»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

13.10.2020

Die schwanzlosen Katzen, und die mit lediglich einem Stummel ausgestatteten, die ich Ende der neunziger Jahre erstmals in Bangkok gesehen hatte, es gab sie dort also auch schon Ende der siebziger Jahre; und nicht nur dort, auch anderswo in der Region, beispielsweise auf Borneo, wo ich niemals war. Sie tauchen jetzt wieder auf in einer Reiseerzählung von Horst Laube. Den Text hat mir der Verleger empfohlen, neulich im Sonnenschein. Gestern tauchte er überraschend selbst auf, in der Tagesschau. Einen Augenblick lang wurde er mir gezeigt, wie er von der Nachricht erfährt, dass seine Autorin Anne Weber den Deutschen Buchpreis gewonnen hat.

12.10.2020

Gang auf den Altkönig, der Hausberg hinter Königstein. Wahrscheinlich und vielleicht war dies der letzte Tag, um sich der Natur in dieser ihrer derzeitigen Gestalt noch einmal hingeben zu können. Sie, die Natur, war dafür nicht bloß Gabe, sie gab auch selbst so viel. Und unaufhörlich. So kamen wir nach der Einstimmung durch eine Passage im Tannenwald auf einen steilen Pfad, der uns durch lichter werdendes Gehölz zum Gipfel führte. Gravel-Bikende holperten uns abwärts radelnd entgegen. Zu ihrer Belustigung waren an des Weges Rändern niedrige Schanzen in den Waldboden verankert worden. Die schnittig kostümierten Familienväter mit Helmen stürzten sich in den Pedalen stehend auf diese Hindernisse, um sie zu nehmen. Dies alles wortlos bei gepresstem Atem. Wer so bergab durch den Wald radeln kann, der beherrscht auch die Kunst des geräuschlosen Abbeißens vom Apfel.

Indes waren wir auf einen Holzweg abgezweigt, der entlang einer Schonung halb um den Berg herum führte. Im Gras, das, von Tautropfen besteckt, darniederlag, wuchsen die prächtigsten Fliegenpilze. Darunter einige noch unangeknabbert vom Wild. Asiatinnen knieten zwischen Heidelbeersträuchern und machten Aufnahmen, teilweise sogar mit Ton.

Auf den letzten Metern vor dem Gipfel lag, trotzdem dort die Baumgrenze freilich noch längst nicht erreicht war, massenhaft Granit herum. Der Altkönig soll zur Zeit der Altvorderen eine Kultstätte gewesen sein für die Kelten. Darauf wies allerdings kein einziges der vielen Schilder dort oben hin, die Hinweisflächen waren vollends ausgelastet mit Ver- und Geboten (beispielsweise «Nicht lagern», das Piktogramm zeigte einen Knieenden mit einem Buch in der Hand — offenbar handelte es sich dabei um ein Symbol für ein Liederbuch, das ja beim Lagern, wie ich es kenne, unerlässlich bleibt; sollte es sich allerdings um ein Symbol für religiöse Schriftbände handeln, fände ich dieses Gebot pikant.) Das Wissen zum Keltenkult musste man sich also selbst mitbringen. Da wir diesbezüglich vorgesorgt hatten, erkannten wir in dem zentralen Baum auf dem Gipfel die Esche, den Kult-Baum der nordischen Völker (Stichwort Yggdrasil), der aber auch in einem Gedicht der Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück eine wesentliche Rolle spielt (Dietmar Dath hat darauf hingewiesen). Wie bei Glück hatte diese Esche auf dem Altkönig sich schon all ihrer Blätter entledigt. Einzig die dunkelroten Beeren zierten das Reisig vor dem leergefegten Grau des Himmels (wie die Tautropfen dort unten vor der Granitgrenze das waidgrüne Gras). Ein Gipfelkreuz gab es nicht.

Beim Abstieg fanden wir wie von selbst in die passende Schrittgeschwindigkeit, um rechtzeitig mit dem Sonnenuntergang aus dem Waldsaum herauszutreten. Ein nahegelegenes Wohnviertel von Königstein nahm uns auf in die städtische Welt. Rechtschaffen müd‘ und erfüllt von den Gaben, auch ziemlich durchgefroren saßen wir in der Taunusbahn Richtung Heimat. Die Maske wie ein Schlafsäckle für das Gesicht.

