Ohren auf, Kopf zu
An einem Nachmittag auf einer Berliner Straße: Man beobachtet zufällig eine Gruppe Busreisender, die von ihrem auffälligen Reiseleiter, einer transvestitischen Erscheinung in pinkem Rock-Kostüm und mit Betonfrisur, auf das Fenster eines Mietshauses aufmerksam gemacht wird. Es handelt sich um ein Fenstergardinen-Arrangement, traurig anmutende Lichtschlucker, weißgrau gerafft, vermutlich aus den 1960ern. Die Leute lachen, zücken die Kameras, fotografieren die Fenster und sich selbst vor diesen. Sie machen sich über die kleinbürgerliche Wohnkultur lustig. Oder ist das schon Slumming - Urlaub in anderer Leute Elend? Man befindet sich immerhin in einem Stadtteil sozialer Randlage. Schon steigt die Gruppe wieder in den Bus, auf dem der Slogan „Lachen im Bus“ prangt, und fährt weiter.
Grund genug, sofort drei Comedy-Bustouren bei der Firma Schröder Busreisen zu buchen, die wöchentliche Exkursionen durch die Stadtteile Neukölln, Mitte oder Moabit anbietet. Comedy-Bustouren gibt es von diversen Veranstaltern auch in Köln, München und Düsseldorf. Sie sind eine Gelegenheit für Kleinkünstler, vor Live-Publikum ihre Einnahmesituation aufzubessern, und für Touristen, Betriebsfeiern und Grüppchen, sich während einer knapp zweistündigen Fahrt feuchtfröhlich einzuschunkeln. Die Touren versprechen eine unterhaltsame Art der Stadterfahrung, nehmen die Welt außerhalb des Busses nicht so ernst, sind eher der Stimmung verpflichtet. Soweit die Theorie. Interessant aber ist, wie die Stadt Berlin dabei als Abbild deutscher Geschichte und Gegenwart herhalten muss.
Um es vorweg zu nehmen: Sie wird jeder Tatsächlichkeit beraubt und fungiert nur noch als psychedelische Reizattrappe. Das amüsanteste Reiz-Reaktionsspiel findet am Brandenburger Tor statt. Der Komödiant Michael Sens, ganz auf André-Rieu gestylt, spricht über den verstorbenen Michael Jackson, erinnert daran, dass der irgendwann mal sein Baby aus dem Hotelfenster des Adlon hielt, und spielt das Lied „Smooth Criminal“, auf der Geige. Das ist ein grosser Moment. Aber ein seltener. Die Busreisenden bekommen ansonsten die Rolle der Provinzdeppen zugeschustert, die vermeintlich nichts anderes im Hirn haben als: Berlin, Stadt der Türken. Berlin, wo der Mann mit dem Oberlippenbart viel kaputt gemacht hat. Berlin, arm und sexy, aber auch ganz schön asozial. Das wird von den Comedians natürlich in hoch ironischer Rede vorgetragen und vollendet selbsterniedrigend zelebriert. Klingt lustig? Na, dann kommen Sie mal mit.
Treffpunkt ist vor der Sparkasse am Nollendorfplatz, hier sammelt der stets ausgebuchte Bus seine Fahrgäste auf, viele Fünfzig Plus, einige Herren bereits mit Caipirinia am Vorglühen. Zwei in tiefrosa Hosen steckende Mitarbeiter übergeben beim Einstieg Halsband-Boardingpässe, auf denen im Laufe der Fahrt der Getränkeverzehr eingestanzt wird. Die Löcher stanzende Stewardess wird vom ihrem Kollegen als Praktikantin tituliert, die sich ein letztes Mal zu bewähren habe, sonst drohe ihr das Flatrate-Bordell. Die Crew bezaubert mit Witzen über die Bordtoilette, die weder fürs große noch fürs kleine Geschäft gebrauchstüchtig sei. Eine Pinkelpause wird in Aussicht gestellt, Prosecco sowie Berliner Schultheiß ausgeschenkt dessen unerfrischendes Abgestandenheitsaroma authentisch berlinerisch und irgendwie auch wieder lecker ist und so rollt der Bus erwartungsgeladen einem Entertainer entgegen, der „zu Berlins absoluter D-Prominenz“ gehört und an einer Kreuzung aufgelesen wird.
