Generation Unwichtig

von 
Porträt
zuerst erschienen am 14./15. April 2007 in Süddeutsche Zeitung
Der Burkhard war in der RAF? Na, so was! Über einen, den die Zeit links liegengelassen hat. Eine Erinnerung.

Burkhard Garweg ist seit 1990 verschwunden, da war er zweiundzwanzig Jahre alt. Das Bundeskriminalamt (BKA) sucht per Haftbefehl nach ihm. Es besteht der Vorwurf, dass er Mitglied in der sogenannten dritten Generation der Roten-Armee-Fraktion (RAF) ist. Ich habe lange nicht an ihn gedacht, bis ich sein Bild in der Zeitung sah. Die Republik erinnert sich anlässlich der Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt und des Gnadengesuchs von Christian Klar an die RAF und dabei fallen ihr ein paar alte, wieder aktuelle Fahndungsblätter des Bundeskriminalamtes ein. Die letzten Leute der RAF. Ich kannte ihn von einer Jugendgruppe, die vor zwanzig Jahren ein linkes Schülermagazin in Hamburg machte. Clinch - Magazin für die aufgeweckte Jugend hieß das, es kostete DM 1 auf Demonstrationen und Veranstaltungen, und DM 1,50 im damaligen Fachhandel, das waren Kopier-, Naturkost-, Platten- und Buchläden, die es in Kommission nahmen. Die Leute von Clinch waren zwischen 15 und 25 Jahre alt, Schüler, Studenten, Lehrlinge, und sie kamen vom Sozialistischen Schülerbund (SSB) - was eine Fachgruppe des Kommunistischen Bundes (KB) war - von der Grün-Alternativen Liste, von der Anarchistischen Jugend, den Trotzkisten, sogar einige Jusos. Es gab ständig neue Bündnisse und Bindestrich-Namen. So genau wusste man nie, wer eigentlich von wo kam, und man sprach auch nicht viel Privates. Vielleicht, weil es dafür noch keine Worte gab. Die sprachtherapeutisch so wichtige Band Blumfeld war noch viele Zwischenstopps auf der Autobahn der Zeit entfernt, Jochen Distelmeyer lebte zwar schon in Hamburg, sang aber fast völlig ungehört mit seiner Band Die Bienenjäger Refrains wie: „Große Städte, weites Land, überall kannst du traurig, überall kannst du glücklich sein.“ Nein, man sprach nicht über sich oder seine Traurigkeit, viel lieber über den Staat und wie wenig Kohle er für Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende und Faschismusopfer raustut.

Einige Male traf sich die Clinch-Redaktion bei Burkhard in der Wohnung, man saß auf dem Boden. Die Praxis seines Vaters, eines Anatomie-Professors, der eine zweite Karriere als Allgemeinmediziner auf dem Kiez machte, befand sich nebenan und war eine Institution in Hamburg-Altona. Engagiert, zugewandt, menschenfreundlich. Burkhard war 18, 19 Jahre alt, und er war kurz davor, das Gymnasium ohne Abschluss zu verlassen. Ich war drei Jahre jünger, erinnere sein Gesicht, zart wie ein Babypopo, er trug Lederhose und Wollpulli.

Als ich ihn etwa Mitte der neunziger Jahre in einer Kneipe alleine an einem Tresen sitzen sah, die Polizeidienststelle Davidswache nur einen Steinwurf entfernt, die mittlerweile befriedeten, renovierten Häuser der ehemals besetzten Hafenstraße ebenfalls, sprach ich ihn nicht an. Er sah aus wie eh, Leder und Wolle. Kann gar nicht sein, hörte ich später, den kannst du nicht gesehen haben, der ist verschwunden, untergetaucht, hat sich radikalisiert. Die Eltern haben die schlimmsten Befürchtungen. Ach so ist das, sagte ich, dachte aber, er wäre es gewesen. Seine Mutter hat das dann erfahren, soll sogarin die Kneipe gegangen sein. Weiter nichts.

