake -, dann kann man unbehelligt über ihn reden, wenn man denn unbedingt meint, es tun zu müssen. Denn von den Plakaten einmal abgesehen, ist der ehemalige Schurke nicht sonderlich aufdringlich. Selbst am 1. September, dem sechsunddreißigsten Jahrestag der libyschen Revolution, macht er sich rar auf dem „Grünen Platz“, dem zentralen Versammlungsort in Tripolis. Während Fidel Castro bei solchen Anlässen drei Stunden redet, benötigt Gaddafi nicht mal fünfzehn Minuten. Weil Gaddafi und die Libyer sowieso dasselbe denken, müsse er nicht mehr soviel reden, erklärt ein Polizist.

Abends spielen dann Bands aus Marokko und Tunesien mit E-Gitarren und unverschleierten Frauen. Der Schleier ist auch unter den meist jugendlichen Zuhörerinnen nicht das vorherrschende Kleidungsstück. Wie überhaupt die Zeichen auf den T-Shirts wenig arabisch sind. „FBI“ liest man da, gelb geschrieben auf blauem Grund, dazu trägt der Junge eine gelb-grüne Armeehose. Sein Freund schwingt die grüne Fahne der libyschen Revolution zum Slogan „Formel 1 Racing Silverstone“. Wenn nicht gerade Revolution gefeiert wird, ist der Grüne Platz, arabisch Assaha al-Khadra, aber auch der Ort, an dem man sich in Tripolis trifft und auf dem man flaniert. Von hier aus sind die Cafés und Restaurants in den umliegenden Straßen zu Fuß zu erreichen.

Und es ist auch nicht weit bis zum Hafen, wo man auf dem offenen Bootsdeck in der Mittelmeerluft essen oder Kaffee trinken kann. Wenn der Blick dann von den wasserpfeiferauchenden Gästen und den langsamen Kellnern auf das Wasser gleitet und auf die Unmengen leerer Wasserflaschen fällt, die sanft auf den Wellen am Ufer schaukeln, hat man dann aber doch eine Geschäftsidee für den Zwischenhandel: Mit all den Plastikflaschen, die im Hafen von Tripolis dümpeln, wäre man im Hochland von Äthiopien der König. Für Gaddafi, der sich gern vor einer Landkarte mit einem dunkel vereinten Schwarzafrika unter Auslassung anderer arabischer Länder abbilden läßt, könnte da was zu machen sein. Aber Schwarzafrika ist trotz aller Propaganda auch in Libyen weit weg.

Das wird schon in der Altstadt von Tripolis klar. Etwa zwanzig Fußminuten vom Grünen Platz entfernt hat sich dort der 163 nach Christus für Marc Aurel erbaute Triumphbogen erhalten. Man sollte sich den Aurelbogen schon deshalb ansehen, um einen Eindruck zu bekommen, wie Tripolis über die Jahre in die Höhe gewachsen ist: Das Originalpflaster des Bogens liegt nämlich einige Meter unter dem heutigen Straßenniveau.

Für den beginnenden Reiseverkehr sind gerade die Zeugnisse aus der libysch-römischen Epoche von Bedeutung. Libyen ist kein Badeland wie Tunesien oder Ägypten. Die Hotels außerhalb von Tripolis sind, gemessen am Standard von Mallorca, schlicht und einfach. Viele der in den vergangenen Jahren gegründeten privaten Tourismusunternehmen setzen deshalb auf Bildungsreisen.

Und das zu Recht. Denn mit den antiken Küstensiedlungen Sabratha und Leptis Magna, westlich und östlich von Tripolis am Meer gelegen, besitzt das Land zwei der weitläufigsten Ausgrabungsstätten überhaupt. Beide Städte sind phönizische Gründungen, die ihren Höhepunkt in römischer Zeit erreichten. Als 193 nach Christus der in Leptis Magna geborene Septimus Severus römischer Kaiser wurde, begannen die Römer, die Erschließung Nordafrikas zu forcieren. Ein Geschenk Severus‘ an seine Herkunftsregion war das römische Theater in Sabratha. Es ist, wenn man den Eingang zur Ruinenlandschaft von Sabratha durchquert hat, nicht zu übersehen.

[V 2] Das Theater, mit seiner dreigeschossigen Kulisse und den sie stützenden korinthischen Säulen, ist eine Rekonstruktion: teils aus Originalbausteinen, teils aus italienischen Nachbauten. Sabratha wie auch Leptis Magna lagen bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im libyschen Sand begraben. Erst als der italienische Faschismus unter Mussolini sich mit dem Römischen Reich historisch legitimierte, begannen in Libyen die Ausgrabungsarbeiten.

