»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

9.11.

Künstliche Träume, also solche, deren Bilderwelt aus einem Gemälde entstanden sind, gibt es auch, da waren Lorenz und ich uns einig. Er war nachschauen gekommen, ob es die Schnecken wirklich gibt. Zum letzten Mal waren wir uns im Frühling gegenüber gesessen. Damals noch an jedem Werktag in der Redaktion der Frauenzeitschrift, die zuerst er, dann ich verlassen musste. Nun saßen wir uns im beinahe schon wieder dämmrigen Licht mit Ausblick auf den kalten, großen und provozierend nutzlosen See gegenüber. Die Schnecken schliefen, eine jede für sich in ihrem Haus; die eine auf, die andere unter einem braun verwelkten Kirschenblatt.

Ich hatte Lorenz das Motiv einer Postkarte gezeigt, die Friederike mir vor ihrer Abreise nach Nepal geschickt hatte: Darauf war dieses Bild von Salvador Dalí zu sehen mit dem Titel, der so lang ist, dass die deutsche und englische Übersetzung der VG Bildkunst auf der Rückseite einfach halbiert abgedruckt worden waren, so als änderte das nichts Wesentliches daran, was die Biene ansonsten noch vorhatte, außer irgendwann einmal des Meisters Traum gestört zu haben. Lorenz nickte, auch er hatte schon einmal etwas aus diesem Gemälde Entstandenes geträumt. Allerdings sei damals die brennende Giraffe auf dem Altar unter den anderen gegrillt worden – also im Grunde flambiert. Möglich auch, dass unter der Einwirkung der Hitze des Giraffengrills damals seine Traumarmbanduhr angefangen habe zu schmelzen, jedenfalls sei er aufgewacht mit dem brennenden Gefühl, es sei bereits viel zu spät. Bezeichnenderweise konnte sich Lorenz aber nicht mehr daran erinnern, wann er diesen Traum geträumt hatte. Noch nicht einmal mehr in welchem Jahr.

Ich hatte mich beim Erhalt dieser Karte an einen Jugendfreund erinnert, Thomas Hirschhorn aus der Bahnarbeitersiedlung Kornwestheims, der als Stipendiat in die Klasse von Markus Lüpertz in Karlsruhe aufgenommen worden war. Der (also Hirschhorn) konnte damals schon extrem gut malen, geradezu georgecondohaft altmeisterlich, und hatte sein Kunststudium mit Auftragsarbeiten finanziert. Die Gegend strotzte ja außerhalb der Bahnarbeitersiedlung nur so von Leuten mit viel Geld und noch weniger Geschmack. Einigen von diesen wohlhabenden Mittelständlern verlangte es nach repräsentativer Kunst in Form handgemalter Unikate. Die lieferte ihnen Hirschhorn auf Kommando (Methode Kippenberger). Und ich erinnerte mich noch ganz genau, so als hätte ich das wiederum nur geträumt, dass es einen Auftrag gab, da verlangte einer von Hirschhorns Auftraggebern exakt jenes Motiv von Dalí, bloß dass die Tiere über der Nackten eben aus einer Coladose herausfliegen sollten und nicht aus dem Maul eines Knurrhahns. Und zwar, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das nicht nur geträumt hatte oder es einer künstlichen Erinnerung entspringt: weil dieser mittelständische Unternehmer eben exakt dies geträumt hatte. Woraufhin ihm Thomas Hirschhorn gerne und gegen gute Bezahlung diesen persönlichen Traum malte.

Wäre freilich interessant, später die Kinder und die Ehefrau dieses Auftraggebers befragt zu haben, in welchen individuellen Modifikationen sie den Traum Salvador Dalís später fortgeträumt hatten.

Am Morgen, heute 7 Uhr, nach einer Nacht, in der ich nach bildlosem Träumen um 5 Uhr 11 lächelnd kurz erwacht war: ein grandioser Sonnenaufgang vor beschlagenen Scheiben. In der kleinen Wasserschale auf der Brüstung war eine dünne Schicht Eis. Wie Milchhaut. Da mit der Spitze des Zeigefingers rein.

8.11.

