»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

16.11.

Nochmals mit dem Feinstaubticket nach Stuttgart. Meine Eltern luden mich ein, mit ihnen die Ausstellung Mythos Schwaben anzuschauen, die im Landesmuseum gezeigt wird. Doch vorher machten wir einen Baustellenrundgang, damit ich mir vom ganzen Ausmaß der Bahnhofsgrube ein Bild machen konnte. Das war von einem überdachten Steg aus bequem möglich. Die Baustelle war zwar groß, aber nicht so groß, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Aber ich musste mir jeglichen Kommentar verkneifen, weil ich ahnte, dass es ansonsten zu einer wütenden Reaktion ob meines mangelnden Mitgefühls gekommen wäre. Recht winzig kam mir auf einmal das Planetarium vor, das von der dann doch nicht ganz so kleinen Baugrube an den Rand des Geschehens gedrängt worden war. Dort hatte ich in meiner Jugend so manchen völlig unverdaulichen Avantgardefilm geschaut. Das Werk von Herschell Gordon Lewis zum Beispiel. Oder Pink Flamingo. Und Chelsea Girls von Andy Warhol. Aber damit durfte ich meinen Eltern nicht kommen. Das Planetarium war eine Steilvorlage für einen schlimmen Ausbruch von Stuttgart-21-Wut, die beide nur dem Anschein nach unter dem Deckel zu halten fertig brachten. Dafür wies ich, kanalisierenderweise ehrlich erschrocken, darauf hin, dass der Mercedesstern auf dem Turm des ehemaligen (und noch) Hauptbahnhofsgebäudes schief herunterhing, anstatt aufrecht dazustehen wie auch auf dem Europacenter in Berlin – was da wohl los sei?

Mein Vater, vergleichsweise desinteressiert: Da werden wahrscheinlich Wartungsarbeiten durchgeführt. Wir überquerten da gerade auf einer nahtlos an den überdachten Steg anschließenden Spannbetonbrücke eine dicht befahrene Schnellstraße, um in den Schloßpark überzusetzen. Rechts lag im Frühnebel das Hotel am Schloßpark, dessen Restaurant noch heute von einer eher beiläufig gemachten Bemerkung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, einem Pfälzer, zehrt, der den dort im Hotel am Schloßgarten ihm servierten Apfelstrudel als besser beurteilt hatte als den in Wien. Das war nun auch schon wieder 30 Jahre her. Zu unserer Rechten lag der wie unschön zusammengewürfelte Gebäudekomplex von Staatstheater und Oper. Meine Mutter hatte in der Frühe aus der Zeitung vorlesend verkündet, dass der Intendant des Staatstheaters, Armin Petras, nun endlich das Handtuch schmisse. Ich hatte daraufhin gefragt, was es ihrer Meinung nach denn gegen Armin Petras zu haben gäbe. Um Streit zu vermeiden, sagten wir daher beim Passieren des Theaterkomplexes alle drei kein Wort.

Am Württembergischen Kunstverein betrachteten wir lange und einträchtig die schöne Gedenkskulptur von Olaf Metzel, die dort noch immer unbeschädigt an ihrem wie für sie gemachten Platz aufgestellt stand. Ich fragte, ob wir eventuell mit der Seilbahn zum Waldfriedhof hinauffahren könnten, weil ich noch die Gräber von Gudrun Ensslin und Andreas Baader zu besuchen vorgehabt hatte. Mein Vater wollte es auf das Wetter ankommen lassen. Ich schaute mir die Figur eines goldenen Hirschen an, die auf der grünen Kuppel des Kunstvereinsgebäudes aufgepflanzt stand wie eh und je. Sie kam mir vor wie ein starker Wehmutssender. Was hatte ich hier nicht alles erlebt, im Schatten dieses goldenen Hirschen sozusagen (genau benennen konnte ich die einzelnen Erlebnisse zwar nicht, aber in ihrer Gesamtheit erschienen sie mir halt in einem Licht, gefärbt vom Abglanz dieser Hirschfigur dort droben), und ich seufzte. Was ich eigentlich so gut wie nie mache.

