Fremde Angst

Kriminalerzählung
zuerst erschienen 2007 im Hapimag Magazin

Aber der Kommissar war noch nie zuvor in seinen Kleidern eingeschlafen. Als er erwachte, ließ sich sein linker Arm nicht mehr bewegen. Er braucht noch eine Weile, um dies herauszufinden: der Ärmel des Jacketts und die Krawatte waren ineinander verwickelt, von den Hüften an steckte er fest in der Tagesdecke seines Doppelbettes, die nun zu einem Muschelhorn geworden war, in das er sich schlafend hineingewühlt haben mußte. „Wie eine Schraube“, stellte er fest. Ja, er konnte sich sehr wohl daran erinnern, daß er am Vorabend in dem Café mit Namen „Schuh“ gewesen war und natürlich auch daran, daß er dort von diesem Weißwein getrunken hatte. Einige Gläser waren es schon gewesen, aber doch nicht unmäßig, nicht Flaschenweise. Auf dem Etikett der Flasche war eine Eidechse abgebildet – oder war es ein Lurch?

Weiterhin Geräusche an der Tür. „Die Vorhänge zuzuziehen, das hast du wahrscheinlich nicht mehr fertiggebracht, obschon die Tür abgeschlossen, das hast du wohl“, stellte der Kommissar fest, während er sich richtete. Komisch, wie beinahe frisch gefönt seine Frisur aussah, der Scheitel saß perfekt. Auch sein Atem war unverdächtig. 

Vor der Tür warteten die Gendarmen Muller und Banz: „Yves Lutt?“

„Ja.“

„Entschuldige die Störung, aber es hat sich etwas ergeben.“

„Ja?“

„Wohl, aber nicht hier. Eine Etage über Dir. Bei den Urlaubern. Ein Toter.“

Der Kommissar schaute nun auf Muller, der bislang geschwiegen hatte. Seit der Kommissar seine Etagenwohnung in Matten aufgegeben hatte, um sich im Belvédère einzumieten, zeigte sich der Gendarm Muller ihm gegenüber merkwürdig reserviert. Es war, als ob der es ihm krumm nahm, daß sich ein Kommissar in einem Hotel einquartierte. Muller war, das war bekannt, ein bodenständig Familienvater und Gendarm. Das Wohnen des Kommissars in einem Hotel, zumal in diesem Hotel, in dessen vormaligem Bau schon Napoleon gewohnt hatte – war das für Muller noch bodenständig genug?

„Du sagst heute nichts?“ sagte der Kommissar.

Muller, ins helle Treppenhaus deutend: „Du solltest es dir selbst anschauen kommen, Yves. Die Sache passt hinten und auch vorne nicht“.

Es war eines der kleineren Apartements, die Tür stand angelehnt und wurde von einem schmalen Gendarm bewacht, der dem Kommissar unbekannt war. Keine Spurensicherungen im Flur. Muller nahm Austellung neben der Schlafzimmertür und sagte „Hier drinnen ist es passiert“. 

Der Mann lag vor dem Bett, sein linkes Bein ragte wie ausgerenkt in Richtung der Fenster. Die Glasscheiben waren mit den Seiten einer Tageszeitung zugeklebt worden. Zur Hälfte hing das Papier in Streifen heruntergefetzt, auf die freien Stellen der Scheibe war eine dunkle Masse verschmiert worden. Der Mann lag auf dem Rücken, sein Gesicht war vollkommen zerstört. 

„Er ist geblendet worden“, sagte Banz.

„Offensichtlich!“, sagte der Kommissar. „Verblutet in der Folge. Sind die Augäpfel auffindbar gewesen?“

„Jawoll! In der Sacktasche.“

„Aha. Welche Farbe? Was ist das überhaupt für ein Landsmann gewesen?“

„Fahles Orange. Er war ein Malaye. Abdul Jah´man Singh. Er war mit einer Reisegruppe aus den Subtropen hier übernacht. Der Rest der Gruppe ist heute früh weitergefahren. Die haben sein Fehlen zunächst nicht bemerkt.“

„Wo sind die jetzt?“

„Auf der Wache. Wir warten noch auf die Übersetzertrupps aus Bern. Wegen des Verhörs.“

