Proef zelf!
In jeder Drogenerzählung - darüber täuschen selbst die nüchternen Infographiken der Nachrichtenmagazine nicht hinweg - schwingt der alte Tonfall der Sage mit. „Diese Geschichte ist nicht von mir.“ So beginnt Walter Benjamins rätselhafte Novelle „Myslowitz - Braunschweig - Marseille“. Liest man das urkomische Protokoll einer Haschischerfahrung, so entstehen Zweifel an den jüngst verbreiteten Behauptungen über das hochgezüchtete „Powerkraut“ dieser Tage, welches den harmlosen Stoff der Vergangenheit in den Schatten stelle.
Benjamins Text dient als Beleg für die vom Philosophen Ernst Bloch beim Bier aufgestellte These, „es gäbe niemanden, der nicht schon einmal im Leben ums Haar ein Millionär geworden wäre“ - und berichtet von einem unbelegbaren Maler namens Eduard Scherlinger, den beim Kiffen in einem Marseiller Hotelzimmer die Eilnachricht seiner Bank erreicht, er möge die Anlage des väterlichen Erbes in Royal-Dutch-Aktien per Telegramm bestätigen. Doch auf dem Weg zum Postamt beginnt das zuvor genossene Haschisch zu wirken. Als Vorsorge für den „verzehren den Heißhunger“ will der Maler eine „Tafel Schokolade“ kaufen - landet aber, da er die „Perücken“ im Schaufenster mit „Baumkuchen“ verwechselt, irrtümlich in einem Friseursalon. Danach wird der Berauschte urplötzlich „zum Physiognomiker“, entdeckt in einem Lokal das „Gymnasium von Myslowitz“, wünscht sich auf einer Steinbank am Hafen die güldene Inschrift „Bank“- und verpaßt natürlich das Postamt und mithin die „Sensationelle Hausse“ der Ölaktien. So machte Cannabis (um in der Sprache des Nachrichtenmagazins zu bleiben, dessen umgetaufte Antihelden Bastian oder Claas heißen und achtzehnjährige Schüler an der Grenze zur Lebensunfähigkeit sind) schon vor dem Zweiten Weltkrieg mancher Blitzkarriere einen Strich durch die Rechnung.
Man braucht nicht den drogenerfahrenen Märchenfreund Benjamin zu zitieren, um in obiger Geschichte die Muster des Volksmärchens wiederzufinden. Nennen wir die Helden der folgenden Geschichte, welche die Wege und Irrwege von Marihuana beeinflußter Biographien jenseits der Skandalisierung nachzeichnen will, also ihrem Wunsch gemäß Hänsel und Gretel. Hänsel ist ein siebenundzwanzig Jahre alter Diplom-Kommunikationswirt mit Fachabitur, arbeitet in einem Medienunternehmen und trägt ein Polohemd und Baseballkappe. Gretel ist eine neunundzwanzigjährige Geisteswissenschaftlerin mit Magisterabschluß, die sich zur Zeit für Jobs und Stipendien bewirbt und Jeans zu einem rosaroten Pullover anhat.
Die leicht sentimentale Reise, von der diese Geschichte handelt, führt zu den Quellen: Während auf der Autobahn A 4 kurz vor Aachen die dampfenden Kühltürme des grenznahen Kraftwerks am Horizont auftauchen, nähert sich der Kölner Kombi zugleich den künstlichen Paradiesen der holländischen Coffeeshops und jenem noch künstlicheren Paradies der Erinnerung, aus dem wir nach dem Dichterwort nicht vertrieben werden können. Denn der Name „Maastricht“ bezeichnet für viele junge Leute, die ihre Schulzeit in Nordrhein-Westfalen verbrachten und am Wochenende ein Auto zur Verfügung hatten, einen Topos für die Reize des in Deutschland Verbotenen. Heute läuft im Kassettendeck des Autos ein altes Mix-Tape, auf dem zwischen wabernde Hip Hop-Songs zitatreife Passagen aus dem Kultbuch „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams geschnitten sind: „Der Unendliche Unwahrscheinlichkeitsdrive ist eine neue, hinreißende Methode, riesige interstellare Entfernungen ohne das ganze langweilige Herumgehänge im Hyperraum in einem bloßen Nichtsigstel einer Sekunde zurückzulegen.“ Tatsächlich verbraucht die nicht wirklich interstellare Route nach Maastricht knapp anderthalb Stunden - Zeit, in welcher Hänsel die als Impulsmaterial mitgenommene Ausgabe des Nachrichtenmagazins durchblättert, die unter dem Titel „Die Seuche Cannabis“ ein Mädchen mit Joint als Schultüte abbildet.
