Acht Anmerkungen zu Essen und Sex

von 
Essay
zuerst erschienen im September 2011 in Häuptling eigener Herd Nr. 48

1. In Amerika geht man bereits dazu über, sich vor Esseneinladungen zuhause den Bauch zu füllen, um bei Gastgebern keinen hungrigen Eindruck zu hinterlassen. Damit man nicht Nachschlag verlangen muss und sich überhaupt so benimmt, wie us-amerikanische Schauspieler im Film: Sie tupfen sich den Mund ab. Sie gestikulieren mit dem Besteck. Sie stochern im Teller herum. Sie legen das Besteck sofort wieder ab, nachdem sie es aufgenommen haben. Sie zeigen keine Zähne. Sie schnuppern nicht am Essen, sie schauen den Teller nie an, sie haben anscheinend nicht einmal eine Zunge und auch keine Zähne. Sie nähen sich mit Worten den Mund zu und aus ihren Aftern fliesst Rosenöl und Diät-Cola. Amerikanische Schauspieler sind die besseren Menschen, sie sind unmenschlich und verweisen uns Zuschauer, die gezwungen sind, in einer Weise zu essen, dass Nahrungsaufnahme tatsächlich erfolgt, in das Reich des Vulgären. Was haben sich die Europäer über die Kaugummi kauenden Amerikaner aus der Provinz lustig gemacht. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die arme Sau von heute ist der urbane Amerikaner, der sich vor Essenseinladungen zuhause Cornflakes und kalte Nudeln vor dem Kühlschrank stehend reinzieht, damit er seine Gastgeber nicht mit seinem Hunger belästigen muss. Der amerikanische Gastgeber schmeisst das Essen weg, weil sich seine Gäste nicht trauten, hungrig aufzuschlagen. Auch eine arme Sau. Puritanische Gäste gibt es natürlich überall in der Welt, auch in London, Zürich, Berlin und Paris. Überall in der Welt können sie es durch die besagte präventive Sättigungsmaßnahme (Pre-Fressing at home) schaffen, Essenseinladungen anzunehmen und sich mit essenden Menschen in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Obwohl sie es eigentlich nicht ertragen, jemanden auf der Grundlage von Hunger essen zu sehen. Sich selbst vermutlich nicht und andere erst recht nicht. Werden sie denn eines Tages vereinzelhungern, die Puritaner und Amerikaner, oder werden sie vor den Kühlschränken stehen und dort auf ewig hinein glotzen?

2. Wussten Sie, dass es bei dem führenden Internetportal für hausgemachten Sex – youporn.com – keine Kategorie wie Essen, Mahlzeit, Frühstück, Dinner, Vesper usw. gibt. Nicht einmal mit dem Stichwort „Kaviar“ würden Sie irgendwie fündig werden, obwohl sich eine abseitige Praktik so nennt. Vielleicht verspricht „Banane“ oder „Picknick“ Erfolg, aber auch das ist unwahrscheinlich, youporn kennt den Zusammenhang zwischen Essen und Sex nicht.

3. In der amerikanischen Filmkomödie „Brautalarm“ (2011), übrigens ein wichtiger Beitrag zum Humor von und über Frauen, gibt es eine Nebenfigur namens Megan, ihr Erkennungszeichen: Länge mal Breite und sehr selbstbewusst. Im Abspann des Filmes hat sie einen kleinen Clip, in dem wir sehen, dass auch dieser Brautjungfer ein Happy End gegönnt ist. Sie und ihr neuer Freund, der Sky-Marshall, den sie während eines Fluges kennenlernte, drehen zusammen einen Amateurfilm im Schlafzimmer. Die Assoziationen Sexfilm und Youporn-Ästhetik werden stimuliert. Doch dann passiert Folgendes: Megan hält dem Marshall ein riesiges, belegtes Baguette hin, als wäre es ein Geschlechtsteil, und sie preist das belegte Baguette an, als wäre es eine ganz besonders versaute Offerte. Gierig und bebend liegt Megan dann halbnackt auf dem haarigen Bauch des Marshalls und isst das belegte Baguette, angefeuert von seinen liebevollen Ermunterungen. Das ist Liebe, das ist intim, das ist lustig, doch eben nicht Porno.

4. Hat man nicht selbst schon nachts wach gelegen und sich vorgestellt, dass man ein Fressfilmchen bei youporn reinstellt und dann abwartet, wie lange es dauert, bis es gelöscht wird? Molly und ihr Mango-Eis vor den Landungsbrücken. Hubert und sein Sardinenbrot bei Tante Gerda im Schrebergarten mit hauchdünnen Zwiebelchen. Familie Kaballaya und das Brathuhn vom Kaufhof und alle lecken sich am Ende die Finger ab. Das alles ist extrem real und zeigt alles von allem. Geradezu verboten.

