Die Stille nach dem Schuß
Es war das erste Mal, daß ich vor einer Reise neben der gewohnten Panik tatsächlich Angst hatte. Am Abend vor dem Abflug ging ich mit dem ältesten Freund Essen und schrieb den nächsten der nahen Menschen in die E-Mail: Ich fahre nach Israel. Die Angst war diffus und absurd und der Zustand grotesk. Das änderte sich zwar alles sehr schnell, sobald ich dort war, aber die Erinnerung an die Angst blieb irgendwie. Und so lächerlich sie mir jetzt vorkommt, so bezeichnend finde ich sie.
Vom Krieg hatte ich gehört, der war irgendwie an mir vorbeimarschiert in den Medien. Aber das war nicht der Grund meiner Angst. Denn die Bilder von fliegenden und einschlagenden Katjuschas aus dem Fernsehen konnte ich nicht mit echtem Elend in Verbindung bringen, und wer sie nun genau abschoß, wurde über die ganze Zeit dieses Krieges im Bild nicht klar. Und so bildlos wie der Feind blieb, so klar war meine Haltung: Gegen faschistische Irre muß man sich wehren, für die Restfragen fühlte ich mich nicht zuständig.
Der alltägliche Krieg
Wer allerdings seit Jahren wie ich im Ruf eines Philosemiten steht, für den hat dieser Krieg hierzulande eine ganz andere Dimension. Wirklich fast jeder in der näheren Umgebung fühlte sich nun berufen, Israel zu kritisieren: So ginge das ja nun auch nicht, wie die es da trieben. Anfangs hatte ich noch widersprochen, irgendwann aber aufgegeben. Doch diese ständige Bearbeitung durch die Freunde und Bekannten zeigte jetzt seine Wirkung. Angst. Ich hatte mehr Angst davor, in Israel zu erleben, daß all die Kritiker recht hatten, als vor der Gewalt und dem Krieg, vor dem, was das Auswärtige Amt auf seiner Website in seinem ungewöhnlich langen Sicherheitshinweis beschrieb.
Ich kannte Israel. Die letzte Reise lag allerdings fünfzehn Jahre zurück und fiel in die Zeit einer allgemeinen Friedenseuphorie, die damals auch die in Israel arbeitenden Palästinenser erfaßt hatte. Ich wußte also um die alltägliche Gegenwart des Militärs auch in Friedenszeiten und erinnerte mich noch sehr gut, wie verblüfft ich war, neben Soldaten mit Gewehren in Cafés zu sitzen: Sie hatten mir weniger Angst eingejagt als jeder Polizist der Guardia Civil in Madrid. Die jungen Frauen und Männer in Uniform erschienen mir nicht als innerstaatliche Disziplinierungskommandos wie die Soldaten in der Altstadt von Quito oder am Flughafen von Addis Abeba.
Und so war es auch diesmal. Das begann schon beim obligatorischen Sicherheitsinterview am El-Al-Schalter in Frankfurt. Es war kurz und höflich, und ich habe die freundliche Frau wirklich gefragt: Was, das war’s schon, wollen Sie nicht noch mehr wissen? Zur Freundlichkeit der Abfertigung kam dann noch ein leeres Flugzeug, für Passagiere natürlich angenehm. Ein Eindruck, der sich über die ganze Reise legen sollte: angenehme Leere.
Am ersten Abend war das „Dixie Restaurant“ von Tel Aviv allerdings voll. Es gab Warteschlangen, die Tische wechselten an dem Abend oft dreimal die Gäste. Tel Aviv ist nun einmal die Nachtlebenzentrale Israels, die auch im Krieg nicht geschlossen hat.
Die verlassenen Städte
Doch die Lebendigkeit dieser Stadt schien diesmal auch mit dem Krieg zusammenzuhängen: Denn wer konnte, das heißt: wer Verwandte in Gegenden ohne Raketenbeschuß hatte oder es sich finanziell leisten konnte, verließ Städte wie Haifa. Und was das heißt, wurde schon zwei Abende später deutlich: Im Fischrestaurant in Haifa waren wir die einzigen Gäste.
Unsere israelischen Begleiter sprachen natürlich meistens vom Krieg, auch sie zeigten sich einigermaßen ratlos. Denn diesem Krieg fehlt so einiges, was ihn zu einem Krieg macht, wie wir ihn bislang kannten, und deswegen läßt er sich auch so schwer vergleichen. Das fängt schon mit der absurden Situation an, daß viele Israelis Haifa verlassen haben und vor allem die palästinensische Bevölkerung zurückblieb - und jetzt von der Hizbullah beschossen wurde. Und da wird es schwierig: Wer oder was ist die Hizbullah überhaupt? Ein Krieg wird zwischen Staaten geführt, ein Staat ist die Hizbullah nicht. Ist es also ein Bürgerkrieg? Doch auch im Bürgerkrieg geht es um den Staat, darum, die alten Machthaber zu beseitigen und neue Eliten zu installieren. Aber auch darum geht es nicht. Unsere Begleiter versuchten das Dilemma immer wieder mit dem Hinweis auf Iran zu klären, aber auch Iran hat Israel bisher nicht den Krieg erklärt.