Hänsel wendet auf dieses angstbesetzte Bild den Gegenzauber jener Tiefenhermeneutik an, die überall geheime Beziehungen und verborgene Botschaften wittert: „Klapp mal den Schutzumschlag auf!“ Jetzt kommt gleich neben der Drogenschülerin die verlockende Schokoladentafel von der Heftrückseite zu hegen: „Der sahnigste Genuß, seit es Quadrate gibt“. Hänsel und Gretel sind gut zehn Jahre älter geworden seit jener Zeit, als „Holland“ für sie noch ein Zauberreich mit bizarren Hinweisschildern an der Autobahn war. Hänsel erinnert sich noch an die Ausreden, welche die Eltern von der Ungefährlichkeit des ersten Amsterdam-Aufenthalts überzeugen sollten: „Nee, wir gehen wirklich nur ins Museum!“ Tatsächlich verwandelte sich, wie Gretel findet, unter dem Eindruck der Droge ganz Maastricht mit seinen idyllischen Kopfsteinpflastergassen in ein Museum. Als wir das gediegene Bistro „‘t Pothuiske“ an der Maas passieren, zeigt Gretel auf die sechsblättrige Pflanze im Wappen des Lokals - und erinnert sich daran, daß früher ein mehrsprachiges Schild „Dies ist kein Coffeeshop!“ im Fenster hing, um die vom mißverständlichen Symbol und vom mehrdeutigen Namen an gelockten Teenager fernzuhalten. Lange vor jeder Blumenberg-Lektüre wurde bei Maastricht-Besuchen die „Lesbarkeit der Welt“ entdeckt - und die Stadt als Zeichenkulisse mit scheinbar lustigen Schildern wie „Stuntprijzen!“ oder „Proef zelf!“ mißbraucht.
Obwohl Hänsel und Gretel an der inzwischen zur Großbaustelle verwandelten Maaspromenade den Weg nicht mehr finden, mobilisiert das Stadtbild noch immer die alte Entzifferungssucht. Ein mopsiger Hund, der am Marktplatz unter der Leuchtschrift „Gulpener Bier“ auf einer Fensterbank thront, genügt für den drogenfreien Einstieg in die Assoziationsketten. Langhaardackel oder Yorkshire-Terrier? Der Hund von Rudolf Moshammer? „Spring doch“, sagt Hänsel wie zur Probe halblaut und kichert.
Im aufgeräumten Coffeeshop „Kosbor“ an der Kleinen Gracht sind jene Reste von frühgeschichtlicher Mystik, welche die Kultur des Haschischkonsums stets umwehte, auf ein Mindestmaß zurückgeschrumpft. Urzeitfarne hängen über der Theke, und ein riesiges Wandgemälde lüftet das Rätsel von Stonehenge: Die Steine wurden von violetten Seifenblasen mittels Magnetstrahlen an Ort und Stelle gehievt. Von „Afgaan“ für 2,50 Euro pro Gramm bis zu einer Sorte mit dem furchteinflößen den Namen „Ice-O-Lator“ für 17,50 Euro reicht das Sortiment.
An den Hippiemythos des Kiffens im Namen von Kreativität und Weltverbesserung haben Hänsel und Gretel nie ge glaubt. Allenfalls die „Rituale“ – zum Beispiel den klischeehaft in die Faust gesteckten Joint oder das naturnahe Rauchen am „Erdloch“ - übernahm man am Anfang. Die Erleuchtungen waren profaner Natur.
Gretel erinnert sich an den Selbstversuch, eine auf Video aufgenommene Woche „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ am Stück anzuschauen. Und Hänsel spricht davon, daß selbst der „Laberflash“ - mit Benjamin: „Es fällt einem sehr auf, in wie langen Sätzen man spricht“ - beim gruppenfixierten Rauchen schnell verebbte: „Irgendwann kommt in jeder Clique der Zeitpunkt, wo man sich nichts mehr zu sagen hat. Außer: Mach mal Mischung!“ Den noch produzierte der Haschischgenuß - und das allein ist wohl seine kulturstiftende Dimension - unendliche Geschichten. Gretel wagt sogar die literaturtheoretische These, sämtliche Anekdoten übers Rauchen ließen sich gemäß Vladimir Propps strukturalistischer Märchenanalyse auf einunddreißig Handlungsfunktionen zurückführen.
