Anpfiff

von 
Reportage
zuerst erschienen im April 1995 im jetzt-Magazin

„Unsere Talente sind alles Wohlstandsjünglinge”, sprach Berti Vogts, als die WM verspielt war. Harald Huber und Timo Rost, beide in der U16-Nationalmannschaft, verstehen nicht, was der Bundestrainer damit meint.

Von einem gewissen Zeitpunkt an, und das heißt ganz genau: von jetzt an, reicht es einfach. Der Punkt ist erreicht, an dem man nicht mehr zuhören kann, wenn ein ganzes Volk der gleichen Meinung ist. Ob nun reich oder arm, blöd oder doof, Bayer oder Hamburger, Frau oder Mann – alle, wirklich alle, sind sich darin einig, daß die Generation der 15- bis 25-jährigen von einer historisch beispiellosen Grundsatzfaulheit durchzogen ist. Verfressen, verweichlicht, verdummt, verstummt und geldgeil. Obwohl: Geil ja auch wieder nicht, weil das ja nur wieder Aktion nach sich ziehen müßte; also geldgesättigt. Geldblöd.

Rundherum prall und labbrig und widerlich glatt. „Schau dir nur die Fußballer an”, kocht die Volksseele, „diese sogenannten Profis!” An jedem Stammtisch, an jedem Tresen dasselbe Gespräch. „Und in dem Punkt hat sogar Berti recht”, glüht sie weiter, die Volksseele. „Die Jugend ist faul und fett und undankbar.”

Und genauso spiele sie dann. Das Berufsbild des Bundesligafußballspielers werde vertreten von blutleeren Wohlstandsjünglingen, denen der Moment des Rausches und der samstäglichen Ekstase ziemlich schnuppe sei.

Was wird dann erst in Zukunft passieren, wenn die ganz Jungen rankommen, also die, die heute 15, 16 sind? Wird dann konsequent nur noch Standfußball betrieben? Mit Frittenbude gleich neben dem Torwartnetz…

„Alle, die uns als faul bezeichnen, können ja mal eine Woche unser Training mitmachen”, kommt es kurz und knapp; zusätzlich verdreht Timo Rost noch die Augen. Kein angenehmer Eindruck. Muß man aber durchstehen, ich bin schließlich seinetwegen eingedrungen in die Brutstätte fußballerischer Zukunft, in die Nationalmannschaft der Unter-16jährigen. Ich durchstreife ihr Trainingslager, kurz vor der Europameisterschaft, auf der Suche nach der Faulheit von Morgen. Auf der Suche nach der Wahrheit beim Stammtisch.

„Alle, die so etwas behaupten, wissen überhaupt nicht, wovon sie reden.” Harald Huber weiß es. Wie Timo trägt er ein richtiges Nationalmannschaftstrikot und einen Nationalmannschaftstrainingsanzug, antwortet genauso gezielt und sicher, und zusammen mit der Mannschaft essen sie anschließend frisch zubereitete Sportlernahrung und trinken Gesundheitsbrühe.

Timo ist Spielführer und Mittelfeldspieler Beim 1. FC Nürnberg, Nachwuchs-Netzer, mit kurzen blonden Haaren und Ohrring. Harald ist Torwart bei Bayern München, schwarzhaarig und ein Beau.

Timo ist dafür zuständig, die spielentscheidenden Pässe zu schlagen, die in den berühmten freien Raum hinein, die immer von so einem tiefen Raunen des Publikums begleitet werden. Oder Bälle so über die gegnerische Abwehr hinweg zu lupfen, daß sie ein Spiel zum Kippen bringen, wie man so schön sagt. Genauso sitzt er mir auch gegenüber. Dribbelt mit den Fingern auf der Tischplatte, umkurvt elegant Pfefferstreuer und Salzglas, wenn er spricht und argumentiert, immer in Bereitschaft, immer ein Blick für den freistehenden Mann. Und unbedingt siegessicher.

Harald hütet die Torlinie. Er strahlt schon diese Ruhe aus, die ein Torwart auszustrahlen hat, als Fels in der Brandung, wie es so schön heißt, wenn es im Strafraum drunter und drüber geht. Also nur dann zugreifen, wenn es brenzlig ist, schnell am Boden liegen, wenn ein Spannschuß kracht. Harald sitzt aufrecht, ruhig, und wenn wirklich eine ungestüme Reporterfrage frech auf ihn zuhastet, verkürzt er geschickt den Winkel.