Das Gelände von Sabratha reicht direkt bis ans Meer. Man kann der Macht der römischen Gemäuer hier noch ausweichen. Mit der entsprechenden Kopfbedeckung gegen die sengende Hitze kann man sich dort auch ans Wasser setzen und die Wellen beobachten, ohne von Rom überwältigt zu werden. Dabei ist man allein, was sehr angenehm ist: Der unterentwickelte Tourismus Libyens treibt kaum jemanden her. Noch.

Und auch in Leptis Magna ist man allein, nur werden hier irgendwann die Steine zu mächtig. Leptis Magna war nach Rom und Karthago die drittgrößte Stadt des Römischen Reichs. In ihrer Blüte hatte sie über einhunderttausend Einwohner. Von denen müssen ein paar sehr reich gewesen sein. Was man den Resten heute noch ansieht. Man muß nur ein paar Meter auf der säulengeschmückten Prachtstraße, der Via Colonnata, gehen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, daß schon zu römischer Zeit in Architektur verwandelter Reichtum nicht immer geschmackssicher war.

Man ertappt sich also dabei, immer wieder auf die Reste der steinernen Marktstände und Arkadenläden zu starren, die bis heute in abgewandelter Form auf den Marktplätzen in Südfrankreich oder in der Innenstadt von Bologna ganz andere Geschichten erzählen als die von Prunksucht und Angeberei. Sie erzählen von Verbindungen zwischen Stadt und Land, die nicht trennen in Arm und Reich. Wie auch die drei Libyer, die scheinbar planlos zwischen den Säulen hocken.

Die drei jungen Männer, die, wie sie sagen, sich öfter in den Ruinen aufhalten und auf was auch immer warten, posieren gern. Einer klettert eine Wand hoch, lehnt dekorativ neben einer Säule und verschwindet wieder. So wie sie da sitzen, könnten sie auch aus einem Film von Pier Paolo Pasolini stammen. Irgendwie beleben sie durch ihr Nichtstun die Reste eines geschäftigen Imperiums und machen gute Laune. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich einfach freuen, daß mal jemand vorbeikommt, den sie noch nicht kennen.

Wie überhaupt die Verbindung von Freundlichkeit und Langsamkeit vieler Leute hier auffällt. Dabei ist es gleich, ob es sich um jugendliche Betreiber eines Internetcafés in der Oasenstadt Ghadames handelt oder die Bedienung im Hinterzimmerrestaurant an einer Tankstelle mitten in der Wüste oder den Verkäufer in einem Lebensmittelladen an der Straße. Irgendwie hat man es in Libyen geschafft, die Geschwindigkeit aus der Luft zu nehmen, und das in einem Land, das, wie man hört, mehr Autos als Einwohner haben soll. Man weiß nicht, woran es liegt, und irgendwann vergißt man auch, danach zu fragen. Und spätestens, wenn der klimatisierte Kleinbus auf einer Straße in der Sahara anhalten muß, weil eine Kamelfamilie die Straße sperrt, gibt man es auf, die Zusammenhänge schnell verstehen zu wollen.

Neben der Straße laufen ein paar Haubenlerchen, mit dem wippenden Schritt, der die Vögel auszeichnet, und verschwinden gleich wieder irgendwo im Saharasand. Daß die Wüste lebt, hatte Walt Disney einem früher schon erklärt, nur kann man die Fruchtbarkeit der Sahara besser verstehen, wenn man sie selbst sieht. Daß der Sand sich dauernd bewegt, schmeckt man schon nach ein paar Metern zwischen den Zähnen, aber daß darunter oder darauf überall etwas zu leben scheint, erwandert man sich am besten mit den eigenen Füßen. Man sollte aber nicht glauben, dort der erste Wanderer zu sein: Das erspart einem nämlich die Enttäuschung, die ein offensichtlich entsetzter Wüstenspaziergänger einmal auf den deprimierenden Nenner brachte: Überall Spuren hier.

Nach der Zeit in der Wüste wird einem aber auch ein Mangel Libyens bewußt: Wenn man nach ein paar Tagen in der Sahara nach Tripolis zurückkommt und abends am Fischmarkt, der bis in die Nacht geöffnet hat, einen frischen Fisch gekauft hat, bekommt man das dumpfe Gefühl, sich noch etwas anderes zu wünschen. Am Fisch liegt es nicht, der ist frisch und wird einem am Nachbarstand gegrillt serviert. Erst als der Kellner mit dem Wasser kommt, fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Man hätte gern ein Bier.