Stille Tage in Bamako

Reportage
zuerst erschienen am 03. Februar 2013 in Die Welt
Christof Wackernagel saß als RAF-Terrorist zehn Jahre lang in Einzelhaft, dann spielte er Fernsehkommissare und ging schließlich als Schriftsteller nach Mali. Wenn einer weiß, was wir in Afrika verloren haben, dann er. Ein Besuch im Krieg

Niemand fährt mit Helm in Bamako, kein Mensch. Angeblich gab es einmal den Versuch, die auf dem Papier existierende Helmpflicht durchzusetzen, aber das sei an den Frauen gescheitert, die ihre komplizierten Flechtfrisuren nicht ruinieren wollten.

Das Motorrad, eine chinesische Super No. 1, sägt über die Lehmpisten, die Luft riecht betäubend nach verbranntem Fleisch und Abgasen, und die blauen Sammeltaxis, deren Fahrer oft unter Drogen stehen, schneiden unberechenbar den Verkehr. Aber der Gepäckträger fühlt sich in diesem Moment an wie der sicherste Ort auf der Welt.

Das ist ein ungewöhnliches Gefühl, wenn man erstens bedenkt, dass Mali ein Land im Kriegszustand ist, woran einen, sollte man es vorübergehend vergessen, die zahlreichen Militärkontrollpunkte in der Hauptstadt erinnern - und zweitens, dass der Mann am Steuer des Motorrads 1977 als Mitglied der RAF auf einen Polizisten geschossen und deshalb zehn Jahre in einer zwei mal fünf Meter großen Einzelzelle verbracht hat. Man könnte vermuten, dass so einer die Gefahr anzieht, vielleicht sogar sucht.

Christof Wackernagel, 1951 in Ulm geboren, Schauspieler und Schriftsteller, gehört zu den letzten Weißen in Bamako. Das Auswärtige Amt hat alle Deutschen schon vor Tagen aufgefordert, Mali mit den nächsten Linienflügen zu verlassen. Nach den militärischen Erfolgen der Franzosen, die im Norden beunruhigend leicht eine Stadt nach der anderen von den Islamisten zurückerobern, rechnet man in der Hauptstadt mit Anschlägen und Entführungen von Ausländern. „Aus der terroristischen Logik heraus denke ich, sie nehmen die leichten Opfer“, sagt Wackernagel. „Der Krieg fängt gerade erst an.“

Dass Wackernagel, der sich schon in seiner Haftzeit vom Terrorismus lossagte, in diesem Krieg eine eigene Rolle spielt, ist eine seltsame Drehung der Geschichte. Aber er will eine Botschaft unter die Leute bringen. An der Bürgermeisterei, die Sonne glüht im Zenit, stellt er das Motorrad im Schatten eines Baumes ab, um seinem Freund, dem Polizisten, eine DVD mit Anne Wills letzter Talkshow zu schenken. In malischer Tracht saß Wackernagel neben Entwicklungsminister Dirk Niebel und forderte deutsche Militärbeteiligung: „Das Land wird bedroht und überfallen. Liebe Bundeswehr, helft uns!“

Der Polizist murmelt anerkennende Worte, er wirft kurze „Ahs“ und schnelle „Ahas“ ein, selbst wenn Schweigen herrscht, dann bittet er uns in eine fahl beleuchtete Amtsstube und holt ein Oktavheft hervor, in das er mit Schreibschrift Gedichte notiert hat. In seiner Freizeit ist der Polizist ein Poet, er bewundert Victor Hugo und Lamartine, „wegen seiner Schönheit“. Das jüngste Gedicht handelt von einem Berg, der die Form einer Rose hat, in der Nähe von Gao, seiner Heimat. Alle Hexer kommen zu diesem Berg. „Auch die Hexer aus Deutschland!“ Das Mali-Wappen an der blauen Uniform des Polizisten hängt nur an einem Faden, im Kassettengerät auf dem Boden singt Bob Marley „Buffalo Soldier“.