Saufrüh erwacht (kurz nach 5 Uhr), weil es schon hell wurde, aber das waren die Straßenlaternen; das Laub fehlt, ihr Licht dringt ungehindert zu mir durch. Auf dem Fensterbrett liegen zwei Postkarten aus Sardinien. Sie zeigen den Sommer und wurden im Sommer an mich abgeschickt. In den Nachrichten hieß es, dass es heute schneien soll. Noch regnet es, das sind schon einmal gute Vorraussetzungen, denn zu kalt darf es dafür nicht sein. Aber die Luft riecht nicht danach (und ich kann mir nicht vorstellen, dass es im sogenannten Lauf des Tages noch kälter werden kann).

Ich habe das nur ganz wenige Male erlebt, dass ich erwachte und mich fragen musste, wo ich bin. Ich kann mich nicht einmal mehr präzise erinnern, wann überhaupt – vermutlich als Kind? Nein: im Krankenhaus. Am frühen Morgen des 3. Oktober 2011. Bei Damasio las ich, dass man diese unbewusste Gedächtnisleistung, also vom Prinzip her schon vor dem Aufwachen zu wissen, wo man sich befindet, als Situiertheit bezeichnet. Funktioniert sogar im Flugzeug, im ungewöhnlichsten aller Schlafzimmer, das sich von selbst auch noch durch Raum und Zeit fortbewegt, während man darin bewusstlos ist und schläft. Selbst dort erwacht man und weiß: Ah, jetzt kommt der Landeanflug auf diese Stadt in jenem Land, wo ich noch nie war. Und selbst noch davor, also inmitten des Fluges, wenn alle anderen Passagiere um einen herum im dunkelgrünen Dämmer schlafen, schaut man aus dem Fenster und weiß so ungefähr, welches Land da unten liegt (einmal, als ich nach Hongkong flog, erwachte ich und unter den Flügeln, es war schon Tag, war ein Gebirge aus den merkwürdigsten Felsen, die alle nach demselben Strickmuster sozusagen gebrochen zu sein schienen: wie Kegel aus braunem Gestein. Dazwischen auch alles braun und ich dachte: Das muss jetzt China sein.)

Jan hatte mal diese Idee zu einer Sammlung sämtlicher Filmszenen, in denen eine Person (oder Figur) zur anderen sagt: »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich?« – also sich selbst unterbricht und dann entsteht diese vielsagende Pause, in der die sich selbst unterbrochen habende Figur etwas über ihre Persönlichkeit verrät. Ich war damals, glaube ich zumindest, der Meinung gewesen, dass es sich dabei halt nicht um einen Trick des Drehbuchschreibers handelt, sondern dass es diesen Moment tatsächlich gibt im Miteinanderreden. Aber seitdem achte ich darauf, seit mehreren Jahren schon, und es ist in meiner Gegenwart noch kein einziges Mal dazu gekommen. Genau so mit der Einstellung, in der jemand aufwacht und noch schlaftrunken, halb vergiftet, punch drunk oder panisch sagt: Wo bin ich! Das würde mich sehr interessieren, wie oft das wirklich passiert in einem Leben; vor allem zu welchen Gelegenheiten. Ich glaube: so gut wie nie (außer nach einem Unfall mit Amnesie oder vergleichbarem Substanzenmissbrauch). Es ist eine künstliche Erinnerung, die ins kollektive Gedächtnis eingepflanzt worden ist. Und trotzdem hält man sie für total wahrscheinlich und sogar wahrhaftig. Dabei haben die wenigsten mit dem Ereignis selbst ihre Erfahrung gemacht.

Wenn jetzt demnächst die Videosuchmaschine von Google freigeschaltet wird, die es ja schon gibt, wird man solche Dialogzeilen, die auf künstlichen Erinnerungen basieren, eingeben können und Youtube oder ein anderes Programm wird hunderte und tausende von Szenen ausweisen, in denen jemand fragt »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich« oder »Wo bin ich«. Aber halt auch »Wollen Sie noch auf einen Kaffee mit hinaufkommen« und rein Gestisches (Tränen fallen auf einen Brief und verwischen die Schrift, ein Mobiltelefon läutet und leuchtet, aber keiner nimmt das Gespräch an, eine Kühlschranktür öffnet sich und man sieht durch die gläserne Rückwand, wie eine Figur etwas herausnimmt, ein Blick fällt an der Fassade eines Hochhauses entlang auf die Straße herab).

