Im freien Raum

von 
Reportage
zuerst erschienen am 7. Juni 2008 in Frankfurter Allgemeine Zeitung

Sarah ist fünfzehn, sie ist nicht berühmt, singt nicht schön und will auch nicht schön singen. Erstaunlich viele Mädchen um sie herum heißen wie sie, deshalb sind Spitznamen so wichtig. Diese Sarah nennt sich Issi, ausgesprochen wird das wie easy. Nur easy ist da wenig, von den sogenannten Eckdaten her, die Sarah mit in die Wiege gelegt wurden. Ein Mädchen wie sie löst sich in den gängigen soziologischen Betrachtungen zu Problemstadtteilen, Problemschulen und Migrationsproblemen wie ein Stück Zucker in heißem Tee auf. Was wirklich schade wäre.

Sarah Atoui ist eine wilde Mischung. Ihre Mutter ist Polin, der Vater Libanese. Die Eltern haben vier Mädchen bekommen, die in Berlin zur Welt kamen. Sarah ist die Erstgeborene. Sie trägt sportliche Kleidung, ist schlank, sie nascht nicht und ihr immer ernstes Gesicht sagt: Nicht mal heimlich. Nur bei Brathähnchen wird sie schwach. Wenn sie könnte, sagt ihre Mutter, würde sie auch die Knochen essen. Sarah teilt das Zimmer mit einer Schwester, die ihre Wand mit Postern von Musical Highschool gepflastert hat. Sarahs Wand ist leer, nur in der Vitrine stecken zwei Votive: Bastian Schweinsteiger, Lukas Podolski. Sarah will Fußballerin in der deutschen Nationalmannschaft werden und bei der Weltmeisterschaft 2011, die in Deutschland ausgetragen wird, dabei sein. Als Spielerin natürlich. Wie sind die Chancen, dass es klappt? „Fifty-fifty“, sagt sie, „könnte klappen.“ Dazu wird ihr Trainer von SC Union 06 später noch etwas sagen. Er heißt typischerweise Helmut und betreibt in der Perleberger Straße in Berlin-Moabit einen Fußballshop. Die Perleberger ist eine herausragend hässliche Hauptverkehrsstraße und kommt im Berlin-Comic „Didi und Stulle“ einmal vor. Stulle landet in der Hölle und wundert sich, dass die Hölle aussieht wie die Perleberger, da erfährt er vom Teufel, dass die Hölle eine naturgetreue Abbildung der Perleberger ist. Aber Sarah wohnt entscheidende zehn Minuten von der Perle entfernt, im Wedding.

Sarahs jüngere Schwestern heißen Sandra, Vanessa und Nadine und sind anders als die Große, die haben was Schwirrendes, Honigsüßes an sich, tragen oft Rosa und kichern, erröten und flüstern, und es ist schon merkwürdig, dass sie nicht wie glitzernde Schmetterlinge in der Luft schweben. In der sechsköpfgen Familie wird miteinander Deutsch gesprochen, ein Deutsch, das Einwanderer sprechen, die sich redlich bemühen, darauf ein funktionierendes Familienleben aufzubauen. Sarah versteht die Sprachen, die ihre Eltern sprechen, aber sie liebt sie nicht, und sie bemerkt jetzt, dass sie gar nicht weiß, wie ihre Eltern sich kennengelernt haben. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass eine Katholikin aus Polen und ein Muslim aus dem Libanon sich in Deutschland verlieben und eine Fußballerin und drei Glitzergirls in Berlin aufziehen. Sarah verspricht, herauszufnden, wie das damals kam. Vorher muss sie zum Fußballtraining, in die Schule, um Nachhilfe bitten, um acht zu Hause sein und zeigen, dass sie alles schaffen kann. Als würde ihr nicht nur ihr Trainer nachrufen: „Wo ist denn das, was du mir immer beweisen willst? Wo ist denn das?“

Zweimal die Woche geht Sarah zum Training der B-Juniorinnen ins Alte Poststadion, Sitz von SC Union 06. Der Eingang wird eingefasst von einem Untersuchungsgefängnis und einem Plus-Supermarkt und täuscht in seiner kaputten Schlichtheit über die Weitläufgkeit des verwilderten Geländes. Der neue Hauptbahnhof ist nicht weit, Pappeln schmeicheln dem Wind, und wie das raschelt. Es gibt einige Fußballbrennpunkte in Berlin, dieser Ort ist sicher keiner. Der Verein hat keinen Jungen-Fußball, somit auch keine Buben, die ihre Schwestern anwerben könnten. Dass es hier seit vier Jahren Mädchenfußball gibt, liegt an Helmut Hoffmann. Der vierundfünfzigjährige Mann mit dem weißen Bart und federnden Gang trainierte fünfzehn Jahre Jungen, bis er per Flyer eine erste Mädchen-Mannschaft rekrutierte. Vor zwei Jahren stieß Sarah dazu. Sie kam vom Straßenfußball, „was nicht das schlechteste ist“, sagt Helmut. Erst hatte sie in einer Gurkentruppe gespielt, aber der dortige Trainer empfahl ihr bald den Wechsel.