So unterschiedlich die diversen Komiker ihre Rollen und Stadtteil-Touren anlegt haben ob man mit der Berlinernden Schreckschraube Moabit besucht, mit dem diabolischen Geiger Mitte oder mit der singenden Kneipenwirtin Neukölln die Warm-ups sind alle identisch: „Ist hier jemand aus dem Ausland dabei? Ich meine, Bayern, Österreich? Woher kommen Sie? Was sind Sie von Beruf?“ Die im Publikum vertretenen Bundesländer und Berufsgruppen melden sich, und der Comedian bekommt Gelegenheit für Dialekt-Imitationen und Beamtenwitze. Bis auf einen Australier waren bei allen miterlebten Fahrten nur Urdeutsche im Bus. Der Australier wurde auch gleich gefragt, ob der Islam in seiner Heimat auch auf dem Vormarsch sei. Seine Antwort ging im Gelächter leider unter. Das Inkognito der Reporterin flog übrigens schon bei der zweiten Tour auf, da sie zu oft den Notizblock zückte. Der Veranstalter Lutz Petrick, Artist und Animateur von Beruf, will wissen, was das soll. Dass es jemand von der Zeitung ist, beruhigt ihn. Kürzlich sei ein konkurrierender Comedian mitgefahren, der habe alle Gags mitgeschrieben. „Aber ich könnte doch viel schlimmer - alle Gags in der Zeitung veröffentlichen?“ Lutz Petrick lächelt mild. Glaubt er wohl nicht.
Bei der Parallelwelt-Safari sind einige Fahrgäste schon zum zweiten Mal dabei. Jutta Hartmann moderiert, das ist ein junger Mann mit Spandex-Leggins, Busenattrappe, Modeschmuck und Lockenperücke, und er ist im Hause Schröder Busreisen wohl das größte Talent. Seine Jutta schmeißt, den engen Busgang entlang tanzend, die Beine Richtung Decke und singt die Bus-Hymne: „Von Neukölln bis Marzahn, von Anfang bis Schluss, lachen wir uns Berlin heute schön!“ Eine Männergruppe aus dem Sauerland ist so animiert, dass sie Runde um Runde bestellt. „So Männer, jetzt will ich ein Dankeschön hören, dass ich euch das ermöglicht habe“, ruft ein Sauerländer seinen Kumpels zu. „Danke für nichts!“ brüllen sie dem edlen Spender entgegen.
Jutta verspricht uns die drei Ks von Neukölln: „Kampfhunde, Kopftücher, Kewalt!“ Das bleibt leider ein leeres Versprechen. Neuköllner Boden wird nur ein einziges Mal kurz betreten. Wenige Meter vor dem Ortsschild steigen wir aus, stellen uns in Reih und Glied und passieren die Grenze. Zur Belohnung für den Todesmut gibt’s Fudschi aufs Haus, eine Mischung aus Chantré-Weinbrand und Rivercola. „Damit können Sie Türen abbeizen!“ ruft Jutta. Dieser Vermutung ist leider zuzustimmen. Die eigentliche Fahrt durch den umstrittenen Stadtteil ist denkbar kurz und findet in der hereinbrechenden Dunkelheit statt. Während der Bus an einer großen Moschee vorbeirauscht, erzählt Jutta Hartmann, dass Tom Cruise wieder in der Stadt ist um „Stauffenberg Returns“ zu drehen. „Diesmal mit zwei Augenklappen.“ Die Leute brüllen. Juttas Witz über Salafisten und Berliner Polizisten funktioniert auch, aber Tom Cruise ist der Hit. Jutta macht auf herumlungernde Männer am Hermannplatz aufmerksam, den Drogenumschlag in der Hasenheide, auf Kneipen mit Namen wie „Alptraum II“ und „Gießkanne“, riesige Kik-Läden und türkische Möbelgeschäfte. „Hier können Sie sich einen Couchtisch zu zehn Euro für 24 Monate finanzieren lassen.“
Und das war wirklich merkwürdig: Türkenwitze gehörten bei jeder Tour essentiell zum Programm. Nicht Türkenwitze wie die von Bülent Ceylan oder Kaya Yanar, wo man gemeinsam über die Klischees der Kulturen lacht. Bei der Comedy-Tour durch Mitte, mit dem André-Rieu-Imitator, sind sie unterirdisch. „Schauen Sie mal links, ein türkischer Taxifahrer.“ Man muss ihm allerdings lassen, sein Publikum findet das lustig. Als wir an einem eingeführten, richtig guten türkischen Fischrestaurant vorbeifahren, sagte er: „Wenn Sie hier essen, können Sie anschließend garantiert gleich ins Krankenhaus.“ Deshalb ist es wirklich tragisch, dass dem Publikum nicht einmal der Toilettengang in Neukölln zugemutet wird. Zur Pinkelpause steuert der Bus ein Hotel in Treptow an, wo die Klobrillen blitzblank sind. Auf dem Weg dorthin singt Jutta den ollen Schlager von Henry Valentino & Uschi in neuer Version: „Im Wagen vor mir sitzt ein süßer Türke“. Die Sauerländer machen ein verdutztes Gesicht, als wäre das Wort „süß“ im Zusammenhang mit „Türke“ besonders schwer verdaulich, aber Jutta zieht alle Strophen durch, bis „Bye, bye du süßer Türke, ratt-da, ratt-da, ra-da-da-dada“.
Doch Juttas Hartmanns fröhliche, aber diffuse Multikulti-Botschaft verfängt nicht.