7.11.

Erik schickte einen Link zu einem Videoclip auf Youtube. In der Betreffzeile stand »Gute Besserung«. Statt einer Postkarte wie ich annahm*. Ging ja auch gar nicht anders, es war ja Sonntag. Genau genommen also anstelle eines Telegramms (dafür mit Bildern). Zu sehen waren Bilder aus dem alten Erfurt. Der Clip lief unter dem Titel Erfurt in der DDR. Sollte vermutlich unser nächstes Treffen mit Boris Lochthofen vorbereiten helfen, das ja in Erfurt selbst stattfinden würde (Boris Lochthofen ist für die anstehende Vorweihnachtszeit wohl leider derart verplant, dass es im alten Jahr zu keinem weiteren Zusammentreffen im Mainhattan reichen wird.) Eventuell, und allein das spricht ja für einen Abstecher nach Erfurt: in einer der vielen noch erhaltenen Imbißstuben für Thüringer Bratwürste, die es in Erfurt noch gibt.

In dem Clip war davon keine einzige zu sehen. Die Bilder naturgemäß von einer Traurigkeit, die meiner Stimmung in der Rekonvaleszenz sehr schön entgegenkamen. In den ersten fünf Minuten tauchte kein Mensch auf, der nicht in einem Bagger saß. Was bedeutete, dass ich gar keinen zu Gesicht bekam, weil die Szenen allesamt aus ziemlicher Distanz aufgenommen waren. Vermutlich, weil das Filmen der kaputten Fassaden und Straßenzüge damals illegal war. Ein Gefängnis gab es auch. Es kommt in direktem Anschluß an eine Kamerafahrt entlang einer gigantischen Kuchentafel, die an einem in Orwo-Farben getauchten Frühlingsnachmittag vor einer frisch fertiggestellten Plattenbauzeile aufgestellt worden war. Es waren vor allem mastig in enge Pullunder verpackte Kuchenfreunde mit silbergrauem Haar eingefangen. Die Kuchen selbst: sahnig und flach, mit in stechendem Rot leuchtenden Kirschen verziert (Modell Frankfurter Kranz). Dann drang die Kamera, nach ein paar Nahaufnahmen von Blumen, hinter das vergleichsweise intakt wirkende Mauerwerk eines Gefängnisses ein. Durch die Montage ergab sich ein Sinnzusammenhang: Kuchen nach dem Subotnik ist in Ordnung, aber wer es überteibt, kommt in den Knast. In dessen Inneren es total kaputt und rostig zuging. Klaro, sollte und soll ja auch kein Zuckerschlecken sein. Die Kamera zeigte in unruhig hin und herschwankender Manier und obendrein aus Hundeschnauzenperspektive die verrosteten Schließtüren, hinter denen man alle Hoffnung fahren lassen durfte. Durch die Futterklappe ging es direkt in eine der Zellen hinein: ein  Schemel und zwei Kisten ohne Matratzen versuchten nicht mal mehr, auf Interieur zu machen. Ein unerklärlich reichhaltiges Sortiment von Kübeln und Kannen auf einem Board an der Wand. Vermutlich zum Foltern. Dann wieder Blumen, Kinder im Gänsemarsch und jede Menge Springbrunnen. Vom Reisen her weiß ich, dass in maroden Staaten die Springbrunnen zuletzt abgeschaltet werden. Nur wo es ganz aus ist, liegen die Becken trocken und bald schon staubig geworden noch so lange da, bis sämtliche Rohre geklaut werden.