Die Saison ist bald zu Ende, da gilt es, sich im oberen Drittel der Tabelle nicht abhängen zu lassen und zu beten, dass genug Mädchen zu den Ligaspielen erscheinen. Zur Not wird in Unterzahl gespielt. Wenn ein Mädchen öfter nicht kommt, heißt das, sie hat mehr Stress zu Hause als sonst. „Fehlende Unterstützung in der Familie“ nennt Helmut das, was man auch mit Ausdrücken wie Kloppe, Mamas neuer Freund, familiärer Alkoholismus oder Hausarrest bezeichnen könnte. Wenn Sarah als Mannschaftskapitän diese Mädchen anruft, hat sie wenig Trost und nur eine Bitte: „Kommst du Sonntag zum Spiel? Wir brauchen dich.“

Fußball ist kein Ballett, auch Mädchenfußball nicht. So ein Ball ist hart, und bereits in der Altersgruppe der B-Jugend sind viele Gegnerinnen wie Mitspielerinnen schon recht entwickelt. Sie entsprechen nicht immer den grazilen Gestalten, wie man sie aus dem Film „Kick it like Beckham“ kennt. Solche gibt es auch. Aber „derbe Weiber“ wäre ein ebenso gängiger Ausdruck für einen Teil von ihnen, „Kampflesben“ ein anderer, der, so altmodisch er ist, in der Umkleidekabine noch gerne im Mund geführt wird.

Die Mädchen stehen auf dem Feld, ziehen ihre Stutzen weit übers Knie und nennen sie Strapse. Sie bespritzen sich mit Wasser aus ihren Trinkflaschen, schreien „Meine Muschi ist nass!“ Sie stecken sich einen Ball unters Hemd und behaupten: „Ich bin schwanger!“ „Von wem denn?“, fragt Helmut müde. „Von dir natürlich!“ „Ach, das wüsste ich aber.“ Das Training beginnt. Helmut schickt eines der Mädchen ins Tor, weil sie eine Kette trägt, obwohl sie das nicht soll, und eine andere in das andere, weil sie gelacht hat. Eine Spielerin schmeißt ein Buch an den Spielfeldrand. „Sterben sollst du für dein Glück“ heißt es. Damla, die verletzungsbedingt ausfällt, hebt es auf und liest. Es geht um ein österreichisch-pakistanisches Mädchen, das von ihren Eltern nach Pakistan verschleppt wird und sich durch Flucht einer Zwangsheirat entziehen kann. „Voll geil das Buch, voll traurig“, sagt Damla nach wenigen Seiten. Außerdem weiß sie, was über Sarah in der Zeitung stehen soll: „Sie kümmert sich viel, sie tröstet, ist ein klasse Mensch.“ Auf dem Feld ist Sarah schnell, wenn auch nicht die Schnellste. Sie hat einen Blick für Situationen und macht Ansagen. In ihrem Zimmer steht der Pokal „Bester Torschütze Girls Day“, daneben der Pokal „Bester Torwart“, halten kann sie auch. Aber ganz allein wird sie ihr Ziel vom großen Fußball nicht erreichen. Die anderen müssen mitziehen. Auch Sanem, Nigi und Patti sind ehrgeizig. „Wir wollen was aus uns machen“, sagt Patti. Vielleicht reicht das. Nur nicht wieder Gurkentruppe.

Helmut hat sich schon viele Gedanken „über Mädchenfußball in diesem Umfeld“ gemacht, sogar ein Pamphlet geschrieben. Er erzählt davon, beim Kaffee in seinem Fußballshop sitzend, zwischen ungravierten Pokalen und Sportartikelkartons aus Asien. „Bei Mädchen, da stehe ich manchmal, und denke, was soll das hier? Die zieren sich wie die Zicke am Strick. Es ist nicht reinzukriegen. Das richtige Abwehrverhalten, das Stehen zum Gegner. Alles, was außerhalb der individuellen Technik liegt.“ Schmerzhaft ergreift ihn die Erinnerung an das erste Spiel seiner Mädchen, als die Hälfte nach fünf Minuten ausgewechselt werden wollte. Schwitzen, aus der Puste sein, sich im Spiel erholen und wieder anstrengen. Das waren neue Erfahrungen. So wurde ihm klar, dass er erst mal die Grundlagen von Sport einüben muss. „Was ich eigentlich nicht als meine Aufgabe ansehe.“ Auf Sarahs Traum, es in die Nationalmannschaft zu schaffen, reagiert er verschlossen. Sie brauche Zeit. Zum Auswahltrainer habe er gute Kontakte, daran wird es nicht scheitern. Der Straßenfußball, den Sarah früher mit Jungs gespielt hat, tat ihr gut. Dennoch fehlt ihr das Training der D-Jugend ab elf, zwölf Jahren. „Das wichtigste Lernalter für Sport.“ Vor kurzem hat Helmut ihr einen Trainingsplan erstellt. „Sie hält sich dran.“ Das waren sie, die vier Worte der Anerkennung.