Harald und Timo taktieren nicht. „Wir sind Sportler.” Beide nicken. Jeder Satz ein Zweikampf. Manchmal elegant wie ein Ballettsprung, manchmal brutal und nur dem Sieg verpflichtet. Aber niemals unfair. Die beiden sind Vorzeigeprofis in Wartestellung.

Draußen vor der Sportschule steht ein funktionstüchtiger Nationalmannschaftsbus nebst Betreuern, und irgendwo wartet auch ein Muskelmasseur, und dann gibt es natürlich einen Trainer. Genauso wie bei den Großen. Bei den Kleinen hat er allerdings einen richtigen Namen, ohne Koseform und Tiervergleich, Bernd Stöber. Der kleine Trainer weiß seinen Job im verborgenen zu schätzen. Ohne Reporterguillotine. In gewisser Weise ist er eher Vater als Spieltaktiker und beauftragt, immer wieder Gewichte an die Füße zu schmieden. Damit seine Sprößlinge nicht davonfliegen.

„Man kann nicht sagen, was aus diesem Jahrgang wird”, lächelt der Bundestrainer, der solche Fragen kennt, aber erst recht DIESE Frage: „Man darf schließlich nie vergessen, daß sie noch in der Entwicklung sind.”

Dem stimmen auch Harald und Timo später bereitwillig zu, und dann sagen sie, daß sie gerne mal wissen möchten, wer diesen Unfug eigentlich als erster in die Welt gesetzt habe. Von der Faulheit. Von der besonderen Faulheit der Fußballer. Der JUNGEN Fußballer!

„Wenn die Nationalhymne gespielt wird, dann zählt für mich nur noch das Spiel und daß ich eine gute Leistung für Deutschland bringen möchte!” Timo wird richtig grantig. Er dribbelt wieder mit den Fingern, diesmal um den Aschenbecher herum, und man möchte ihm jetzt nicht als Verteidiger im Wege stehen, vermutlich schiebt er einem noch den Ball durch die Beine. So schießt er einen Krümel von der Tischplatte.

Und er erzählt, wie er mit 15 zu seinem ersten Länderspieleinsatz in Berlin eintraf. „Ich hab‘ mich darüber gefreut und fand es eine tolle Auszeichnung, aber als ich dann rausging auf den Platz und 60000 Zuschauer dasaßen, habe ich ganz schön weiche Knie bekommen.” 60000, die jeden Ballkontakt beobachten und kommentieren, auch wenn es nur Schülerzuschauer waren mit Freikarten. Das ist schon was anderes, als samstags in der Provinz für die Tabelle zu kicken: plötzlich strahlt Flutlicht und es wirbeln Flaggen, Fahnen, und plötzlich drehen 60000 Zuschauer ihren Kopf in Richtung des gescheckten Lederballs. Nur dieser kleine Ball ist dann noch wichtig, vor allem dessen Laufrichtung auf dem grünen Rasen. „Da muß man erst mal durch”, nicken beide und schauen auf die braune Tischplatte. Und nicken.

Dabei fällt zum ersten Mal dieses Wort, das eine zentrale Bedeutung bekommen wird in unserem Nach- und Weiterdenken: DRUCK. Ein kleines Wort nur, hat lediglich einen Buchstaben mehr als GELD, aber zum Thema GELD kommen noch lächelnde und verspielte Antworten von Timo und Harald – beim DRUCK aber hört der Spaß auf. Dann sind sie auch nicht mehr 16.

„Bei jedem Spieler ist das so”, sagt Timo und hebt die Schultern, bereit für jede Herausforderung, bereit zum Ernst. Harald fügt ein, daß man schließlich nicht einfach so zum Nationalspieler werden kann. Harald kann noch lächeln dabei, obwohl DRUCK auch für ihn nicht zum Spaßen ist. „Man muß schon was dafür tun!” Heißt: Leistung bringen, Einsatz bringen, laufen, rennen, aufpassen, diszipliniert schlafen gehen, diszipliniert aufstehen; kein Alkohol, kein Lotterleben, kein Ausrasten.

Strenggenommen heißt DRUCK, damit fertig zu werden, daß die Spielbeobachter der Bundesligavereine am Spielfeldrand herumlungern. Die Geldkofferträger. Die erst wirklich Zukunft ermöglichen. „Und wenn die Leistung nicht mehr da ist, dann fliegt man raus.” Beide nicken. In den entscheidenden Fragen sind sie sich sowieso einig.

