»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

4.10.2020

Auf dem Rückweg vom Kaffeetrinken in der Stadt bemerke ich im Vorüberfahren einige Personen auf unserem Stückle. Ich wende, fahre auf die kleine Obstwiese zu: dort lagern zwei Mumen, umgeben von Kinderwägen und etlichen Kindern. Die Kleinen haben sich Äste abgerissen, um nach den Walnüssen zu schlagen. Ich erkläre, dass es sich um Privateigentum handelt und bitte, die Erntearbeiten an unserem Baum jetzt zu beenden. Die Kinder streben dem Mann entgegen uns präsentieren ihre Beute. Ich zeige das weltweit akzeptierte Handzeichen des Einhalt gebietens. Die Kinder laden daraufhin die übrigen Nüsse zu den anderen in die Kinderwägen, die Mumen schieben ab.

Das Eigene behaupten: braucht man im städtischen Leben, wo alles hinter Schloß und Riegel ist, so gut wie nie. Dementsprechend lang anhaltend die Erinnerung an meine Aktion. Auch körperlich. Eine andere Form von Muskelkater.

3.10.2020

Am Vorabend gab es noch einen warmen Leberkäse, morgens kündigte sich dann der Forstwirt per Telefon an, dass er sich in einer halben Stunde auf seinen Traktor setzte. Herbeigefahren wurde die alljährliche Lieferung des Brennholzes. «Nachwachsende Rohstoffe» suggeriert eine schlaraffische Bequemlichkeit, aber das Öl muss gefördert und in Fässer gefüllt, die Bäume gefällt und deren Stämme in Scheite zersägt und gespalten werden. Und vor dem Heizen kommt das Aufschichten. The grabbing hands grab all they can. Die stumpfe, wahrscheinlich sehr gut von einem Roboter zu erledigende Arbeit lässt den Gedanken sehr viel Raum. Man unterhält sich nebenbei und so entstand dann unser Spiel, in dem der Vater zum Chinesen wurde, der, weil klein und zart von Wuchs, dort unter dem niedrigen Dach des Verschlages die Scheite aufzuschichten hatte, Stoß um Stoß und dann noch um einen mehr. Li Holzwurm war sein Name. Und das Wetter war uns wohlgesinnt. Abends nahm ich, nach getaner Arbeit wie es heißt, den Apfel, den ich vor ein paar Wochen noch als unreif befunden, hier auf dem Tisch im Garten abgelegt, zu mir — hineinbeißenderweise: Jetzt war er freilich ideal.

Heute früh dann mit dem Gefühl aufgewacht (und erst recht damit umhergegangen), ich wäre über Nacht in ein Kastanienmännchen verwandelt worden. Holzhart kugelnd der Muskelkater. Hecken aus Pfaffenhütle, Hagebutten und Schlehen.

1.10.2020

Zwei Halbwüchsige in der Berufskleidung von Trockenbauarbeitern oder Malern schleifen einen dritten in das Foyer der Sparkasse, in der ich mich befinde, zum benachbarten Geldautomaten, an denen ein vierter von ihnen — gleichaltrig, imselben Stil gekleidet — ihn vor dem Bildschirm stehend zwingt: «Schau meinen Kontostand!»

Tja. Das scheint das zeitgenössische Äquivalent zur Besenkammer bei Kempowski, «Aber dieser Hohn!», die Nilpferdpeitsche.

Das Barometer schwankt beständig um 1050 Hektopascal. Astern und Krähen.

29.9.2020

Nicht leicht für mich, derzeit, nicht paranoid zu denken. Gestern fand ich auf jener Wiese, wo ich seit Tagen schon die halbwegs reifen Quitten aufgelesen hatte, auf einmal keine einzige mehr, dafür lag ein quittengelber Golfball dort im Gras. Wirklich dafür?

Heute wirkt das Geschehen auf der Straße drunten ungewöhnlich ruhig auf mich, beruhigend auch, da schreibt mir Friederike, sie hätte im Polizeifunk gehört, es finde derzeit ein Einsatz des SEK in unserem Viertel statt. Angeblich hatte sich ein bewaffneter Mann in einem Gebäude verschanzt — ob ich durch das Fenster etwas davon sehen könne? Jetzt, da ich um die Besonderheit der Situation dort drunten wusste, kam mir das vertraute Bild der Straße unten und vor meinem Fenster natürlich seltsam vor; mit einem Mal. Bedrohlich auch, in seiner Reglosigkeit. Aber sind das nicht alle Bilder: reglos?

Und der Himmel heute wie dräuend, so grau. Und oberhalb dieser wattigen, opaken Schicht formieren sich die Vögel nach Arten streng getrennt, um in V-förmigen Formationen nach Afrika zu fliegen. Jede Art für sich. Oder hat man denn jemals von blinden Passagieren in den Schwärmen von Zugvögeln gehört?
Mein viertes Thema ist die Post.