Er ist seit siebzehn Jahre verschwunden. Er ist der Jüngste, nach dem jemals im Zusammenhang mit der RAF gefahndet wurde, Jahrgang 1968. Im Impressum von Clinch Nr. 3 ist seine Telefonnummer als „Kontakt“ angegeben. Er wird es wohl gemocht haben, Clinch zu machen. Das gab Stolz, so ein eigenes Heft, das man bei jedem Schritt der Produktion begleitet. Die einzelnen Seiten wurden mit Schere und Klebstoffe gestaltet. Texte aus der Schreibmaschine, collagiert mit Bildern aus Katalogen und Zeitschriften, dazu Graffiti-Fotos und Sponti-Karikaturen. Mit den fertigen Vorlagen ging’s zum Drucker, Auflage 1000. „Die Reichen macht ihr immer reicher, die Armen macht ihr fertig“ hieß ein Artikel. Überhaupt viel platte Anprangerungsrhetorik lese ich da jetzt: „Dohnanyi hat Bezirksämter besucht, da wurde für 5000 Mark gegessen.“ Dazu etwas Freiheitslyrik der Ton Steine Scherben: „Und dann hol ich mir ‚ne Waffe / da schnapp ich mir ‚nen Knüppel / Und dann fackel ich nicht mehr lang …“ Aber auch Frühversuche der Ironie: ein ausgedachtes „Interview mit der therapeutischen Modeberatungsstelle“, das eine lockere Form der Gesellschaftskritik übt. An was eigentlich, ach ja, am Modeterror.

Was Burkhard damals geschrieben hat? Blöderweise sind kaum Artikel namentlich gezeichnet. Wir machten das wie die Erwachsenen vom Spiegel, der Autor ordnet sich der Redaktion unter. Wir arbeiteten uns auch nicht an Schreibweisen und Textdetails ab, sondern eher an unserer Auffassung, wie eine Redaktion durch Themensetzungen Politik macht. Der Artikel „Manchmal auch Geiselnahme - Interview mit Bewohnern der Hafenstraße“ wäre beispielsweise in Burkhards Interesse gewesen. Darauf ist er zugesteuert. Im weiten Umfeld der Hafenstraße-Szene, zwischen linksextremistisch orientierten Anti-Imperialisten, beeinflusst von Schusswaffen-Machos und paranoiden Wichtigtuern, die den gescheiterten Hungerstreik der RAF-Häftlinge von 1989 als Grund für eine weitere Radikalisierung nahmen: Hier ist er wohl für das normale Leben - das mehr ist als nur eine mögliche Maskerade des Untergetauchten - verlorengegangen.

Der Haftbefehl besteht seit 1993, lässt mich Frank Wallenta wissen, Sprecher der Bundesanwaltschaft am Bundesgerichtshof, im Zusammenhang mit dem Sprengstoffanschlag auf einen Rohbau einer JVA in Weiterstadt bei Darmstadt. Weiterhin besteht der dringende Verdacht, Burkhard sei 1999 an einem Geldtransportüberfall in Duisburg-Rheinhausen beteiligt gewesen. Beute: 500 000 Mark. Die gesuchten RAF-Mitglieder Ernst-Volker Staub, geboren 1954, und Daniela Klette, geboren 1958, hinterließen hierbei DNS-Spuren durch Speichelreste auf Kopfbedeckungen. Auch sie sind seit 1990 untergetaucht.

Erinnern sich die anderen noch an ihn? Das sind die schönsten Anrufe: Hallo, mein Name ist … erinnerst du dich, wir kennen uns von Clinch … weißt du eigentlich, dass Burkhard Garweg jetzt ein gesuchter Terrorist ist? Keiner derer, die ich erreiche, weiß es. J. ist offensichtlich stark erkältet. Sie erinnert noch, der Burkhard hatte „zunehmend Kontakt mit den Leuten von den ,Anti-Imps‘. Das nervte. Die waren scharf darauf, Leute abzugreifen.“ Sie würde gern, kann aber nicht sprechen, die Stimme.