Ein langes Auto von Mercedes in einem trüben Grün rollte über die sich selbst versenkenden Poller von der Karlsplatzseite her auf uns zu, um in einem gemächlichen Schwenk auf das gesperrte Areal vor dem Neuen Schloß, vis-a-vis des Königsbaus, einzufahren. »Da sitzt der Kretschmann drin«, sagte meine Mutter. Mein Vater nickte (ob stolz auf die Sachkenntnis seiner Frau oder auf den Autogeschmack seines Landesvaters kam nicht klar heraus). Meine Mutter merkte noch an, dass es sich bei diesem Mercedes um ein Modell aus der Elektroflotte des Konzerns handelte. Die Behauptung meiner Mutter, Winfried Kretschmann habe die Ernennung zum Bundespräsidenten auf Anraten seiner Frau hin abgelehnt, da diese nämlich eine grundsolide und auf dem Boden verbliebene Frau sei, ließ ich unkommentiert und konzentrierte mich auf die Wahrnehmung des in spitzenmäßiger Qualität renovierten Innenhofes des Landesmuseums, einem Höhepunkt der Renaissancearchitektur in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs. Wie poliert stand dort etwas versetzt von der geometrisch zu ermittelnden Mitte des Platzes das Reiterstandbild Eberhards im Barte, der ja bekanntlich über die Schwaben nur Gutes zu berichten hatte und noch heute von seinen Lieblingsuntertanen mit den Worten hochgehalten wird, die hervorragendste Tugend der Schwaben sei die Treue – er habe nirgendwo in diesem schönen Land auch nur einen von ihnen finden können, dem er nicht seinen Kopf in den Schoß hatte legen wollen. Da kann man nur nicken und stolz sein. Als Schwabe. Es geht einfach nicht anders. Oder wie es am Schluss der wirklich hervorragend kuratierten Ausstellung hieß:

WER SICH DEN SCHWABEN ZUGEHÖRIG FÜHLT, IST SCHWABE

Ergreifend. Also echt.

15.11.

Es herrschte Feinstaubalarm in Stuttgart. Für die Einwohner hat diese Durchsage auch etwas Gutes, denn während des Feinstaubalarmes darf jeder Erwachsene für den Preis einer Kinderfahrkarte mit der Straßenbahn fahren, bis Entwarnung gegeben wird. Eine von vielen, wie meine Mutter meinte, sehr sehr vielen guten Ideen, mit deren Hilfe Wilfried Kretschmann, der Landesvater Baden-Württembergs aus dem eh schon schönsten Bundesland von allen ein noch schöneres geformt hat. Weswegen es, meinte meine Mutter, auf gar keinen Fall passieren dürfe, dass Wilfried Kretschmann nach dem Schloss Bellevue abberufen wird, um Bundespräsident zu werden. Er wird, sagte meine Mutter, hier nämlich noch gebraucht.

Da saßen wir bereits in der Straßenbahn von Feuerbach zum Fernsehturm hinauf, einer, wie mein Vater es angekündigt hatte: Panoramastrecke, deren Attraktivität uns durch den Feinstaubalarmdiscount nur noch deutlicher vor Augen geführt wurde (aber eigentlich ist die Schönheit Stuttgarts von der Halbhöhenperspektive aus betrachtet schon für sich legendär und bedarf zusätzlicher Booster nicht). Gleich nach dem Bubenbad lichtete sich der Nebel und renovierte Schlösschen aus dem Jugendstil zeigten sich apart und so begehrenswert, wie Häuser halt sein können. Die Wälder ringsum und die Bäume in den steilen Gärten hatten allesamt noch sehr viel mehr an buntem Laub zu bieten, als die Bäume zuhause in Berlin. Als wir an der Endhaltestelle ausgestiegen waren, machte ich meine Eltern auf ein neu errichtetes Haltestellengebilde aus hellem Holz, viel Glas und in türkis lackierten Schrauben aufmerksam und meinte, das sähe selbst mir zu evangelisch aus. Sie nickten, mehr aber auch nicht.

Auf der Aussichtsplattform des Turmes herrschten extreme Temperaturen. Ich beklagte mich, meine Mutter fand es ebenfalls kalt, mein Vater gab mir die Schuld daran, weil ich mich nicht warm genug angezogen hätte. Das rings um die Aussichtsplattform montierte Relief aus Kupfer zeigte sämtliche Sehenswürdigkeiten Baden-Würrtembergs. Geradeaus wies es in Richtung Horb, einem Ort, in dem ich noch nie im Leben war, aber dessen Name bei mir angenehme Empfindungen weckte, weil Friederike dort einmal zu Recherchezwecken hingefahren war, um über das Hotpantsverbot schreiben zu können (im vorvergangenen Nachsommer).

Wir lösten drei weitere Kinderfahrkarten, fuhren in die Stadt hinunter und setzten uns in ein Restaurant.