* Mit Friederike hatte ich am Morgen noch über die Postkarte an sich gesprochen. Wie lange es die noch geben würde? Derzeit sah es ja noch gut aus für das hübsche Medium. In Berlin, nur zum Beispiel, gab es noch an jeder Ecke Postkarten. In Frankfurt auch. Aber im Vergleich zur Hochphase der Postkarte, also als es noch keine Mobiltelefone gab und auch noch keine Videokameras, gab es mehrere Genres von Postkarten, von denen die aus dem kleinsten Segment nur noch in einem ursprünglichen Sinn als Ansichtskarte Verwendung fanden. In Berlin zeigten diese hauptsächlich die drei wohl attraktivsten Orte der Hauptstadt: Holocaustdenkmal, Alexanderplatz, Potsdamer Platz. Und freilich, manchmal als zusätzliches Inlay: das Brandenburger Tor. In Mitte und noch weiter in ostwestlicher Richtung nahm die Anzahl der Postkartenverkaufsständer sogar noch weiter zu im Vergleich mit den Hotspots des Tourismus klassischer Prägung. Aber hier waren jüngere Touristen unterwegs, die insofern als statistisches Material für die etwaige Überlebensdauer der Postkarte an sich relevant waren und es auch noch lange bleiben würden; und auch die dort sesshaft gewordenen, mehrheitlich ebenfalls jüngeren Berliner griffen im Alltag bei diesen dort verkauften Postkarten zu. Die aber, so glaubte Friederike, eher weniger zum Verschicken verkauft werden, sondern um beispielsweise zusammen mit einem Buch verschenkt zu werden. Oder um, sie hatte das schon ein paar Mal so gesehen, die eigene Wohnung damit zu dekorieren. Dementsprechend waren auf diesen zeitgenössischen Kunstpostkarten bevorzugt Plattenbausiedlungen in Instagramoptik abgebildet. Oder eine bröckelnde Mauer, auf die ein Liebesgraffiti gesprüht worden war. Oder eben jene historischen Fotografien aus den zwanziger Jahren, die mit einem das Motiv konterkarierenden Spruch versehen waren. Oder eben japanische Illustrationen oder Stiche aus dem Anatomieatlas oder oder oder. Und während wir uns das gegenseitig erzählten und aufzählten, unser angehäuftes Wissen austauschten, um somit unser beidiges zu vermehren, las mir Friederike aus der Zeitung vor (ich war ja noch zu schwach, um aufzustehen), dass in den neuen ICE-Zügen die Abteile abgeschafft worden waren. Es kann also halt doch sein, dass es die Postkarten irgendwann auch nicht mehr geben wird. Ob wir das erleben würden?

6.11.

Am Nachmittag brachte ein Bote, die rote Uniform glänzte vom daran abperlenden Regenwasser, einen extrem dicken Umschlag, den er mir mit einem Gruß übereignete. Darin befand sich die erste Ausgabe der Numéro. Die wenigen kleinen Blätter an der Hecke waren anscheinend gefroren, sie raschelten wie Cornflakes im Wind. Der dicke Umschlag enthielt lediglich ein Exemplar der Zeitschrift, es musste an die dreihundertfünfzig Seiten stark geworden sein. Mir fehlte da bereits die Kraft hineinzulesen, da dies nur im Sitzen am Tisch möglich gewesen wäre. Zu dem Zeitpunkt konnte ich aber bloß noch liegen.

Während des Mittagessens hatte ich mich plötzlich schwach gefühlt und erst gedacht, ich müsste mich nur mal eben hinlegen, war dann aber von einer krankhaften Müdigkeit erfasst worden. Das Glas mit aufgebrühtem Ingwer brachte nichts. Ein Schub von abgeschwächtem Schüttelfrost, unter der Haut ein Gefühl als fröre ich, das sich mit Hitzewallungen ablöste, hielt mich dort im Liegen unter zwei Decken fest. Ich schlief und wachte dabei; lag wach unter einer Schicht von Schlaf, die sich wie über mich hinweg ziehend anfühlte, so als läge ich am Grund ihres dunklen Stromes. Ab und an kam ich zu klarerem Bewussstein, da war es 23 Uhr, 2 Uhr, 3 Uhr 30, und schaute dann zuerst immer zum Fenster hinüber, in der vagen Hoffnung, es wäre noch dunkel, die Sonne noch nicht am Aufgehen und die Nacht, die mir seltsamerweise mit Heilkräften ausgestattet schien, dürfte noch recht lange dauern. Nach einem solchen Wachmoment war es mir freigestellt, mir wieder eine von den über mir schwebenden Schichten auszuwählen, um von ihr aufgenommen zu werden. Es war, als könnten alle diese Schichten mit mir kommunizieren. Und so machte ich erst Kontakt mit einer, dann mit noch einer anderen, bis dann die dritte schließlich ohne Worte mir bedeutete: Schlaf.