5. Adam und Eva, man weiß definitiv zu wenig über die beiden. Nur das: Essen und Sex gewiss nicht ganz unproblematisch, eher traumatisch miteinander verknüpft.

6. Erich Wolfgang Skwara, ein mir erst seit kurzem bekannter Schriftsteller und verdienter Übersetzer, Jahrgang 1948, langjähriger Suhrkamp-Autor und Männerfreund von Walser und Handke – ich lernte ihn im Frühjahr in Innsbruck bei einer Schriftstellertagung kennen – hat unserer Zeit etwas Empfindliches über den Zusammenhang von Essen und Sex mitzuteilen. Er imponierte mir, nicht so sehr wegen der Kraft seiner Gedanken und Worte, sondern weil er so schön Fressen konnte, weil er manisch und banal und raumgreifend war und junge, schöne Frauen sich von ihm gerne einen Stoss geben lassen. Es war evident, dass jemand, der so anders war als die jungen Männer von heute, einen Schlag bei den Frauen hat. Abgesehen vom Frühstück gab es nämlich täglich zwei warme Mahlzeiten mit jeweils drei Gängen im Innsbrucker Hotel, bei jener genannten Tagung. Ich ging bald dazu über, mich von Skwaras Bettgeschichten und Lebensfortsetzungsromanen, die er stets zum Besten gab, während der drei zu bewältigenden Gänge unterhalten zu lassen. Es war schon köstlich, wie sich die jüngeren männlichen Kollegen am Tisch zunächst gegen den Gedanken sträubten, dass hier einer saß, der etwas dicker, älter und ungepflegter war und an einer Art Sprechdurchfall litt, vermutlich mehr Sex im Jahr hatte als sie in ihrem ganzen Leben. Sie glaubten ihm zunächst nicht, was ich unreif und phantasielos von jenen jüngeren Kollegen fand. Mettler, Aichner, Bundi, Kleeberg. Doch als eine junge Schauspielerin angereist kam, um während der Innsbrucker Nächte bei ihm sein zu dürfen, mussten die skeptischen Männer dem Alten glauben schenken und liessen ihren Unglauben so erschöpft fallen wie polnische Erntehelfer den letzten Spargel. Es war übrigens Spargelzeit, und auch die Gänge im Hotel Innsbruck waren von grünem wie weißem Spargel geprägt. Spargelsuppen, Spargelomlett, Spargelrisotto. Dazu österreichische Weine. Skwaras Essensmanieren war beherrscht, umgänglich und fein, was mich überraschte. Ich hätte, wäre ich gezwungen worden, mich festzulegen, eher auf schnellfräßig und nervös getippt, aber da hätte ich mich sehr geirrt, war wohl zu sehr von meinem eigenen rasenden, ungehörigen Stil ausgegangen. Skwara hatte sich außerdem, obwohl grossen Mengen nicht abgeneigt, den Geschmack für guten Wein behalten, doch er litt unter Schlafstörungen und heftigem Nachtdurst. Auch schien er mir einen inneren Wettbewerb mit Herrn Walser auszustehen, was die Liebesbeweise junger Frauen angeht – im Schatten junger Mädchenblüte kann es stressig werden. Skwara war viele Jahre lang Professor in San Diego gewesen, Kalifornien, er unterrichtete dem Namen nach Cultural Studies. Martin Walser besuchte ihn einst dort und nahm eine Gastdozentur an. Danach schrieb Walser über dieses Setting seinen besten Roman, „Brandung“, einen Campus-Roman, der von tragischen Studentinnen, Unfällen und Sex unter der kalifornischen Sonne handelte. Skwara selbst aber, so erzählte er es während der vielen warmen Mahlzeiten im Hotel der Stadt Innsbruck, sah sich mit seinen Lieblingsstudentinnen vorzugsweise den französischen Film „Das grosse Fressen“ an, als Einführung in das europäische Denken. Das imponierte mir sagenhaft. Bravo, hätte ich ihm gerne zugerufen, welch brillante didaktische Maßnahme, und in seinen grauen Bart gekniffen. Ich verstand zu gut, dass die Amerikanerinnen sich danach sehnten, sein Bauchfleisch anzufassen. Ich sah sie vor mir, wie sie ihn anschrieen, wenn er es wagte, eine Mahlzeit ausfallen zu lassen, und sie zogen sich die Haare aus vor Entsetzen, sobald er über Diät nachdachte. Skelettöse, lesesüchtige, lebenshungrige Frauen, die ihm nach Italien nachreisten, dort konnte er sie lieben, ohne das Gesetz zu brechen. Am Ende der Tagung entstand eine Idee zwischen ihm und mir, wir vereinbarten einen E-mail-Wechsel zum Thema „Fressen rund um die Uhr“. Von null Uhr bis 24 Uhr – 25 Kapitel Essensentscheidungen. Warum was zu essen ist, und wie es zubereitet sein soll. Das grosse Fressen, ohne Körperkontakt, nur parole. Wir erkannten wohl, dass wir beide grosse Fresserchens waren, die erstaunt auf ein Leben voller Liebe blicken durften. Uns dürfte es gar nicht geben, aber uns gab es. Wir waren Urgewalten, Naturgiganten, Urzeitwesen, unkaputtbar solange der Stoffwechsel noch mitmachte. Ja, wir mussten etwas Seltenes zu erzählen haben, und waren wir beide nicht auch Schriftsteller. Wir mussten von dem Geheimnis wissen, wo des Lebens süssesten Früchte wuchsen und wie man sie nach aller Kunst einkochte. Allein dies mitzuteilen mag der Grund meiner schrecklichen Indiskretionen sein. Dass es mir bei dem 24-Stunden-Fressen-Projekt auch um die Verschriftlichung seiner erotischen Weisheiten ging, wird Sie vielleicht nicht überraschen können. Denn dieser Skwara schien mir aus einer anderen Zeit zu kommen, barock, europäisch und ausschweifend, und Frauen waren in diesem altehrwürdigen Arrangement die Squash-Wände des Abreagierens. Aber wie das so ist mit komplizierten Schriftstellern, die einen Wohnsitz in Italien haben, von der Freundschaft mit Handke und Walser gequält sind, denen die Schulden drücken, und die ständig bei grossem Appetit sind: Vieles hält sie vom Schreiben ab – es kam bei unserem email-Wechsel bisher nicht viel rum.