„Gibt es Aussagen in mir bereits bekannten Sprachen? Italienisch, Französisch, Englisch?“

„Sie sind halt arg höflich und geduldig“ - Muller mischte sich ein „Es will ihn keiner gekannt haben, es gibt auch keine Übereinkunft, ob er am Nachmittag noch dabei war, als die Gruppe den Mystery Park besucht hatte.“

„Keine Freunde oder dergleichen?“

„Wie es bis jetzt ausssieht: nein. Und ich glaube nicht, daß die Übersetzer noch mehr herausbringen werden. Versteinerte Mienen, gefrorenes Lächeln – da beißen wir uns die Zähne aus.“ Muller hatte sich für den Schluß seines Satzes seine Kappe abgenommen, und der Kommissar betrachtete neidvoll Mullers festes, blickdicht durcheinander wachsendes Haar. Drahtartig.  

„Das glaube ich auch“, gab er zu. Die Sonne drang durch die dunklen Schlieren auf den Zimmerfenstern, was seltsam plastische Muster ergab.

Banz hatte die Nachricht erhalten, daß sich die Anreise der Übersetzer noch weiter verzögern würde. Der Kommissar hatte eine Stabsbesprechung im Café Schuh angesetzt. 

„Ah, das Schuh!“, rief er beinahe, als er sich in seinen angestammten Sessel auf der Terrasse sinken lassen konnte. Ohne daß bestellt worden wäre, brachte die Kellnerin eine Flasche Weißwein, sowie einen Tee (Eisenkraut). Banz bestellte eine Kalbsbratwurst mit Zwiebelsauce, der Kommissar wählte ein chinesisches Fondue für zwei. Muller betrachtete sich als eingeladen. 

„Ja“, fing der Kommissar an. „Es ist natürlich schon befremdlich, daß man einem unbescholtenen Touristen die Augen herausreißt.“

Banz äußerte seine Vermutung, es könnte sich um eine Art von asiatischem Ritualgräuel handeln; ebenfalls wäre ein Racheakt mit bandenkriminellem Hintergrund denkbar. Der Kommissar wehrte ab: „Warum dann hier? Die Reisegruppe besteht doch aus potenten Geschäftsleuten auf Urlaubstour – selbst wenn deren Geschäfte eigentlich von krimineller Art wären, dann würden sie sich doch zum Rächen in die vertraut unübersichtliche Heimat zurückziehen und so etwas nicht hier“.

Banz, den Mund mit Wurstbissen gefüllt, äußerte sein Mißtrauen gegenüber den asiatischen Sitten. 

Muller stellte eine entscheidende Frage: „Wer sagt überhaupt, daß der Fremde geblendet wurde? Kann man sich die Augen nicht auch selbst herausreißen?“

Der Kommissar, in dem Napf mit Fonduegut herumräumend: „Selbstverständlich. In der Bibel wird es sogar verlangt“.

Darauf sekundierte Muller: „Jawoll! Wenn dein Auge dich verführt, reiß’ es heraus! Und das nächste gleich danach - wenn es keine Ruhe geben will“.

Banz tupfte mit dem Finger seine Zwiebelsauce auf: „Dann fehlt uns aber immer noch sein Dingens, Yves“.

„Auge? Meinst du mit Dingens ‚Auge‘? Ich dachte, das hättet ihr in seiner Sacktasche gefunden?“

„Motiv. Ich meinte: Motiv.“

„Jaaa“ machte der Kommissar gedehnt. „Warum dann nicht gleich Motiv?“

Banz malte Spiralen in die Sauce auf seinem Teller. „Weil, Yves… weil du Yves heißt.“

„Ganz genau,“ begann der Kommissar ihn zu locken „Yves Lutt. So heiße ich.“

Banz, mutig: „Ja, ein schöner Name, aber: Er reimt sich auf Motiv. Und wir reden ja ständig vom Motiv. Dauernd müßte ich zu dir sagen Doch fehlt uns ein Motiv, Yves oder Was war sein Motiv, Yves – verstehst Du mich, Yves? Das hemmt doch, oder nicht? Oder?“

Muller sagte: „Es ist echt bescheiden, Yves. Wenn dein Name nicht wäre, hätten wir auch viel weniger Angst, zur Arbeit zu gehen“.