28.9.2020

Rauschgoldenes Licht, ein veritabler Schwall davon, das morgens durch die Scheibe dringt, um sich, die tollsten Schatten werfend, quer über die gesamte Wand zu verteilen: dieser Anblick lockte mich und lockte mich hinaus in mein Foyer des arts, den Platz am Ende der Europa-Allee. Kaum dass die allerdrängendsten der dringenden Arbeiten getan, strebte ich dorthin. Meine Agora — die Typen dort und ihre Anliegen dürften im Groben noch dieselben sein beziehungsweise ewige. Heute, zum Beispiel, ließ einer sanfte Klarinettenmusik aus dem Handylautsprecher auf sich wirken. Dazu ein Gemisch aus Buckfast und Sprite. Wann wird Nestlé den Mönchen der Buckfast Abbey eine Offerte unterbreiten, wie es heißt? Und werden, nach meinen nächsten Fahrten, die das Wetter bestimmenden Wesen mir noch eine Fortsetzung meines Studiums der guten Leute vom Tel-Aviv-Platz gewähren? Wird der Europagarten selbst, derzeit noch immer hinter Zäunen wie bis vor kurzem noch mein Platz, dann in meiner Abwesenheit zur Benutzung freigegeben sein — all seine Wiesen und Fläche, ihre Wiesenheit?
Wird es Schnee geben, wie kalt müsste es werden, um eine Wespenplage wie weilands im Berlin des Jahres 1998 zu verhindern?
Goldener Herbst, Zeit der Schwärmerei — wann, wenn nicht dann! — und des Schwelgens in meinen Erinnerungen; auch denen den Zeitraum 2020, der jetzt sachte verstreicht. Wie seltsam, es sind kaum welche da, die sich melden — anscheinend. Doch, es war ein sehr gutes, aber halt auch verinnerlichtes Jahr. How soon is now?

26.9.2020

Zurück in der Heimat, eingeschlafen bei Regen, seinem sanften Geräusch. Es sind freilich sehr viele, jeder einzelne Tropfen macht ein eigenes, für ihn charakteristisches, aber zusammen wahrgenommen vernehme ich sie als eins. Trotzdem die Mahnung Leave no one behind. Von diesem Schlaf, dem traumhaftesten von allen bislang — ein jeder Schlaf ist traumhaft für mich, aber dieser war am traumhaftesten — musste ich mich noch nicht erholen; ich zehre noch immer von ihm. Die Erholung währet immerdar, wie es heißt, während von draußen natürlich: ein, nein, der Himmel: meliert, aufgebauscht zu schmalen Dünen. Wirjt schlampig auf mich, lustlos, hingepfuscht. In der Zeitung wird an das Oktoberfest-Attentat erinnert. Friederike war damals noch nicht geboren.

Ich trage die herrlichsten Alpaca-Socken und meinen Herbst—Schal (wie die anderen Künstler). Es ist wieder soweit. Please, please, please let me get what I want.

23.9.2020

Die Tage um das Äquinoktium habe ich hier, in einer kleinen Siedlung hinter dem Stadtrand von Berlin verbracht. Hinter dem Haus beginnt ein Landschaft aus Weiden von kleinen Wäldern aus niedrigen Birken bestanden. Bis vor ein paar Jahren noch war die Ortsdurchfahrt, die aus Berlin hinaus weiter in den Osten führt, gepflastert. Ein für eine stille Arbeit geradezu idealer Ort (geradezu wie die Allee).

Nachts war es sehr still, beinahe so still wie in meinem Heimatdorf, und ich schlief traumlos und tief.

Tags regierten die Hunde. Es gab zwei: einer sehr klein, eigentlich winzig, gerade so lang wie mein Schuh. Zudem noch noch stark behindert, infolge eines häuslichen Unfalls. Ich kenne ihn noch aus der Zeit, als er voll bewegungsfähig war. Der andere Hund vergleichsweise riesig. Auch ohne Vergleich, selbst an mir gemessen, ungefähr wie ein Kalb (so groß wie ein Kalb mir vor Augen steht). Ein Mischling aus einem italienischen Hütehund, Rest unbekannt (er stammt aus dem Tierheim, sein Stammbaum wurde verbrannt).

Die Geräuschemischung in dem Raum, in dem ich geschrieben habe bestand aus dem Tippen meiner beiden Fingerspitzen auf der flexiblen Tastatur und dem weitaus, viel vielmehr reichen Arsenal an Schluck- und Schmatz und Leck- und Schaufgeräuschen dieser beiden Tiere. Aus ihren Zahnpflegegeräuschen. Aus ihrem Hecheln und Stöhnen, ihrem Japsen und Quietschen, dem Bellen natürlich, ihrem Aufspringen und dem Umherrennen, -trappsen und -schleichen. Selbst ihr Vor-einander-hin-schauen rief Geräusche hervor/ machte welche; und dann wieder ihr Schnaufen während des hündischen Schlafs.

Wenn man einen Hund bei seinem Namen ruft, spricht man ein Wort aus der menschlichen Sprache vor sich hin, laut, und hofft dabei, seine Bedeutung reicht bis in die hündische Sphäre hinüber. Kurios.

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«