5.11.

Death of a fishmonger.

Dann lange nichts, beziehungsweise die Frage, wieviel an sogenannter Weltwirklichkeit denn in einem Tagebuch enthalten sein sollte. (In der Bildbiografie steht, dass Arno Schmidt seine Frau Alice zum Tagebuchschreiben angeleitet hat. Wunschgemäß leitete sie jeden ihrer Einträge mit Sonnenaufgangszeit, Luftdruck, Temperatur und Windrichtung ein. Auf ihre Frage, was da noch zu stehen habe, gab er die sogenannt »außerordentlichen Vorkommnisse« an. Versehen mit dem schönen Zusatz, dass einem wahrhaft Liebenden alles außerordentlich vorkommen muss.)

Als ich vom Balkon aus nach dem längsten Ast des Kirschbaums angeln wollte, um den Schnecken noch einmal ein paar der schönen pfirsichfarbenen Blätter abzuzupfen, war der bereits nackt und leer.

Würden Schnecken denn tatsächlich schreiben: »You are Schleim beneath my foot«? Fische das Wasser an sich besingen? (DFW ist lange tot.) Und von da aus dann die Frage, ob es überhaupt noch Wind sein dürfte, den poetisch gestimmte Schnecken dann als förderlich empfänden, beziehungsweise: ihre Sohle demnach flügelhaft?

Egal. Es war ein langes Jahr. Megalang – ich würde sogar behaupten, dass die allgemeingültige Zeit für jeden nochmals extra anders vergeht, und von daher, in meinem und deshalb auch in unserem Falle: langsamstens. Von außen betrachtet geradezu genießerisch. Dies aber nur fallweise; an manchen Tagen ging es ruckzuck, dann wieder ganz im Gegenteil. Und eigentlich weiß niemand, den wir wirklich kennen, was in diesem Jahr tatsächlich mit uns beiden geschehen war. Und geschieht! Klar kann man, muss sogar, um seine Haltung zu bewahren, sich mit Schnecken beschäftigen (darf die zu dem Behufe auch zu Hause einsperren bei sich unter Glas), man darf sich auch mit den Vögeln der angrenzenden Landschaft beschäftigen, könnte sogar, was ich bislang unterlassen habe, tunlichst. Aber wer weiß. Nichts ist unmöglich und das Jahr noch immer lang: Würste selbst abfüllen oder Craft Beer brauen. Immerhin war das Jahr ja auch so verdammt lang, dass ich währenddessen nicht nur ein Redakteur bei einer Frauenzeitschrift werden konnte, sondern diese Position (»für besondere Aufgaben«) auch wieder verlieren konnte, und: zwischendurch noch zu Greg Koch wurde für noch wenigere Monate (der immerhin das Craft Beer erfunden zu haben behauptet), was mir sehr viel Freude bereitet hatte, weil ich von Ernie und Bert ja besonders die Episode liebe mit dem Titel Bewusstseinstausch.

Dass man die Nennung von Titeln kursivieren soll, habe ich von Anne, die ganz zu Anfang des megalangen Jahres, ich glaube, es war im Februar oder März, eine eigene Rechtschreibreform für waahr.de sich ausgedacht hatte, und die dann auch derart eigensinnig hatte durchsetzen können, dass sich seitdem jeder dran hält. Einleuchten tut die mir noch immer nicht, aber ich habe ja auch dieses große Glück, dass ich mich darum nicht kümmern musste. Und wie es im Wetterbericht zum Abend gestern so schön hieß: »In der nächsten Woche klopft der Winter an die Tür«.

4.11.