Der Kommissar war verblüfft. „Ihr habt Angst, zu arbeiten?“

Muller, weiter: „Wenn die Einsatzglocke schellt, denke ich schon ans Motiv und überlege, wie sage ich’s nachher dem Yves?“

Banz: „Wenn ich meiner Freundin erzählen soll von einem Mord, verschlägt es mir oft die Sprache, nur aus Angst davor, sie fragt mich nach dem verfluchten Motiv“.

Ein Blatt der Platane war in den Fonduekessel gesegelt. Der Kommissar schubste es mit seinem Spieß durch die simmernde Brühe. Die Weinflasche war geleert. Das Stundenläuten der Kirchenglocken unterbrach die peinliche Stille am Tisch. 

„Aber da wir jetzt nicht so rasch etwas gegen meinen Vornamen unternehmen können, müssen wir uns trotzdem fragen, warum sich der Malaye Singh die Augen aus dem Kopf gerissen hat. Was Du gerade meintest, Muller, der Bibelspruch erscheint mir als Schlüssel zu seinem Motiv“.

Muller schien wieder ganz bei der Sache: „Auch weil er sich die Fenster mit den Migros-Anzeigen verklebt hatte?“

„Eben“, sagte der Kommissar, „da war vielleicht etwas, das ihn am Schlafen gehindert hatte“.

„Vollmond?“, fragte Banz. „Es war doch Vollmond.“

„Nicht nur das“, sagte der Kommissar und sah zum Gipfel des Harder. „Eventuell war es unsere lokale Spezialität, unser Hausberg und das Gesicht des Hadermannlis, das dort im Stein zu erkennen ist.“

Oft ist es ja so, daß man als Einwohner einer Gegend deren Besonderheiten nicht mehr in dieser Eindrücklichkeit vor Augen hat, wie sie der Ortsfremde erlebt. So war es auch mit dem Hausberg Interlakens, in dessen dem Ort und der Rückseite des Belvédère zugewandten Seite auf halber Höhe ein groteskes Gesicht im Stein verewigt war. Die Legende besagt, daß ein lustwandelnder Mönch ein kleines Mädchen so lange bergan verfolgt hatte, bis dieses aus Angst und Scham in den Abgrund gesprungen war, um sich vor den Nachstellungen des Mönches zu retten. Das schreckensstarre Gesicht des Mönches sei dann zur Mahnung in der Wand des Berges versteinert. Bis heute ist es ein Brauch in der Gegend, daß am zweiten Januar jeden Jahres ein Umzug veranstaltet wird, in dem die Einwohner mit Saublasen und Holzmasken verkleidet durch die Ortschaften ziehen.

„Du meinst, der Herr Singh fühlte sich von unserem Hadermannli verführt?“, sagte Muller.

„Ich weiß nicht, ob verführt“, sagte der Kommisar „Aber von Malaysia weiß ich, daß die dort ganz ähnliche Fratzen kennen. Bloß stellen die dort deren Götter dar. Und wir können den Herrn Singh ja nicht mehr befragen und ich bezweifle es genau wie ihr, daß seine Reisekameraden etwas genaueres über ihn herausbringen werden – aber es könnte doch sein, daß ihm das Hadermannli, als er es so entdecken mußte - im Mondenschein flimmernd - eine unbegreifliche Angst eingeflößt hatte.“

„Eine fremde Angst“, sagte Muller.

„Ganz genau“, stellte der Kommissar fest.

Banz schaute von seinem mittlerweile blitzblank gewischten Teller auf: „Vielleicht daß der Malaye eine Art von Wiedergänger des lustwandelnden Mönches war?“

„Ja, oder gleichwie“, sagte der Kommissar und bestellte mit einem Fingerzeig die nächste Flasche. „Herausfinden werden wir das sicherlich nie. Das Geheimnis dieses Mannes wird uns so fremd bleiben wie seine Angst, wie sein – entschuldigt mich bitte vielmals – Motiv.“

„Macht nichts, Yves“, sagte Muller.

„Nichts für ungut“, darauf Banz.

„Also“, stellte der Kommissar fest. Der Nachmittag würde gemütlich werden.