»Wenn du Eintöpfe magst, kann ich dir den Gaisburger Marsch hier empfehlen«, sagte mein Vater. Seine Verstimmtheit ob meiner zu dünnen Kleidung war längst verraucht. So war das schon immer gewesen. Ich hielt mich an seine Empfehlung und bestellte den Gaisburger Marsch in der von meinem Vater empfohlenen Größe »mittel«. Was der Kellner mit »Ein Seniorenteller, alles klar« quittierte. Dann nahm er die Bestellungen meiner Eltern entgegen und verschwand.

»Was sagt ihr dazu«, fragte ich meine Eltern, also eher meine Mutter, da sich mein Vater leis‘ pfeifend in die Weinkarte vertieft hatte. »Seniorenteller! Also mit 45 finde ich das schon ein starkes Stück.«

»Ärger‘ dich nicht«, sagte meine Mutter. »Der hat es doch gut gemeint.« Um weiterhin völlig unironisch laut nachzudenken »Ich weiß gar nicht mehr genau, wann ich meinen ersten Seniorenteller…«

Beim Essen ging es dann wieder um Wilfried Kretschmann. Beziehungsweise um Schorsch Kamerun, der seit seinem Gespräch mit Wilfried Kretschmann im SZ-Magazin (meine Eltern sind Abonnenten der Süddeutschen) ähnlich hoch im Kurs steht bei meiner Mutter wie der Landesvater. Vor allem seiner kritischen Einlassungen zum Reizthema Stuttgart 21 wegen. Es lag mir sozusagen auf der Zunge, meine Mutter daran zu erinnern, dass ich ihr seinerzeit noch in Hamburg diesen Herrn Kamerun persönlich hatte vorstellen wollen usw., unterließ dies aber ebenso, wie ihr meine Meinung kundzutun, dass ich die Aussagen Kameruns im Gegensatz zu ihr mitnichten als erfrischend empfunden hatte, sondern als geradezu verblüffend deckungsgleich mit denen Botho Straußens oder Erwin Teufels, die sich ja ebenfalls in vergangenen Jahrzehnten zu den Seniorentellerthemen Bundesbahn und Windradstrom kritisch geäußert hatten. Das unterließ ich freilich tunlichst, da es sich in der Wahrnehmung meiner Mutter bei Schorsch Kamerun mittlerweile nicht mehr um einen Prankster oder Punker handelte, sondern um einen ihrer Gunst dem Landesvater Baden-Württembergs Ebenbürtigen; und somit wie gesagt um ein Reizthema.

Der Gaisburger Marsch aber schmeckte ganz wunderbar, da hatte mein Vater schon recht.

14.11.

Dem Supermond entgegen: Mit 216 Stundenkilometern lief mein Zug im schönen Sackbahnhof von Stuttgart ein. Sehr angenehme Fahrt, trotz dieser hohen Geschwindigkeit, trotz des unangenehm überfüllten Zuges vor allem (ich war als dritte Partei an einem Vierertisch gelandet. Geradeaus erklärte ein reizender Herr seiner reizenden Frau die hessische Landschaft, mein Nebensitzer las im SZ-Magazin eine Geschichte über das rassistische Potenzial des Sarrotti-Mohrs und hinter der Lehne, also mir im Nacken, sprachen eine italienisch gefärbte Stimme und eine aus Niedersachsen auf Englisch über Donald Trump. Wenigstens regnete es nicht auch noch rein.)

Im Gegenteil, es war das herrlichste Reisewetter. Und Deutschland, das konnte ich letztendlich auch der vorteilhaften Rahmung durch die speziell proportionierten Fenster des ICE wegen erkennen, war sogar im Spätherbst noch das allerschönste Land. Wir hatten gerade den wie Lötzinn schimmernden Stausee passiert, da fragte sich der Landschaftserklärer laut, ob das nicht am Ende eine Talsperre war. Für ihn bedeutete jeder Satzanfang auch schon das Ende. Jedenfalls betonte er das so. Das Hessische, insbesondere der Ortsname Hanau, der von ihm häufig Erwähnung fand, war für diese auf dem Aushauchen beruhende Sprechweise ideal.

Dann, die beiden waren aus Frankfurt, ging es um die unbebauten Kleingärten von Offenbach entlang der Gleise – die Frage hatte ich gestellt: Warum die denn noch nicht bebaut worden waren (wo doch hier der Wohnraum so begehrt war). Weil’s Kleingärten sind, sagte sie. Um mich danach noch auf das Grünesaucenmuseum dort hinzuweisen »in irgendeiner Wellblechhütte«.