Sie sind nicht elf Freunde, wie so nett besungen und beschworen, aber alle elf sind eingeweiht. Tief in ihrem Innern wissen sie, daß sie in dieser Mannschaft nicht mehr lange zusammenspielen werden. Nächstes Jahr wird es Ernst… Spätestens nächstes Jahr unterschreiben sie Vorverträge für die Bundesliga… Nächstes Jahr gibt es auch eine andere Nationalmannschaft… Jetzt rausfliegen bedeutet: weggeschoben werden aus der starren Blickrichtung der Spielbeobachter. DRUCK. Solche Männer schauen nämlich niemals hinter sich, sondern immer nur nach vorne: auf das Spielfeld. Hinter der Seitenlinie ist keine Zukunft. Kein Geld, keine Reporter, keine Autogramme, keine Fernsehübertragung, kein Eigenheim. „Und das spürt man in der Mannschaft.”

Es ist eben so, daß man vor Mikrophonen zusammentrifft und über den notwendigen Einsatz spricht, so wie es im Sommer meist wärmer ist als im Winter. Natürlich eben. Abgeklärt. „Man muß die richtige Einstellung mitbringen. Ohne die geht es nicht.” Timo ballt dabei seine Hände zusammen, als habe er sich beim Training noch nicht genügend eingestellt und wolle jetzt gleich am liebsten weiterspielen. Um allen zu zeigen, wer der beste Nachwuchsspieler Deutschlands ist. Das spürt man, das soll man sogar spüren. WILLE. Obwohl sie beide dabei lächeln, gleichzeitig.

Dieses Lächeln ist das einzige, das noch ihrem Alter entspricht. Sie wirken so alt. Wie zwischengeparkt. Weit weit entfernt vom 16. Lebensjahr. Vielleicht noch im Personalausweis und irgendwie pro forma für die Schule – aber biologisch, geistig schweben sie über der Zeit. „Das liegt am Reisen”, versucht Timo zu erklären, „und weil man schon früh gelernt hat, Verantwortung zu übernehmen.”

Man kann sich genau vorstellen, wie dieser 16-Jährige routiniert und kosmopolitisch durch die Zollkontrollen der Welt schreitet und unter Jetlag leidet. Kurz mit dem Steuerberater verhandelt. Kurz mit dem Rechtsanwalt scherzt, wegen Vertragsklauseln. Kurz mit dem Vermögensberater schimpft, bezüglich Eigenheim.

Es ist so unglaublich schwer, sich vorzustellen, daß Timo noch jeden Tag zur Realschule geht. Auf Holzbänken sitzt, Hausaufgaben schreibt. Und vielleicht noch mit lautem Fingerschnipsen in der Mathestunde um eine Antwort bittet, während irgendwo in den hinteren Bänken Poster getauscht werden und Partyadressen, über MTV getuschelt wird und über hautfreundliche Aknesalben. „Es macht Spaß zur Schule zu gehen”, ergänzt Harald. „Man redet inzwischen anders mit den Lehrern.”

Langsam glaube ich, daß der wirkliche Grund für ihre Alterslosigkeit etwas anderes ist, etwas Elektrisierendes, um das man sie beneiden muß, und das vielleicht nur wenigen vergönnt ist: sie halten ihr Schicksal in Händen. Mit 16! Also verformten sich eben ihre Hände zu Zangenwerkzeugen, mit denen sie an die Geschichte andocken können, also in den großen Fluß der Schicksale und Kräfte. Sich am eigenen Schopf aus allem Alltagsschlamassel ziehen zu können: mit 16. Alles, wirklich alles erreichen zu können: Millionär sein, Held sein, Star sein, Vorbild. Oder auch: Versager, vergessen, verletzt. Dank eines kleinen Lederballs, und ein wenig Disziplin. Ein wenig Glück.

Sie wissen das. Sie warten auf ihre Chance. Geduldig, berechnend.

Denn es geht nur um diesen winzigen Millimeterschritt, der sie plötzlich hinausschnellt in die Öffentlichkeit. Fußballer und ihre Fußballerwehwehchen dirigieren dort unsere Tagespresse. „Ich möchte nach oben.” Fußballer sind oben. Timo schließt die Augen. Dieser kleine Schubs, der ihn trennt zwischen Zeitungsblättern und Zeitungsfüllen, zwischen Interviews lesen oder Interviews geben. Oben mitspielen. „Du schaffst es bloß durch Disziplin. Es muß eine geschlossene Mannschaft geben, die auch diszipliniert ist. Jeder muß für jeden da sein.”