Anruf bei M., ihr Kind hat hohes Fieber. Die Clinch-Hefte liegen verschüttet auf dem Dachboden, erzählt sie, da müsse mal aufgeräumt werden. M. erinnert nicht, was Burkhard damals geschrieben hat. Große Reden hat er wohl nicht geschwungen. Ich starte den Versuch, diese Gesprächspartnerin mit Details aus der reißerisch anmutenden Terroristen-Vita des „dringend tatverdächtigen“ Burkhard am Telefon zu halten. Er könnte bewaffnet sein. Aha, sagt sie, aha. Wir haben doch in Clinch dauernd über zu wenig Staatsknete gemeckert, sage ich, über den fiesen Staat, der nichts rausrückt. „Die Gedankenwelt war anders“, überlegt sie. „Heute ist man viel individualisierter, kämpft für sich allein, hat kaum Forderungen an den Staat.“ Sie erklärt mir noch mal die Strukturen einzelner Politgruppen und lacht bei der plötzlichen Erinnerung, Teil davon gewesen zu sein. Sie möchte namentlich nicht genannt werden.

Das BKA veröffentlicht zum Fahndungsgesuch ein Foto, das Burkhard so zeigt, wie er damals aussah, bevor er weg war. Ein eher misslungenes Automatenbild mit verrutschtem Blick zeigt zähe Jugend, täuschende Zartheit. Die vom BKA entworfene Prognose - Burkhard, wie er heute mit 38 Jahren aussehen könnte - schmeichelt ihm nicht. Er wirkt gemein. Er verliert sein Haar. Die Augen treten leicht hervor. Er könnte auch anders aussehen. Alles könnte anders sein.

Der Terrorismusexperte und frühere Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger deutet den Duisburger Überfall von 1999 als Geldbeschaffungskriminalität; gedacht für einen Lebensabend im Versteck. Ein Jahr zuvor erklärte die RAF in einem achtseitigen, mit einem Rosa-Luxemburg-Zitat garnierten Brief ihre Auflösung: „Die Revolution sagt: Ich war, ich bin, ich werde sein.“ In einem anderen früheren Brief heißt es: „BKA-Fahndungslisten sind keine ,Mitgliedslisten‘ der RAF“. Das mag eine Finte sein. Andererseits hat sich ein mutmaßlicher Terrorist und „Anführer“ wie der Arztsohn Christoph Seidler, der durch das Aussteigerprogramm des Bundesamtes für Verfassungsschutz zurück in die Legalität kam, als Phantasieprodukt der Fahnder erwiesen, dem lediglich die Inanspruchnahme von RAF-Strukturen beim Abtauchen nachgewiesen werden konnte.

Wenn Burkhard aber doch sehr viel aktiver war, und Mitautor einer RAF-Erklärung von 1996, in der den ehemaligen RAF-Mitgliedern ausdrückliche Redeverbote gegeben werden - „Keine (scheinbar heute harmlosen) Infos über die Illegalität (…)! Weder in Form von Aussagen von entpolitisiertem Gelaber in den Medien, Anekdoten aus früheren Zeiten in Büchern oder am Tresen, oder egal in welcher Form der Selbstdarstellung!“ - dann wird er einen Artikel wie diesen hassen. Das entpolitisierte Gelaber - früher diffamierte man das noch als „weibisches Geschwätz“ - ist die eigentliche Stärke meiner Generation, die auch seine ist.

Burkhards Schwester, eine Juristin, ist erstaunt über meinen Anruf. Dieses Thema, und dann am Telefon, wie naiv. Für die Familie ist es eine enorme Belastung, sagt sie, und unterstellt Hetzjagd und Profilierungssucht. Ich versuche, ihr meine Herangehensweise, die persönliche Erinnerung, darzustellen. Er ist doch viel jünger als die anderen, die noch gesucht werden. - Ja, sagt sie. Ja, das ist er. Als wäre sie fast etwas überrascht, dass das bemerkt wird. Mehr will sie nicht sagen.