Das alles war jedenfalls so kompliziert, daß es mich regelrecht aggressiv machte, an die Kritik zu denken, die in Deutschland über Israel kursiert. Und so nickte ich den heftigen Worten eines unserer Begleiter nur zu: Er wolle keine „Lösung“, sagte er, er wolle einfach hierbleiben. Und er wolle weiter als Jude unter Juden leben - und nicht in einer islamistischen Diktatur. Für ihn und unsere anderen Begleiter, die vom Tourismus leben, sind die Zeiten nicht leicht. Weil zum Beispiel gerade die Bibeltouristen ausbleiben.
Das war andererseits für uns angenehm: weil etwa im Amphitheater von Caesarea, wo sonst zehn Touristenbusse parkten, wir die großzügig restaurierte Anlage jetzt für uns allein hatten. Caesarea Maritima ist eine Gründung des Herodes aus dem 1. Jahrhundert vor Christus. Sie ist der steingewordene Wunsch des König Herodes, seinem Gönner Augustus zu zeigen, wie folgsam und wichtig er für das Römische Reich war.
[V2] Caesarea, südlich von Haifa gelegen, wurde in der Folge zur größten Hafenstadt im Mittelmeer. Von Herodes‘ Prachttheater sind heute nur noch die Grundmauern der Zuschauertribüne und die Kanalisation übrig. Das Theater als Zentrum der antiken Ausgrabungsstätte ist im Sommer ein beliebter Ort für Theateraufführungen und Konzerte. Bühnenarbeiter werkelten, das Theater schien also weiter geöffnet zu haben.
Die Spuren des Kampfs
In Akko nördlich von Haifa bekommt man noch einen lebendigen Eindruck von der frühen Zeit. Akko ist heute eine hübsche Stadt mit einem kleinen Hafen und vierzigtausend Einwohnern. In phönizischer Zeit gegründet, war Akko immer eine Verbindung zwischen Israel, Asien und der Welt. Sie lag an den alten Karawanenstraßen und wurde somit fast zwangsläufig zu einem Zentrum der Kreuzfahrer. Die mittlerweile auf einer Fläche von sechzehntausend Quadratmetern freigelegte Hospitaliter-Zitadelle mit ihren Ritterhallen, dem Speisesaal der Kreuzfahrer, dem Gefängnis, dem Burghof und dem Fluchttunnel vermittelt einen manchmal klaustrophobischen Eindruck von Gedränge und Geschäftigkeit aus der Zeit, als aus Europa der religiöse Wahn ins Heilige Land kam. Doch das war damals. Heute, bei unserem Besuch, war es aber auch hier leer. Die Händler auf dem Basar waren freundlich, sie freuten sich über jeden, der friedlich vorbeikommt.
Der Krieg hat hier genausowenig sichtbare Spuren hinterlassen wie an den anderen Orten unserer Tour im Norden Israels. In Nazareth, Tiberias und am See Genezareth hörten wir immer wieder, wie voll es hier sonst sei, das war es, was uns den Krieg wieder ins Gedächtnis holte. Ansonsten genossen wir die Landschaft, das Wetter und Sensationen wie die Bodenmosaike in der Brotvermehrungskirche in Tabgha am See Genezareth.
Die Mosaike aus dem 5. Jahrhundert nach Christus zeigen zweiundzwanzig verschiedene Vögel, einzeln oder paarweise angeordnet, und sind von einer solchen Schönheit, daß ich an diesem Ort auch die Vermehrung von Brot und Fisch nicht mehr anzweifeln will. Ein Flamingo schnäbelt mit einer Schlange, zwei Enten küssen sich. Und der schönste Pfau, der je die Unsterblichkeit und das Paradies verkörperte, sieht in eine Pflanzenblüte hinein. Wir sind einfach dankbar, hier allein sehen und stehen zu dürfen, mit den Füßen auf diesem Boden. Und genauso ist es in Qumran nördlich des Toten Meeres, dort, wo 1947 die einzigartigen Schriftrollen gefunden wurden, die eine jüdische Sekte in der Zeit vom 3. Jahrhundert vor Christus bis 68 nach Christus anfertigt hat.
Der Geist in der Hitze
Wir sind froh, ohne Touristenrummel in der Wüste zu stehen und auf die Berghöhlen zu sehen. Hierher hatten sich diese Juden zurückgezogen, um sich den Zöllen an den Staat zu entziehen, gegen den Mißbrauch des Hohepriesteramtes zu protestieren und dem „bösen Priester“ von Jerusalem zu entkommen. Wenn die Savannen und Steppen Namibias und Südafrikas der Geburtsort des aufrecht gehenden Menschen sind, dann markieren die Höhlen von Qumran den Beginn der anarchistischen Literatur. Sie wendet sich gegen die Verkommenheit der weltlichen Hierarchien. „Gemeinschaftlich sollen sie essen und gemeinschaftlich sollen sie den Segen aussprechen und gemeinschaftlich sollen sie beraten“, lautete der Kodex der Gemeinde von Qumran.
Und auch um diese Linie „unserer Kultur“ scheint es zu gehen in den Kämpfen um Israel. Die Angst, die ich anfangs hatte, weicht jetzt einer großen Klarheit: Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss hatte schon 1986 den Eindruck, „daß unsere Kultur angesichts äußerer Bedrohungen, zu denen wahrscheinlich auch die islamische Explosion zählt, in die Defensive geraten ist“. Und deshalb wird er zum „festentschlossenen, ethnologischen Verteidiger“ seiner eigenen Kultur. Lévi-Strauss ist Jude.