10.10.2020

Auf dem Weg zum Tel-Aviv-Platz fiel mir eine neuartige Plakat-Kampagne auf: Beworben wurden gewohnt einfallslos gestaltete Mietshäuser auf quadratischem Grundriss, wie sie hier überall im sogenannten Europa-Viertel von Frankfurt schon fertig gebaut herumstehen. Die Häuser auf den Plakaten standen allerdings in Wien. Und dort sollte man, von Frankfurt aus, investieren. In diese Häuser hinein. Obwohl es genau diese Häuser, in genau dieser Form hier längst gibt — und zwar, wie gesagt in jenem Viertel, wo die Werbung plakatiert wurde, in den Aufbau einer solchen Siedlung im fernen Wien zu investieren. Für mich war es damit klar und unklar zugleich, an wen sich diese Werbung richten sollte. Genau genommen fiel mir der Artikel in der F. A. Z. ein, einer von vielen, die anlässlich der Einweihung des sogenannten Grand Tower erschienen waren, einem Wohnturm, der ausschaut wie aus Downtown Manila in den neunziger Jahren. Das einzig interessante an diesem vielstöckigen Wohngebäude ist, dass dort seit der Einweihung die Fenster stets dunkel bleiben bei Nacht (ich wohne nebenan). Die Besitzer der Wohnungen wohnen nicht nur anscheinend nicht vor Ort. In der Zeitung hieß es, das sei wie es sei, aber mit solcherart Gebäuden würde halt dem weltweiten Anlagedruck Rechnung getragen. Gerade so, als ob dieser ominöse Anlagedruck diese Gebäude aus dem Boden heraus in die Höhe treiben dürfte wie Stapel von Münzen …

Am Tel-Aviv-Platz nun, wo ich ursprünglich die Literaturbeilage studieren wollte, die anlässlich der nicht stattfindenden Buchmesse erschienen war, zu deren Eröffnung es aber am Dienstagabend wenigstens eine Festveranstaltung in der Festhalle geben wird, auf die ich mich schon sehr freue, wurde ich von der Beilage abgehalten durch eine sehr lange Reportage eines mir unbekannten Autoren, der von seinen Erlebnissen bei der Räumung des linksextremen Wohnprojektes in der Berliner Liebigstraße berichtete. In Österreich nennt sich diese Form Lokalaugenschein. Der Autor Gregor Schwung ist aber kein Österreicher. Seine höchst kuriose Ausdrucksweise («Die Linksextremen in Friedrichshain greifen auch Menschen an») verleitete mich, seinen Namen zu googeln: Es erschien das Portraitbild eines sehr jungen Mannes, der weiß, was er will. Das Schreiben sollte er allerdings lassen. Den Linksextremen hingegen würde ich raten, dass sie demnächst mal keine baufällige Immobilie besetzen, die Nostalgie akkumuliert, sondern eins dieser Investorenprojekte wie beispielsweise den Grand Tower. Oder die seelenlosen Häuserlkasten in der sogenannten Gartenstadt von Wien.

Bevor ich dann die Literaturbeilage überhaupt angeblättert hatte, war ich schon beinahe geschafft. Überhaupt finde ich es zunehmend anstrengend, das alles, das mir entgegenwächst politisch aufgeladen erscheint. Wenn ich Socken kaufen will, frage ich mich, ob ich die richtigen Socken kaufe. Ob es den Tieren gut ergangen ist, bis aus den Fasern ihrer Felle die Wolle für meine Füße wurde? Ob das ganze Unternehmen nicht zu viel Wasser verbraucht hat. Zuviel Sprit. Und dass Nerze, also die Nagetiere mit dem seidig flauschigen Fell, aus denen man die schönsten Mäntel macht, sich auf Pelztierfarmen in Utah, dem Mormonenstaat in den Vereinigten Staaten, die von Menschen übertragene Krankheit Covid-19 zugezogen haben. 8000 starben, sind verendet. Tot.
Das war zuviel. Die Sonne war herausgekommen. Die Bäume hatten in meiner Abwesenheit goldgelbes Laub bekommen wie andere graue Haare. Das sah ich erst jetzt. In diesem Licht. Ihre Pracht. Die Literaturbeilage legte ich beiseite. Ich konnte kein Elend mehr ertragen. Da näherte sich mir, hüpfend, eine Krähe. Schräg über den menschenleeren Tel-Aviv-Platz hüpfte sie auf mich zu. Wir kannten uns längst. Dass ich sie wiedererkannte, schien sie genauso zu verwundern wie es mich verwunderte, dass sie mich. Das letzte Mal, vor meinen Fahrten nach München und zuvor nach Heimerdingen, hatte sie sich in einem ähnlichen Manöver ganz flach und dabei auch breit gemacht, um, flach und breit vorantrebend wie ein hüpfender Pilz mit blauschwarz schimmerndem Hut, ein Stück von meiner Brezel, ein Brezelärmle, das unter meinen Stuhl gefallen war während ich den Rest dieser Brezel aß, zu erheischen. Listig hatte sie geschaut während ihres Manövers; von daher kam mir der  Gedanke des Erheischens gerade recht.

Aber heute hatte ich nichts zu essen, bloß diese Zeitung. Und ich dachte ‹Bis zum nächsten Mal›. Sie legte den Schnabel schräg und ließ ihr Knopfauge funkeln. Mir fiel das gespräch ein mit Friederike ein vom frühen Morgen, bevor ich losgegangen war mit der Zeitung, um die Literaturbeilage zu lesen. Es ging um Insekten. Friederike mag sie nicht. Ich dachte bislang immer, alle sollten Insekten mögen. Insekten sind wie Vögel, bloß halt für sehr kleine Menschen. Sehr viel kleiner noch als Du oder ich.

Das Datum bietet sich heute als Delikatesse an für Dezimalfetischisten. Das nächste Mal wird das in allenfalls ähnlicher Form im Jahr 3030 der Fall sein, wenn nicht nur ich, eigentlich: wenn alle, die das jetzt lesen, längst nicht mehr am Leben sind.