Der Schulhof in der Pause. In der einen Ecke toupieren sich aufgedonnerte türkische Killamädschen - so der Slang - gegenseitig mit solcher Wucht die Haare, dass allein vom Zuschauen die Kopfhaut brennt. In der anderen Ecke grunzen Minimachos, dazwischen schlendern pärchenweise die geheimnisvollen Kopftuchträgerinnen. Der Fahrradständer steht komplett leer, bei über neunhundert Schülern kein einziges Rad. Die Ernst-Reuter-Oberschule, eine Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe, liegt im Brunnenviertel zwischen Mitte und Wedding, einen Steinwurf von der Mauer- Gedenkstätte der Bernauer Straße. Auf der Website ist zu erfahren, dass der Berliner Komiker Kurt Krömer hier einst beschult wurde, aber das muss zu Zeiten gewesen sein, als noch genug deutsche Kinder zusammenkamen, um im Berliner Dialekt die Witze zu pflegen. Heute stimmt die Mischung nicht mehr. Diese Schule spiegelt in ihrer Zusammensetzung nicht mehr die Gesellschaft und kann ihren Schülern keinen realistischen Eindruck von dem Leben außerhalb des Brunnenviertels geben. Zu viele Hauptschüler und zu viele Türken prägen den unterfinanzierten Ablauf der Bestimmungen, und zu wenige, die sich wie Sarah als Deutsche begreifen und etwas von dem tagtäglich anberaumten Miteinander wollen. Aber Sarah mag diese Schule, und das ist krass, wenn man eine Doppelstunde Deutsch miterlebt hat.

Sarah besucht den Kurs der „Mittelguten“ bei Frau Rosenthal. Konzentriert sitzt sie da, im Gegensatz zu vielen anderen. Die Lehrerin ist mehr Dompteuse als Pädagogin, inmitten von verbalen Störfeuern, körperlicher Unruhe und demonstrativer Verweigerung. Ein Mädchen schläft, ein Moppelchen holt belegte Brote raus, einige tigern durch den Raum. Frau Rosenthal schreibt vertikal zwei Worte an die Tafel: „Miteinander“ und „Leben“. Die Schüler sollen aus jedem Buchstaben ein neues Wort bilden, thematisch passend. Die deutlichsten Vorschläge lauten „Titten“, „Muschi“, „Nazi“, „Sex“, aber da testen sie die Lehrerin, und Frau Rosenthal besteht. „Das Wort Nazi würde ich nicht so gerne an der Tafel lesen“, sagt sie. „Und Sex? Da hast du nicht unrecht, das gehört zum Miteinanderleben, aber der Buchstabe S kommt nicht vor.“ Das Ergebnis, eine Sammlung hohler Töne.

Mutig, Intelligent, Teilen, Einzelgänger, Identität, Neuanfang, Ausländer, Neugierig, Deutschland, Erleben, Realität. Lieben, Ernst, Beieinander, Ehre, Nachbarn. Die Diskussion zur Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland kommt nicht voran. Warum lebten viele in einfachen Verhältnissen? Keine Antwort. Warum wurde ein Anwerbestopp beschlossen? Niemand sagt was. Warum bleiben viele unter sich? Endlich Meldungen. „Türken sind leicht reizbar!“ „Die machen Überfälle!“ Dazwischen sitzt Sarah, still und konzentriert. Doch wieder Gurkentruppe.

Nach der Stunde sagt die Lehrerin, und Sarah ist dabei, dass Sarah dem Kurs voraus sei, aber nur im Sinne von Zielstrebigkeit und Disziplin. Ihr Deutsch sei anfällig für Fehler, sie spreche und schreibe zu wenig, die literarische Phantasie fehle. Sarah findet oft keine Worte. Als müsse sie die Gedanken erst aus ihrem Kontrollgriff entlassen. Sie holt ein Heft hervor, in dem es viel zu korrigieren gab. Ausgerechnet „Bannanen“. Sie hat keinen spielerischen Umgang mit der Sprache, wie er sich bei einigen Störern zeigt, wenn sie sekundenschnell und mit Mutterwitz Sprachmängel anderer entblößen: „Wer ist dein Gelehrer? Wer ist dein Gelehrer?“ Nun vereinbart sie mit der Lehrerin Zusatzaufgaben, um aufzuholen, was versäumt wurde: Ihr Deutsch auf den Stand ihrer Intelligenz und Möglichkeiten zu bringen. Sarah will Abitur machen und Polizistin werden. Sie muss in den besseren Kurs aufsteigen. Die Lehrerin macht eine Notiz, sie sagt, sie „kann nichts versprechen, es aber ernsthaft erwägen“. Trainer Helmut hat ja was Ähnliches gesagt. Es ist das Pingpong der Hoffnungen, Erwägungen und nicht gemachten Versprechungen. Dazwischen steht Sarah und versucht vom Fleck zu kommen.