Noch tanzen sie nur zwischen den Zeilen. Aber bald schon wollen, werden, müssen sie da raustreten. Und sie wollen. Sie werden. „Man darf nur nichts übertreiben”. Harald fährt sich durch die schwarzen Haare, um anzuzeigen, daß es auch noch andere Dinge im Leben gibt. „Wir sind schließlich keine Monster”, lacht Timo und zählt alles auf, was man in einer Großstadt alles anfangen kann. Mädchen treffen, Bier trinken. Discotheken. Nur nicht vor einem Spiel. Und nicht zu lange. Und nicht zu viel.

Solche Einschränkungen führen dazu, daß beide so abgebrüht wirken. Vielleicht sogar angepaßt, wie man ihnen manchmal vorwirft. Obwohl sie auch so sympathisch sind, daß man sie alle der Reihe nach unter persönlichen Schutz stellen möchte. Angepaßt?

„Ich will es einfach schaffen.” Timo nickt. Harald schaut ihn an. Diese Jungs WISSEN, was dabei herauskommt, wenn sie durchhalten. ALLES nämlich, und dafür wollen sie auch alles geben und verstehen nicht dieses merkwürdige Volksgenöle bezüglich seelenlosem Roboterfußball. „Natürlich geht es um Gefühle beim Spiel. Viele Profis geben sich ein wenig zu professionell.” Sie antworten immer das Richtige. Wenn man kurz davorsteht, den entscheidenden Schritt nach vorne zu schreiten, dann macht man keine Experimente mehr. Dann versteht man nicht unbedingt, was es noch zu fragen gibt. Es ist doch alles klar, nämlich LEISTUNG BRINGEN, nicht auffallen, durchhalten. Wenn man kurz davorsteht, ein anderer, ein wirklicher Mensch zu werden. Ihr Lächeln ist echt dabei.

„Es darf nur nicht zu einer Verletzung kommen.” Timo kennt diesen Zustand genau und sein Lächeln verliert sich ziemlich schnell. Sechs Monate hat er einmal brachgelegen mit all diesen leistungsbereiten Sehnen und Fasern und Muskeln, ohne daß es sein Verschulden war. Gerade diese hochgezüchteten Leistungskörper sind anfällig für kleine Verschiebungen und Risse und Zufälle. Sechs Monate tot. Timo ist herumgehumpelt, im Haus seiner Eltern, und hat sie zum Dank noch angemacht. Die ganze Ausgeglichenheit und Fröhlichkeit war mit einem Tag verschwunden. Statt dessen nistete sich Verzweiflung und Melancholie in den Sportlerkörper. Angst. „Eine Verletzung ist das Schlimmste.”

„Man darf keine Angst davor haben”, sagt Harald und schüttelt die Schultern. Es ist wohl besser, nicht darüber nachzudenken, was ein Ausfall für Folgen haben könnte, so kurz davor, all das erreichen zu können, was sich ein Mensch des ausgehenden 20. Jahrhunderts als Alles vorstellt – und dann zu versagen.

„Mein Ziel ist es Profi zu werden, ganz klar.” Aber wo ist die Faulheit geblieben?

Timo kennt sie nicht, Harald lächelt darüber. Also läuft alles darauf hinaus, daß sie erst später einsetzt, die Faulheit. Wie ein Virus. So, als ob erst die Bundesliga Saft absaugt. Die wohl schon lange keine Vereinigung von Spielern, sondern vielmehr von Gespielen ist. Von alleingelassenen Fußabtretern für ein orientierungsloses Fernsehvolk. Beäugt, bewertet, beneidet; verachtet. Und als solche saugt sie ordentlich Saft ab, die Bundesliga. Als Ersatzfrontgraben. Und duldet nicht das geringste Aufmucken, erst recht nicht von 16jährigen. Sonst spuckt sie die nämlich wieder weit, weit in die Anonymität zurück.

Zu solch verstiegenen Dingen mag sich Trainer Bernd Stöber nicht äußern. „In Zukunft wird es ein ganz anderes Problem geben”, bringt er uns langsam zurück auf die Erde. „Es gibt ein gewisses Desinteresse an Bewegung. Wir erleben schon auf unterster Ebene, daß viele Kinder stark verminderte Bewegungserfahrung haben. Sie laufen als Kinder nicht mehr wild herum und kennen keine Bolzplätze mehr. Wie sollen daraus in Zukunft gute Fußballer werden?”