Archetypisch ist nicht nur Hänsels Erzählung vom Klassenausflug, bei dem die Clique eine Wasserpfeife in den Bonner Bundestag schmuggelte, obwohl der Rucksack geröntgt wurde. Mustergültig auch Gretels Bericht von einem Freund, der auf der Suche nach einem wichtigen Autoteil in einem niederländischen Supermarkt verschwand - und mit acht Tüten Chips in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen wiederauftauchte. Auch über einsame „Abstürze“ auf geselligen Partys kursiert eine Basiserzählung mit einigen Variablen - von der angenommenen Hautfarbe bis zur Art der Halluzinationen. Der große Absturz jedoch, also die vom Nachrichtenmagazin prophezeite zerbrochene Vita, taucht im narrativen Repertoire kaum auf. Gretel, die mit vierzehn Jahren in einem Jugendzentrum auflegte und dort durchaus auch „kaputte Typen“ kennenlernte, aber nach der Scheidung ihrer Eltern den „vernünftigen Part“ in der Familie übernehmen mußte, erfuhr auf dem zehnjährigen Abiturtreffen vom einzigen „Komplettabsturz“ ihres Jahrgangs, einem dem Alkoholismus verfallenen „Jurastudenten mit Krankenkassenbrille“. Hänsel kennt durchaus Freunde, die sich zu Schulzeiten „runtergeraucht haben“ - später aber als „energiereiche Typen“ an der Abendschule das Abitur nachmachten.
Freilich erlebte Hänsel auch Leute, „die es gar nicht geschafft haben“ und in jungen Jahren nach „Experimenten“ mit härteren Drogen am eigenen Erbrochenen erstickten. Ob die künstlichen Paradiese zum Sumpf werden oder biographische Urlaubsinseln bleiben, darüber entscheidet wohl der Charakter. Gretel jedenfalls, die bei einem Auslandssemester in Oxford „Kinder reicher Eltern“ kennenlernte, die ihre Freizeit mit achtzehnblättrigen Jointkonstruktionen totschlugen, sah im Pfeifenbaufetischismus vieler Kiffer denselben „Entdeckergeist“, der sich vorher in Physikolympiaden und später in der artgerechten Haltung psychoaktiver Kakteen entfaltete. Warum fing man mit dem Kiffen an, wenn man nicht an die Erlösungsphantasien der Hanfkultur und ihrer peinlichen T-Shirts und Aufkleber glaubte?
Gretel spricht lächelnd vom „Gruppenzwang und der jugendlichen Bereitschaft, sich alles anzutun, was nicht tödlich ist“. Hänsel, der seit seiner Kindheit an einer Halbspastik leidet, erwähnt die Entspannung der Muskulatur: „Vielleicht ist Langeweile auch ein gutes Stichwort. Und Neugier. Jugend forscht.“ Beim Flanieren durch die beschauliche Stadt - nicht nur von Gretel früher wegen der „relaxten Holländer“ zum gesellschaftspolitischen Utopia verklärt - fallen zahlreiche Überwachungskameras in Form von Bogenlampen auf. Schilder mahnen: „Cameratoezicht!“ Eine sonderbare Entdeckung, denn zum Grundgefühl der Haschischraucher gehört eine gute Portion Paranoia - die der Proppschen Märchenfunktion „Held wird verfolgt“ entspricht.
Am Ufer der Maas ist die zwanghafte Seite der Haschischkultur in Reinform zu besichtigen - dort hegt, hinter riesigen Parkplätzen, der auf einem Boot untergebrachte Coffeeshop „Mississippi“. Eine kurze Stippvisite führt vorbei an einem bulligen Türsteher, der auf vier flimmern den Monitoren das dumpfe Innenleben kontrolliert, in einen verrauchten Schlauch mit dem Charme einer schäbigen Spielhölle. Jugendliche Typen in Muskelshirts oder Beckham-Trikots rauchen sich hier ins Hochleistungskoma. Stranden auch an diesem Hafen beseelte Entdeckernaturen, die gerade um ein Haar die Millionen ihres Lebens verpassen?
Wohl kaum. Draußen am Kai steht zwischen Kleinwagen mit deutschen und belgischen Kennzeichen eine tiefschwarze Corvette mit kalifornischem Nummernschild. Hier hat offenbar jemand - womit auch immer - Karriere gemacht. Vielleicht ist der Autobesitzer ja auch der Autor jenes protzigen Graffitos, das in Groß buchstaben an der Backsteinmauer steht: „Life is a Game and I am the Winner.“ Aber dieses Ammenmärchen glaubt kein Mensch.