7. Nun habe ich überraschend erfahren müssen, dass sich sogar in meinem persönlichen Umfeld Menschen aufhalten, die sich vor Essenseinladungen zuhause den Bauch füllen. Keine Amerikaner, sondern Berliner. Ein Sportler ist darunter, er sagte, er habe ein so starkes Verlangen nach Kohlenhydranten, das wäre seinen Gastgebern nicht zumutbar. Der Gastgeber von heute kalkuliere bei Nudelportionen gewöhnlich 125 Gramm pro Gast. Er aber benötige eher 300 Gramm, vielleicht sogar mehr. Deshalb esse er sich satt, bevor er bei Gastgebern erscheine, damit er das Essen als solches überhaupt würdigen könne, und nicht ständig seinen Hunger spüren müsse und Angst haben müsse, durch sein Nahrungsverlangen – das sich durch zwei, drei Nachschläge und den Verzehr des Brotkorb-Inhalts artikulieren könne – unangenehm aufzufallen.

8. Es gab Zeiten, da haben mein Mann und ich versucht, gute Gastgeber zu sein, indem wir unseren Gästen reichliche Portionen auftischten. Bis etwa ins Jahr 2007 ging das so. Wir grillten Doraden, wir füllten Paprikaschoten, wir brieten Lammhaxen, wir stellten ein Zitronentarte in den Kühlschrank, wir kreierten Bittersalate, wir kochten nach ausgesuchten Rezepten, mit frischen Zutaten, und hohem Einsatz von Zeit und Geld. Das hatte sicher etwas mit meinem orientalischpakistanischen Erbe zu tun, das verpflichtete, dem Gast unnachgiebig Getränke und Speisen zu offerieren und niemanden aus der Tür zu lassen, der nicht dem Platzen nahe war. Die rheinhessische Herkunft meines Mannes verlangt übrigens ähnliche Gastgebote, basierend aber auf deutlich mehr Fleischwurst und Weisswein (Weck, Woi un Wurscht). Wir ergänzen uns also ganz gut und waren als Eheleute übereingekommen, unseren Dinnergästen keine winzigen Doradenfilets anzubieten, sondern jeweils eine ganze Dorade pro Person. Kein Scheibchen vom Brötchen, sondern ein ganzes Brötchen zur Vorspeise, usw. Als wir nach einigen seltsam appetitlos verlaufenen Dinnerpartys die reichhaltigen Reste von den Tellern unserer Gäste kratzen konnten, und rekapitulierten, dass wir nichts anderes als Panik in den Augen unserer Gäste angesichts des Angebots gesehen haben wollten, da begann das, was heute ist: Wir laden seltener zum Essen ein, wir kochen sehr viel kleinere Mengen und wir haben keine Angst mehr, unsere Gäste nicht satt zu bekommen. Wir können ja davon ausgehen, dass sie vorher bereits zuhause gegessen haben.

ENDE