Wie leichtfüßig (und in der Erinnerung beschwingt) man, also ich, in jungen Jahren nach einem solchem Gelage noch aus dem Bett springen konnte, um, anscheinend unbeschädigt, sich ans Tagwerk zu machen. Altwerden ist unschön. Verkatert sein macht es nur schlimmer. So gesehen ist es ja geradezu lebensgefährlich, dass die ganze Welt von jungen, daueralkoholisierten Menschen bestimmt wird, denen es halt bloß gar nicht bewusst werden kann, dass sie ihre Entscheidungen im beschwipsten Zustand treffen. Eben weil sie noch zu jung sind, um an den Folgen ihres Alkoholkonsums zu leiden. Physisch wie metaphysisch sind die Nachwirkungen des Alkoholkonsums die Hölle, da hatte Kingsley Amis recht. Sollte unbedingt in den Grundschulen bereits gelehrt werden. Brächte freilich nichts, weil die noch zu jung sind, um die Verkaterung am eigenen Leib erfahren zu können. Und theoretisch vorgetragen, glaubten die ja sowieso nicht, dass es so etwas in Wirklichkeit gibt (siehe Liebeskummer).

3.11.

Zu den alten, dafür zähen Gepflogenheiten der Berliner gehört auch, dass man Gäste in anderer Leute Wohnung einlädt, um dort für sie zu kochen. Ein seltsamer Brauch, von dem ich nicht wüsste, dass er noch in anderen Gesellschaften existiert oder überhaupt bekannt ist. In Stuttgart, nur zum Beispiel, wäre das undenkbar und würde deshalb auch als unmöglich beurteilt (mit einem ô, ohne n und danach zwei, bis drei é). Ebenso unmöglich fänden echte Schwaben es auch, wenn dann der einladende Fremdkoch, eine Köchin in meinem Fall, extrem kurzfristig, also etwa eine Stunde vor dem Eintreffen der Gäste, absagen täte. Zumal ich da gerade mit tütenweise eigens auf die mir telefonisch übermittelte Speisenfolge des anstehenden Abends eingekauften Flaschen des angeblich benötigten kanadischen Weißweines zu Hause angelangt war. Und dies im Wortsinne, denn der solche Weine nur auf schriftliche Vorbestellung hin führende Getränkemarkt war nicht eben nebenan gelegen.

Dann kam Joachim Lottmann.

Ein perfekter Text hätte damit aufgehört, also nach Lottmann. Aber es ging ja noch weiter, weil ich ja auf die von fremder Hand gekochten Speisen mich verlassen hatte und nun, nach der kurzfristigen Absage mit den Früchten des Gartens (Blässhühner et al.) nach dem Kochbuch Alice Schmidts eine mir selbst vollkommen neuartige und von daher fremd vorkommende Suppe anrühren musste. Denn es ging ja nicht allein um Lottmann (.), der allein wäre ja mit Brot und Käse zufrieden zu stellen gewesen. Nach seinem Eintreffen aber klingelte es noch zweimal und das zum Signal für insgesamt noch drei weitere Gäste: Anne, Philomene und Jan.

Zum Glück bin ich nicht mit Klempnern befreundet, denn um diese Suppe genießen zu können, brauchte es ein gewisses Gefühl der Verwurzeltheit in bohemistischer Tradition. Lottmann, nicht ganz wie (auch wieder telefonisch) angekündigt, hatte einen Piccolo, sowie etwas Eierlikör mitgebracht. Wobei ich ja sagen muss, dass meine Stärke recht geschlechtsunüblich bei den Nachspeisen nicht nur zu suchen, sondern auch zu finden ist (ein wesentlicher Faktor meines tragischen Scheiterns als Resortleiter war nicht allein darin zu suchen und finden, dass ich den Grundgedanken unkonventionell aufgefasst zu haben schien (also mit einem s), sondern überdies meine Redakteurinnen unverholen zur blümerantesten Zeilenschinderei via Adjektivhäufung, Bandwurmsätzen und Ableitungen aller Art angespornt hatte). Der Kuchen blieb dann freilich beinahe unberührt.

Nicht so der Wein. Vom Aufwachgefühl her also ein gelungener Abend. Seltsam, dieser über die ganze Welt verteilte Brauch, sich gemeinsam zu vergiften. Was denn wohl wäre, wenn nun einer mal tatsächlich dabei draufginge, also stürbe, einfach mittendrin, am Tisch?

 

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