Seit „Anne Will“ rufen alte Freunde an, erzählt Wackernagel, und beschimpfen ihn als Kriegstreiber und Imperialisten. „Die verwechseln alles, Irak, Libyen, Mali, Afghanistan!“ Was die Franzosen machten, sei keine Intervention, sondern ein von der Bevölkerung gewünschter Hilfseinsatz. „Die Scharia passt überhaupt nicht nach Mali. Sollen sie den Dichtern hier die Hände abhacken, den Sängern die Zungen abschneiden und die Frauen auspeitschen, die mit freien Schultern Motorrad fahren?“

Jetzt schreit er fast, wie er überhaupt oft laut wird, denn Christof Wackernagel ist kein ruhiger Mensch. Er regt sich über alles gleichermaßen auf, über die korrupte Übergangsregierung, die nach dem Sturz des Präsidenten Amadou Toumani Touré 32 Ministerien geschaffen hat, „wir finanzieren mit unseren Entwicklungsgeldern deren Dienstwagen“, über den Internetempfang, der ständig ausfällt, „da verliert man dann wieder Zeit“, über die Gesellschaft für industrielle Zusammenarbeit, die in entlegenen Landesteilen autobahnartige Straßen anlegt, „und auf denen fährt dann ein einsames Moped“.

Wackernagel ist selbst mit einem privaten Entwicklungsprojekt gescheitert: Er überzeugte einen malischen Freund, eine Bäckerei für deutsches Vollkornbrot zu gründen. Nicht aus Sehnsucht nach deutschem Brot, das er in seiner Küche mit „Grafschafter Goldsaft“ bestreichen kann - sondern als Maßnahme gegen den Proteinmangel. „Man muss nur die Mühlen anders einstellen!“

Trotzdem bekam er zunächst kein Vollkornmehl in Bamako, und als es endlich da war, sprach sich die Sache mit dem guten Brot bei den Luxushotels und ausländischen Botschaften der Stadt herum, so dass der Preis schnell bei 3 Euro pro Brot war, wie in Deutschland. „Das ist alles absurd. Wenn wohltätige Ärzteehepaare Krankenhausbetten für Afrika spenden, dann landen die hier garantiert in den teuren Privatkrankenhäusern, und die Schlosser in Bamako bekommen keine Aufträge.“

Eigentlich ging er vor zehn Jahren nach Afrika, um alldem zu entkommen, den Deutschen und den Debatten über Gewalt und Terror, Schuld und Verantwortung. Er wollte das Label „Ex-Terrorist“ loswerden und schrieb in Bamako ein großes und schweres Buch, eine Trilogie mit dem Titel „es“, in der er Träume, politische Erinnerungen und Drogenerfahrungen protokolliert.

Sein Geld verdiente Wackernagel in Deutschland mit Fernsehrollen, mal im „Tatort“, mal in der „Soko Köln“, vor allem in der RTL-Serie „Abschnitt 40“, wo er einen faschistoiden Polizisten spielte, „nicht als Bullenschwein, sondern als tragische Figur“. Wackernagel wollte nicht Rimbaud in Äthiopien werden und auch nicht Paul Bowles in Tanger, er nennt seine Afrikazeit lieber „Sabbatical“ und vergleicht sein Haus in Bamako mit den Ferienhäusern anderer Schauspieler in Südfrankreich.

Das weiße Haus liegt am Rand der Stadt, nah bei einem leuchtend roten Steinbruch, zwischen verwilderten Rohbauten und Brachen, auf denen Esel zwischen schwarzen Plastiktüten grasen. Gebaut hat er es damals mit den RTL-Fernsehhonoraren.

Der Blick von der Terrasse ist fast psychedelisch, er reicht über die ganze Stadt hinweg bis in den Dunst der Berge. Wackernagel hat sich eine riesige Bibliothek ins obere Stockwerk gebaut, maßgeschreinert und natürlich an jedem Winkel schief, mit Glastüren gegen den Wüstenstaub, der trotzdem auf allen Buchrücken liegt. „Das müsste man alles rausnehmen und abstauben.“ In der Regenzeit seien ihm schon Bücher verfault.

Klemperer steht dort, Balzac, Hölderlins Oden und eine Walter-Benjamin-Gesamtausgabe, das grimmsche Wörterbuch, beim Stichwort „Freiheit“ steckt ein Lesezeichen. Und das „Altdeutsche Lesebuch“ seines Basler Urgroßvaters Wilhelm Wackernagel, ein Standardwerk. Er blättert durch die Geschichte, „viertes Jahrhundert, Ulphilas Bibelübersetzung, und da haben wir jetzt schon das Hildebrandlied“. Die Kinderstimmen draußen klingen hell und nah, Gelächter, dann fährt ein Megafonwagen vorbei, „das wird irgendwas Islamisches sein“.

Nie habe er mehr gelesen als im Gefängnis, erzählt Wackernagel, da habe er zwanzig von vierzig Bänden der „Fackel“ von Karl Kraus geschafft, danach keinen einzigen mehr. Trotzdem stehe er jeden Morgen mit der Sonne auf, schreibe dann bis mittags an seinem Stehpult unter dem riesigen fahrbaren Schattendach, das er sich aus Armiereisen gebaut hat.