Die Fraternisierung zwischen provinziellem Spießertum und schwul-transvestitischer Subkultur, die hier zum Tragen kommt, hat System. Ihre Botschaft lautet: Wer das Schrille, Rosafarbene, Tuntige annimmt, kann kein schlechter Mensch und kein Rassist sein. Ein fadenscheiniger Tauschhandel. Ein Humor, der auf einem einseitigen Friedensangebot beruht, hat letztlich etwas Verlogenes.
Die absurdeste Erfahrung im Comedy-Bus war die Besichtigung eines ehemaligen Zellengefängnisses. Da wurde bewiesen, allerdings ohne Beweisnot, wie unvereinbar Spaß-Event und deutsche Geschichte sind. Die Kabarettistin Jundula Deubel, eine Zotendrescherin in Berliner Dialekt, führt uns in den „Geschichtspark ehemaliges Zellengefängnis Moabit“, der sich hinter hohen Mauern gegenüber vom Hauptbahnhof befindet. Dieser Park wurde angelegt, damit man sich kontemplativ über diesen ehemals gewalttätigen Ort informieren kann: Preußische Internierungspraxis, Nazi-Morde an politischen Gefangenen. Jundula namedropped den Hauptmann von Köpenick, der hier, als er noch kein verfilmter Heinz Rühmann war, eingesessen hat. Doch Bildungsmüll jetzt beiseite, man schreitet zur Tat: Alle betreten die Zellen-Installation, einen winzigen Raum, der Not und Enge vermitteln will. Die ganze Busladung steht eng zusammen, streckt beide Hände gen Himmel und singt das Volkslied: „Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder“. Wieso dieses Lied? Weil der Sommer vorbei ist, sagt Jundula, und das Wort Sommer drin vorkommt. Aber schön beide Arme heben, ruft sie, denn eine einzige Hand heben ist Nazi.
Danach gibt’s Fudschi, das schlimme Mischgetränk, und wir sprechen Jundulas Trinkspruch: Zur Mitte, zur Titte, zur Musch, husch husch.
Das Bittere ist nicht, dass eine Komikerin sowas durchzieht. Das Bittere ist, das es sich anfühlt, als wäre das total normal, total egal. Niemand aus der Gruppe stößt sich daran, denn der spezifische Ort kommt erst gar nicht zu Bewusstsein. Aber wieso besuchen sie ihn dann überhaupt? Wenn man das konsequent weiterdenkt, steht dem Berliner Tourismus bald Eierlauf durch die Topographie des Terrors bevor. Sackhüpfen im Holocaust-Mahnmal. Migranten füttern im Hartz-IV-Park. Weil es ein Publikum gibt, das dafür Geld zahlen würde.
Doch dann ist plötzlich alles wieder gut: Die Fernsehkomiker Joko und Klaas von ZDF neoParadise steigen als Überraschungsgäste zu, der eine mit schwarzer Hipster-Brille, der andere mit Bart, und sie haben ihr Kamerateam mitgebracht. Die Fahrgäste sollen zustimmen, dass sie mit der Ausstrahlung einverstanden sind, oder die Zustimmung ausdrücklich verweigern. Aber alle freuen sich darauf, bald im Fernsehen zu sein, doch sie freuen sich zu früh. Joko setzt sich in die letzte Reihe und isst Popcorn aus einem XL-Eimer. Klaas nimmt das Mikro in die Hand und legt sofort los: „Sind Ossis an Bord? Na, dann kennen Sie ja die Stadt, zumindest die Hälfte.“ Die Stimmung gefriert augenblicklich. Klaas sagt, er will sich nun mehr Mühe geben, und Dialekte und Sprachfehler einflechten. „Weil das sind Sie ja gewohnt, über Dialekte und Sprachfehler zu lachen.“ Joko schreit spitz auf. „Ich find’s nur lustig, wenn nur ich lachen darf“, kreischt er in die Todesstille hinein. Klaas zieht die Zyniker-Masche noch einige Minuten durch, wir fahren dabei an der Siegessäule und am Bundestag vorbei, niemand gibt mehr einen Pieps. „Dass der Hitler die Mauer gebaut hat, ist gegen jede Regel. Ist Ihnen aufgefallen, dass die Siegessäule wie ein Pimmel aussieht? Wir Berliner nennen Sie auch die Pimmelsäule. Und hier im Bundestag arbeitet Herr Rösler, Ping-Pong, ist aber nicht rassistisch gemeint.“ Joko und Klaas haben sofort gewusst, welcher Esel hier geküsst wird. Sie demonstrieren auf eine das Publikum gezielt beleidigende Weise, was es letztlich bedeutet, wenn man die Welt außerhalb des Busses nicht mehr verstehen will. Was Joko und Klaas wiederum für ihre eigenen Kalauer ausbeuten. Später in ihrer Sendung zeigen sie die enttäuschten Gesichter trauriger Comedy-Busreisender, denen dämmert, dass sie gerade verarscht werden. Als sie den Bus verlassen, rufen alle „Hurra, sie sind weg!“