Charmant! Sie verabschiedeten sich mit einem Hinweis darauf, heute Abend noch in die Alte Oper zu müssen. Mit der Betonung auf müssen – Konzert. Sie, vertraulich: »Da kann man nichts machen, die Karten liegen zuhause bei uns herum«.

Dann standen links plötzlich Hochhäuser, wo eben noch die Kleingärten gewesen: sie waren daheim.

Der Supermond zeigte sich schon auf dem Weg nach Heimerdingen durchs Rückfenster des neuen Autos meiner Eltern (einem Raumwunder, wie meine Mutter es nennt). Dann gab es Rouladen und Spätzle und einen wie immer recht rezenten Rotwein aus meines Vaters seltsamer Sammlung. Danach noch lange mit den beiden am Kippfenster im ersten Stockwerk gestanden, wo früher sehr viele Jahre lang mein Zimmer gewesen war. Immer abwechselnd schaute einer von uns durch mein Fernrohr und machte daraufhin entweder Kommentare über das Fernrohr (meine Mutter), den Supermond (ich) oder halt über irgendwas.

13.11.

Um 3 Uhr 30 von einem Licht geweckt, als ob mir die Sommersonne ins Gesicht schiene (dabei lag ich auf meiner dem Sonnenaufgang abgewandten Seite): Es war der Mond. Für morgen ist der sogenannte Supermond zwar erst angekündigt, der heute aber war auch schon mal nicht schlecht. Ich ging gleich raus, denn mir war eingefallen, dass der Sternenhimmel aufgrund der Kälte ja auch so schön sein soll. Und wirklich! Roch wie Silvester (also so gegen 20 und 22 Uhr, wenn alle essen, kaum jemand knallt). Schade, wirklich schade, dass man bei solchem Traumwetter derart frieren muss. Rein optisch wäre es nämlich ein Hochgenuss.

Machte ich mir halt einen Kaffee. Wobei – mir war es ja auch zu laut, aber nicht nur um diese Zeit. Dazu ein Glas vom Birkensaft direkt aus dem Kühlschrank. Im Stehen zu trinken: soll angeblich gut sein für die Knochen. Schmeckt vor allem gigantisch (steht auch so auf der Packung, allerdings auf kyrillisch. Wozu gibt’s Wörterbücher!). Derweil, ich bin, wie es so schön heißt, immer wieder aufs Neue erstaunt: Wie schnell das dann geht, wenn hinter den Bäumen, die ich, seit die ihr sämtliches Laub verloren haben, Bäumchen geneigt bin zu nennen, aus dem Dunkel der Sonnenaufgang wird. In Schichten von unten dunkel bis oben hell: ein einheimischer Drink. Über den fernen Wipfeln ein blassrosa Streifen und nach oben hin blutet es wasserhell aus. Die Bäumchen als Fries, als ein Scherenschnitt. Filigran filigranst filigranstestens.

Neulich sagte Lorenz: Du ziehst ganz schön oft um. Und ich gab ihm recht. Aber hatte ich jemals irgendwo derart schön gewohnt? Ich glaube es nicht nur nicht, ich weiß es. Noch nie. Mit dem genau richtigen bisschen mehr Grün, als auf einem Schnittlauchbrot sein muss, aber noch immer nicht so viel davon, dass ich den Traktorschein machen müsste. Mit Nachbarn, die mich lieben (und nur ganz leise mit den Zähnen knirschen im Halbschlaf, wenn meine Kaffeemühle über die Herdplatte schlackert), mit Kindern, die jubelnd mich begrüßen, um darauf zu berichten, was es Neues gibt in ihrer Welt (die meiner manchmal verblüffend ähnlich sieht: »Wir spielen heute Restaurant!«). Nicht zuletzt die Tiere. Und zwar alle. Bis auf Möwen. Und bis auf die Motten, die, wie ich heute Morgen ebenfalls beim Packen herausfinden musste, in exakt zwei meiner Pullover jeweils zwei Löcher gegessen haben, so als wären das Fahrkarten und sie spielten Kontrolleure. Naja. Na gut. Ich hatte eigentlich noch nie Motten, wenn ich mich recht erinnere (und das tue ich eigentlich). Vermutlich ist das der Preis für das schöne, nein schönste Leben, das ich je hatte. Wenn es weiter nichts ist – im Radio liest einer die Lebensgeschichte Martins vor: »Die Dienstzeit im Römischen Heer betrug damals 25 Jahre«.

12.11.