Weitere Erinnerungen: Einmal hockte die Redaktion auf der Wiese, unter den blühenden Bäumen eines stillgelegten Friedhofes, und man sprach über den „Tag X“, den so bezeichneten großen Solidaritätstag für die besetzten Häuser der Hafenstraße, und was so passiert war. Da fing Burkhard an, von einer kommenden Gewalt zu sprechen. Die sei unausweichlich, wenn die Revolution erst mal da ist. Das war überraschend für mich, so was Hartes aus diesem lockenköpfigen, eher stillen Wollpulli heraus. Das Revolutions- und Gewaltgefasel war längst abgegriffen, antiquiert und machte eher realsatirische Freude, wenn es denn noch auftauchte: wie dieser Typ von der „Vierten Internationalen“, der sich immer über einen Laden für goldene Wasserhähne und Luxuskloschüsseln erregte, der neben „Ingos Plattenkiste“ im Uni-Viertel beheimatet war. „Wenn die Revolution kommt“, sagte der todernst, „dann ist das hier der erste Laden, der enteignet wird.“ Lustig. Aber Lachen will gelernt sein, und Küssen auch: Als ich einen Clinch-Artikel über „Die neuen Muttis“ mit einer Abbildung der berühmten Auguste-Rodin-Skulptur „Der Kuss“ schmücken wollte, die einer Anzeige für Potenzmittel entnommen war, rief jemand „sexistisch!“ und erbellte sich so die Zustimmung der Runde. Der Kuss musste raus aus dem Heft.

Das Lehrverhältnis gestaltete sich so: Die Alt-Linken hatten von den jungen, wattigen Hedonisten, zu denen man dann ganz schnell mutierte, etwas Grundsätzliches zu lernen. Nicht immer nur Zerstörung und Apokalypse proklamieren! Morgens Waldsterben, mittags Apartheid, abends Atomkrieg und nachts Geschlechterkampf. Nein, Auszeit! Pause! Auch mal Shoppingnacht! Die Liste der Kulturtransfers von links nach Watte wäre lang. Ein Beispiel einer gelungenen Assimilation sei genannt: Ex-Minister Jürgen Trittin – selbst ehemaliges KB-Mitglied - legte kürzlich Platten bei der Radio-Eins-Party in der Hauptstadt auf. Es gab zwar Beschwerden, aber keine Verletzten.

Meine Generation der Unwichtigen und Vergnügten, der Lebenszugewandten, Stillen-aber-Stilvollen, hat auch eine perfide Sorte sozial verantwortungsloser Aktienhändler, Investmentbanker und Wirtschaftskrimineller hervorgebracht - und einen verschwundenen Burkhard, der Mitglied einer phantomischen dritten RAF-Gruppe oder sonstigen „Kämpfenden Einheit“ sein soll. Bei einer der letzten Clinch-Redaktionssitzungen, nach einem Familienbesuch in der Zone, schlug ich vor, einen Artikel über Jugendliche in der DDR zu machen, wie die leben, was die machen. Einer, nicht Burkhard, sagte, dann: Geh doch in die CDU, da kannst du das tun. Ich hielt den Mund und verließ die sowieso in Auflösung befindliche Clinch-Redaktion bald darauf. Plötzlich war da dieser Freund, der lieber ins Kino, zu McDonald’s und ins Bett ging als auf Latschdemos. Den Rest erledigte die Geschichte, die uns sowieso nicht dazu brauchte. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört, wusste Willy Brandt nach der Öffnung der Mauer, und meinte vielleicht nicht nur Ost und West, sondern auch links und rechts.

Do-it-yourself-Magazine blieben übrigens auch in den 1990ern ein Thema, sie hießen dann Fanzines und waren Popkultur, nannten sich Sex und Kotze, Die kleine Mechthild, Dank, Planet Pussy, Harvest. Da ging es um Alltag, Comics, Zahnbürstenvergleiche, Hongkongfilme, Konzeptkunst, Sex mit dreißig. Da konnte man schon mal vergessen, jemals eine kurze politisierte Phase erlebt zu haben. Da konnte man schon mal Burkhard Garweg vergessen, der zweiundzwanzig war, als er im Epilog der mörderischen RAF-Geschichte verschwand.

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