Sie hat noch Zeit, sie ist erst in der achten Klasse. Nach den Sommerferien fängt der Französisch-Unterricht an und damit eine weitere Sprache, die sie neben Deutsch, Polnisch, Englisch, Arabisch und Wedding-Türkisch lernen wird. Vorausgesetzt, dass weniger Mitschüler den Unterricht sabotieren. Sarah kennt Kurt Krömer, den Schulabbrecher, zwar nicht, aber er hat einen interessanten Satz auf seine Homepage gepackt: „Ich komme aus dem Wedding, da muss man nichts lernen, da ist man einfach so, wie man ist.“ Aber wenn man eine Kraft in sich findet, die verändern will, dann ist das Leben nicht nur komisch. Dieses Mädchen lacht wenig, ist ernst und angehalten. Sarah geht zweimal in der Woche als Streitschlichterin über den Schulhof Streife. Streithähne führt sie in den Schlichtungsraum. Da gelten Regeln. Aussprechen lassen, keine Schimpfwörter. Die Techniken hat sie von der Schul-Mediatorin gelernt: 1.Spiegeln, sich in jemanden hineinversetzen, die Situation aus deren Sicht formulieren. 2. Fragen stellen. Das soll helfen. Es klingt, als würde ein Teil ihrer späteren Polizeiarbeit vorweggenommen. Nicht ganz abwegig, dass Sarah, sollte sie eines Tages Berliner Polizistin sein, einigen Mitschülern wieder begegnen wird. Außerdem trainiert Sarah einmal in der Woche Schülerinnen im Fußball. Lehrer fanden sich nicht dafür, also hat sie es gemacht und bekommt vom Hausmeister sogar den Schlüssel der Turnhalle, den kriegt sonst niemand.

„Meine Sarah“, schwärmt der Rektor Uwe Schurmann. „Sie meinen doch meine Sarah, die die kleinen Mädchen trainiert?“ Ja, wenn alle Schüler wie Sarah wären, dann wäre die Brunnenviertel-Welt des Rektors ein Schaumbad. Ja, wenn wir alle Engel wären, dann wäre die Welt nur halb so schön, heißt es im Schlager von Fred Sonnenschein alias Frank Zander, auch so ein typischer Komiker aus Berlin, der weiß, dass sonst eigentlich die armen Sünder die beliebteren Helden sind.

Es gibt eine Frau hier, die erkennt, dass die vorbildliche Sarah keinen leichten Weg geht. Es ist die Klassenlehrerin Frau Krohn, eine elegante Frau, der gegenüber die Schüler etwas zahmer auftreten. „Sarah muss viel aushalten, weil sie Sportlerin ist. Die Jungs hier sind sehr intolerant. Sarah wird als männlich beschimpft, als Konkurrentin gesehen. Denn Sarah kichert nicht. Aber die Mädchen respektieren sie sehr. Sarah ist wirklich ein Mittler zwischen den Kulturen. Ich sage immer, sie ist meine Jeanne d’Arc.“ Aber die hatte nicht das beste Ende. „Wir sind nicht mehr im Mittelalter“, sagt Krohn. „Einige zivilisatorische Fortschritte hat es gegeben.“

Die Lehrerin hat recht, wie Sarahs Eltern sich kennengelernt haben, ist so ein zivilisatorischer Fortschritt. Und hier ist die Geschichte: Es begann in einer West-Berliner Kneipe, kurz bevor die Mauer fiel. Sarahs Mutter wollte dort zuerst nicht hineingehen, weil es eine Araber-Kneipe war, aber ihre Freundin bestand darauf. „Au weia, nur Araber! Mit Arabern will ich nichts zu tun haben, das sind Verbrecher“, erinnert sie sich. Dann sah sie plötzlich diesen Mann hinter der Theke stehen, den Mann, der Sarahs Papa wurde. „Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Erst Angst und Vorurteil, dann Überwindung, schließlich Liebe. Daraus also ist Sarah gemacht, diese Botschafterin für den Schmelztiegel Berlin.