Kein einziger Laternenumzug gestern. Was natürlich daran gelegen haben mag, dass es hier so gut wie keine Kinder gibt. Generell habe ich den Eindruck, dass in Berlin die christlichen Feiertage nicht mehr ganz so wichtig genommen werden. Obwohl es hier um die Ecke eine hübsche Kirche gibt (wobei das um die Ecke nur auf dem Wasserwege gilt; jetzt off season liegt die ganz hübsch weit weg): von einem Paradiesgärtlein umgeben (da kann man lernen, was Apfelbaum auf Lateinisch heißt). Neulich war ich wieder einmal dort, da harkten gerade zwei Frauen das Laub und machten Stauden winterfest. Die luden mich gleich in resolutem Ton ein, mit anzupacken, da sie mich jetzt schon des Öfteren dort gesehen und scheinbar tagsüber auch viel Zeit und so. Die eine Frau war Koreanerin, das sind ja ganz fleißige Christen; in Schöneberg gibt’s die erste Bibimbap-Stube der Stadt, die heißt nicht nur Christenfisch, die ist Innen auch vom Fußboden bis zur Decke hinauf mit handgemalten Bibelzitaten verziert.

Ich kündigte fürs nächste Frühjahr mein Ehrenamt an, und meine das auch ernst.

Ich kenne das noch aus meiner Kindheit und Jugend. In Heimerdingen wurde ja sogar der Wald nach jedem Winter in ehrenamtlicher Zusammenarbeit aller Bürger vom Müll befreit. Aber gut, Heimerdingen, die pietistische Sphäre allgemein, das waren nicht nur andere Zeiten, dort sind sie es noch immer! Und wenn es Abend eines 11. Novembers geworden war, und sie also in Köln Föttchesföhler machten und sich schon mal warm tranken für ihren Ekelexzess, dann holte Herr Ehret seinen Schimmel aus dem Stall, legte sich seinen dunkelroten Samtmantel um, setzte den goldenen Helm mit dem roten Irokesenkamm auf und ritt ein auf den Schulhof, wo wir Kinder ihn mit unseren Laternen aus Pappdeckeln und Pergamentpapier mit Kerzen drin erwarten mussten. Es war damals schon so kalt wie heute. Dann folgten wir ihm, das Martinslied singend, mit den Laternen an das Vorderkind stoßend, ermahnt werdend und vor uns hin stolpernd durch das dunkle Dorf bergan bis zu jenem Feldweg, der die Ortsgrenze markierte und von dem aus wir auf die beeindruckende Schwärze starrten, die das Ende unserer dörflichen Welt nicht nur bedeutete, sondern die das tatsächlich war. Nach Heimerdingen kam ja lange nichts. Tief unten in der Schwärze war das sogenannte Wünschloch, eine Senke, auf deren anderer Seite das Freizeitheim des CVJM stand. Das aber nur am Sonntagnachmittag geöffnet hatte. Für Kaffee, Kuchen und Schneckennudeln. Im Angesicht des Wünschlochs und der schwarzen Nacht las Herr Ehret die Martinsgeschichte vor. Er machte die Geste mit seinem Schwert und dem Mantel. Den Bettler gab es nicht, den mussten wir Kinder uns vorstellen – that’s Pietismus! Einige der Laternen waren schon arg verbeult. Andere nicht mehr zu retten. Sie gingen in Flammen auf. Wer mit seinem Gummistiefel in den löshaltigen Ackerboden geriet, verlor den Stiefel unweigerlich. Die Klebkraft des Ackerbodens war stärker als jedes Kinderbein und machte ein schmatzendes Geräusch. Alle hatten Hunger, aber es gab nur Mandarinen. Dann ging es mit »Ich geh‘ mit meiner Laterne« nach Haus.

11.11.

Seit der Kirschbaum seine letzten Blätter abgeworfen hat, werde ich in der Frühe von einer Blaumeise geweckt. Sie landet auf dem Fensterbrett und pickt mit dem Schnabel gegen die beschlagene Scheibe. Ruckhaft sehe ich ihre verwaschenen Farbtöne blinken, Zitronengelb und Weiß und, schemenhaft: ihren famous blue raincoat, dazu das hackende Geräusch. Sie pocht auf ihr Recht. Leider kenne ich es nicht. Wer auch immer vor mir dort gewohnt haben wird, vielleicht hat er um diese Jahreszeit dort immer Körner auf das Fensterbrett gestreut? Angeblich werden Blaumeisen bis zu 5 Jahre alt – könnte also möglich sein. Oder es handelt sich um den Nachwuchs einer Blaumeise, die im letzten Winter oder im vorletzten dort auf diesem Fensterbrett bewirtet wurde, und dieser Vogel ist jetzt einer aus ihrem Gelege, an den das Wissen um dieses Anrecht transgenerational vererbt ward. Das gibt es wohl, zumindest bei Tieren. Man hat da diesbezüglich mal mit Hasen, Kirschblüten und Elektroschocks experimentiert. Um Rückschlüsse auf transgenerational vererbte Traumata beim Menschen ziehen zu können. Nicht etwa beim Hasen.