Im Hof hängen zwei riesige Michelin-Karten von Nordafrika, auf denen Wackernagel sein Großprojekt skizziert hat, eine „Karawane des Friedens“ von Timbuktu bis an den Victoriasee, mit Künstlern aus aller Welt. 2001 habe er das auf einer Expertentagung in Bad Münstereifel durchgeplant, mit deutscher Gründlichkeit, 6 Uhr aufstehen, 6.30 Uhr aufsatteln, bis 11 Uhr laufen und dann wieder von 15 bis 18 Uhr, 25 Kilometer pro Tag. Superminister Clement habe ihm Unterstützung zugesagt, wenn er 100 Millionen bei Sponsoren auftriebe. Außenminister Fischer habe den Plan durchkreuzt. „Wenn einer in der Welt etwas gutzumachen hat, dann wir.“

Was die Leute wohl sagen, wenn sie auf Wackernagels Haus zeigen? „Da wohnt der Weiße“, sagt er. „Ich bin immer der Weiße, die Kinder rufen mir nach.“ Im Straßentheater in der Nachbarschaft habe er einmal einen Kolonialherren gespielt, der die Schwarzen verprügelte. „Danach haben sie mich verprügelt und von der Bühne vertrieben, es war toll.“ Außerdem habe er 3000 CFA-Franc gekriegt, fast 5 Euro, wie die anderen auch. Mehr wolle er nicht, behandelt werden wie alle. Aber so sei es nie.

Christof Wackernagel geht immer leicht gebeugt durch die Nachbarschaft, im Kontrast zu den stolz aufgerichteten Malierinnen, die in Kanistern das Wasser auf dem Kopf nach Hause tragen. Gibt es die berüchtigte Bürde des weißen Mannes, die Rudyard Kipling 1899 beschrieben hat, auch bei alten Hippies? Eine Bekannte ruft an, sie brauche 15.000 CFA-Franc, um einen „inneren Kropf“ vom Arzt entfernen zu lasse. „Sehr praktisch, den sieht man nicht!“ 25.000 habe er ihr eh schon gegeben. „Ich fühle mich diskriminiert, so etwas reibt mich auf.“

Natürlich, sagt Wackernagel, gelten die Paradoxien des Postkolonialismus auch für ihn. Aber es sei ja nicht so, dass sich nichts verändere. Wir gehen an Lehmmauern vorbei, auf die ungeschickte Werbetafeln für das iPhone 4 aufgemalt sind, an Geschäften mit Kinderspielzeug.

„Das sieht hier alles eher nach Boom aus als nach Krise.“ Es entstehe eine Mittelschicht zwischen den Armen und den Superreichen, deren Frauen zum Shoppen mit der Businessclass nach Paris fliegen. „Es ist eine zarte Demokratie.“

Manchmal will man sich vorstellen, dass Wackernagel tatsächlich als Schauspieler durch Bamako läuft, in einem verrückten Film, der von libyschen Raketen handelt, die durch die Wüste geschleppt und nur deshalb nicht auf Bamako abgefeuert werden, weil die Batterien in den Waffenlagern vergessen wurden, von Heckler-&-Koch-Gewehren, die aus Gaddafis Erbmasse in die Hände von Al-Qaida-Zellen fallen, von deutschen Leopard-Panzern, die nach Katar geliefert werden, ein Land, das im Verdacht steht, die salafistischen Kräfte im Norden Malis zu unterstützen, von Flugzeugen, die das Kokain aus Kolumbien direkt nach Kidal fliegen, in jede Wüstenstadt, vor der die Franzosen gerade stehen, von Sandstürmen, die es schwer machen, die in die Wüste geflohenen Rebellen mit Satellitenbildern zu orten. „Aber jetzt kommen die Tschadis mit achthundert Mann“, sagt Wackernagel. „Die sind in der Wüste zu Hause.“

Irgendwie ist er selbst auch zu Hause hier, in diesem afrikanischen Abenteuer, und er würde wohl bleiben, wenn er allein wäre. Aber seit einem halben Jahr hat Wackernagel einen Sohn mit einer jungen Malierin. Der Junge heißt Peter, nach seinem Großvater. Die Mutter will hier bleiben, aber das hellhäutige Kind soll nicht in Gefahr geraten. „Ich wollte nie Kinder in diese Scheißwelt setzen“, sagt er. „Und dann jetzt, hier.“ Er wartet noch auf die Papiere, dann nimmt er den nächsten Nachtflug nach Paris.