9.10.2020

Gestern war der Klempner da, um die Heizungsanlage aufzuwecken und einzustimmen auf ihre Ära. Er ging im Haus von Stockwerk zu Stockwerk, von Wohnung zu Wohnung, die Türen hatten alle offen stehen zu bleiben indes wie im Inneren der Räume die Ventile — ‹interessante› Frage, nebenbei entstanden für mich: Waren Türen für Klempner bloß andersgeartete Ventile? Also folgte ich ihm. Und außerdem, wann hat man das schon mal, dass man anstandslos in die Wohnverhältnisse sämtlicher Nachbarn Einblicke erhält? Bald kam es mir aber so vor, als ob die Wohnungen der anderen allesamt großzügiger geschnitten waren als die unsere — sollten wir etwa Pech gehabt haben bei der Vergabe? Bis es mir auffiel: Die hatten alle keine Bücher.

8.10.2020

Abends im Kino: Enfant Terrible. Gegenüber eines Hotels mit Namen Corona (Garni). Hübscher Vorgarten, es hatte aber auch geregnet. Im Fenster leuchtete still eine Lampe hinter honigfarbenem Schirm. Im Kino hatten sie die Sessel aus ehemaligen First-Class-Kabinen der Lufthansa. Irrwitzig breite Sitzflächen, mit orientalisch besticktem Gewebe bezogen. In der Vorstellung zahlreiche alte Lesben. Kurios. War mir vorher nicht bewusst, dass Fassbinder für schwule Frauen interessant ist.   Wahrscheinlich gibt es ein von den Geschlechtszugehörigkeiten enthobenes Interesse für das Homosexuelle an sich. Die lachten auch immer, wenn die Männer gedemütigt wurden. Vielleicht ist Kino mit schwuler Thematik für Lesben eine Art sozialer Pornografie?

Aus dem Film, der nur in Innenräumen spielte, nachts, zurück auf die Straße, wo es auch längst dunkel war. Und die Fassaden glitzerten. Ob Roehler den stummen Tod, der eine Maske trug, natürlich, selbst gespielt hat?

Ab morgen gibt es Sperrstunde.

6.10.2020

Abschied von München, wo ich gestern erst im völlig neu gestalteten Keller meines Hotels gelandet war; neu gestaltet — freilich — von Axel Vervoordt (ich hatte ihn an den Kleiderhaken erkannt — und dann natürlich auch am Grün an den Wänden, diesem speziellen Vervoordt-Grün, von dem es einst geheißen hatte, dass er seinen Kunden sogar ein exklusives Klopapier verkauft in diesem Grün, auf dass sie sich gegenseitig daran erkennen könnten bei ihren jeweiligen Besuchen im Gegen-Chalet. Aber halt auch an seinen charakteristisch gegossenen Kleiderhaken aus Bronze hatte ich den Meister erkannt; an deren bäuerlicher Simplizität, die Bauern selbst aus dem Jahrtausend, auf das Vervoordt sich bezieht, die Ära Odd Nerdrums, als die Altvorderen Mark Rothkos noch auf solchen Schemeln …) Am nächsten Morgen nahm ich das Geschehen auf der Baustelle vor meinem Fenster rein optisch war, die Scheibe ließ nichts durch von den Geräuschen, die der Umbau der Bayerischen Staatsbank in ein Hotel unter chinesischer Leitung verursacht. Auf Nachfrage hin zeigte man mir den neu gestalteten Flügel aus Konferenz-Räumen, die ebenfalls von Vervoordt eingerichtet wurden. Am besten gefiel mir der Mozart-Raum mit seinen bodenlangen Vorhängen, blau-weiß kariert. Am zweitbesten die holzvertäfelte Bibliothek. Hinter der Plexiglasscheibe, just for show, ein Meyers aus dem 19. Jahrhundert. Mit den schönen Stichen. Hatte ich auch mal. Ror Wolf ist tot.

5.10.2020

Abschied von Heimerdingen bei teilweise bedecktem Himmel mit Tendenz zum mittäglichen Aufreißen. Gestern war der schönste Tag. Ein Ausflug führte auf die Schwäbische Alb, ins Biosphärenreservat hinter Münsingen: Idyll einer unberührten Landschaft aus sanft geschwungenen Wiesen mit Wachholder und alten Obstbäumen darüber verteilt, sodass man beim bloßen Anblick des vom Menschen unberührten, unverzierten Naturgemäldes zu glauben geneigt ist «Da stimmt etwas nicht». Ein ehemaliges Truppenübungsgebiet, that’s why.

Drastisch wirkt dahingegen die Man made desert eines dem Parkplatz vorgalagerten Neubaugebietes mit seinen Carports, Trampolinen und Gabionen. Zum Neutralisieren suchten wir das Kloster Zwiefalten auf, den Innenraum des barocken Walfischs aus einer anderen Zeit. Von den Deckenmalereien wurde mir schwindelig. Ist mir unter gleichwelchen Wolkenformationen noch nie passiert.
Abends TV «Mein Leben mit 300 Kilogramm».

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