(Gestern aß ich mit Gunnar zu Mittag in einem Restaurant, das war so 21st century, es gab Käsekuchen mit Kirschen, den gestreuselten Boden als topping, und Kaninchen, zu dem als Beilage sinnigerweise Möhren serviert wurden. Und wir erzählten uns Unfallgeschichten. Gunnar hat Titanschrauben in seinen Schlüsselbeinen, ich hab welche in meinem Schädel – das war wie Autoquartett, bei dem mich Gunnar mit seiner Anekdote, in der eine Diamantsäge eine sozusagen tragende Rolle spielte, stach. Und auf dem Rückweg sah ich auf der Friedrichstraße den dümmsten Werbeslogan: »Wenn Sie Gold haben, haben Sie immer Geld«.)

Und vermutlich weil das eben so ist, ungefähr; weil Traumata transgenerational vielleicht nicht gerade vererbt, aber gelehrt werden, sind wir traurig, wenn jemand stirbt, den wir persönlich gar nicht kannten. Obwohl wir seine Lieder weiterhin hören, die Bücher immer lesen können. Seelen wandern nicht. Tot ist tot. Aber wie Robert Montgomery sagt:

The people you love
Become ghosts inside of you
And like this you keep them alive

Ich werde The Partisan hören. Und Suzanne. Wenn Robert Smith stirbt, wird es noch schwieriger, also die Auswahl, weil da habe ich zig Lieblingslieder. Das wird dann sogar richtig anstrengend, mal schauen. Am besten ich feiere schon mal ein bisschen vor mit seiner Interpretation von Lover Come Back to Me.

10.11.

Merkwürdig, dass wenn jemand mit der Zeit in eine andere Zeitzone verreist, dort also mit einer anderen Tageszeit sozusagen mir voran lebt, und die Nacht, die dann zu mir kommt, dort bereits schon war, dass ich dann das Gefühl habe, die Zeit verginge insgesamt für uns auch auch schneller, bis wir uns wiedersehen. Seltsam, aber gut.

Beim Abendessen erklärte mir Jan anhand der Opernmusik, die lief, was ein Melodram ist. In der Oper wohl, anders als im Film, eine Form, in der die eine singt, die andere spricht. Konnte ich besser finden, also angenehmer als Oper sonst. Dann sagte Jan, das mit Trump sei für ihn wie Liebeskummer. Es käme wie in Wellen über ihn, wie die Erkenntnis, dass er verlassen worden sei, und dann müsste er bei jeder neuen Welle wieder und wieder begreifen, dass es doch wahr ist. Da war es längst dunkel und ich hatte erst kurz davor davon erfahren, weil ich den ganzen Tag lang das Haus nicht verlassen hatte, mich niemand angerufen hatte, ich Twitter nicht angeguckt hatte, auch sonst keinerlei Internet. Aber als ich im Frostschutzparka zum Abendessen ging, blinkte auf der Clayallee eine der Werbetafeln auf und zeigte statt einer Werbung für Chile als Reiseland das Gesicht des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten (ein Radiosender kündigte seine Sondersendungen an).

Nach dem Essen, auf dem Weg zum Auto, pflückte ich von der Rankpflanze ein riesiges gelbes Blatt ab, das lange Zacken hatte und im Schein der Straßenlaterne fast weiß leuchtete. Und ich sagte zu Jan: »Das ist doch mal ein Blatt«. Und er schaute drauf, als sähe er es gerade erst (dabei rankt die Pflanze doch rechts seiner Haustür empor): »Wie Trumps Hände«.

Na ja, der war noch nicht so gut, aber ein paar Minuten später machte er dann noch einen wirklich guten Witz, den ich aber leider nicht mehr weiß, weil wir dann Bier tranken und ich ihn mir nicht aufgeschrieben hatte. Heute früh noch in allen Taschen nach dem Blatt gesucht, aber es ist leider weg. Raureif auf den Wiesen und auf dem Steg.

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