Wahrsager

von 
Reportage
zuerst erschienen im März 1996 im jetzt-Magazin
Kleine Lügen sind einfach und erleichtern das Leben. jetzt-Autor Guido Eckert versuchte, eine Woche lang radikal ehrlich zu sein. Eine Woche der Wahrheit.

Eine Woche will ich durchhalten. Ich weiß nicht, was mich erwartet, weil es keinen Fährtenführer gibt für dieses Experiment, und weil sich nicht abschätzen läßt, welche Dimension es annehmen wird. Also gehen mir wirre Bilder durch den Kopf, viele Schreckensszenarien, auch schöne Dinge…

Eine Woche will ich gnadenlos ehrlich sein.

Der Wecker klingelt allerdings auch nicht anders, an diesem Montag. Auch der Kaffee schmeckt nicht besser. Die Marmelade ist trotzdem schimmelig. Aber ich weiß, daß etwas passieren wird. Wenn man einen Vorsatz faßt, wird es Folgen haben. Davon bin ich überzeugt, und es läuft warm durch meinen Magen und die Wirbelsäule entlang. Auf der Straße habe ich kurz das Gefühl, daß sich so ein Vorhaben auch im Gesicht zeigen müßte. Aber ich sehe nur verschlafen aus. Eine Woche Fröhlichkeit, das würde man eher bemerken. Oder eine Woche Traurigkeit. Dafür bin ich innerlich wacher. Und neugieriger.

Ich gehe zur U-Bahn, und mir fällt auf, daß ich früher oft verschwunden bin, wenn ich Leute gesehen habe, die ich nicht sprechen wollte. Dann bin ich im Gewühl untergetaucht, um nichts und niemanden zu sehen – jetzt gehe ich auf ein bekanntes Gesicht zu.

Sabine fährt zur Arbeit. Ich weiß nicht, was ich mit ihr reden soll, weil wir beide vollkommen verschieden denken und leben. Vielleicht ist gerade das ein guter Einstieg. „Warum bist du nicht auf meine Party gekommen?” Sabine ist einer von diesen Menschen, die immer sofort unendlich beleidigt sind, wenn man ihnen nicht vor Freude um den Hals fällt. Ich weiß nicht mehr, woher wir uns kennen, und in meinem Kopf startet der altvertraute Reflex-Countdown: „Einladung? Hab‘ ich nicht bekommen…” Aber das geht nicht. Nicht in dieser Woche. Ich bin ehrlich. „Ich kenne deine Partys, da sind nur Paare, die glücklich vor sich hin knutschen.” Ich schaue sie nicht an und entschuldige mich bei ihr. Nicht für meine Absage, sondern dafür, daß ich andere Sachen rede. Sonst bin ich immer fröhlich, freundlich, unverbindlich, und verspreche, jeden und alle anzurufen und alles zu besorgen. Diesmal fehlt unser Rederitual. Sabine sieht mich nur erstaunt an. Ich entschuldige mich weiter. „Du weißt, daß ich nicht mehr mit Mandana zusammen bin. Ich kann zur Zeit nicht auf solche Parties.” Ich sage zum ersten Mal, daß ich mich Scheiße fühle ohne Freundin. Erst recht auf einer Party, wo nur knutschende Glücksgesichter rumhängen. Sie hört nur heraus, daß ich sie versetzt und vor allem ihre Party boykottiert habe. Sie geht keinen Millimeter auf meine Selbstentblößung ein. „Es gibt doch noch andere Sachen im Leben.” Das Schreckliche ist, daß sie das ernst meint. Hätte ich gesagt, „die Post hat die Einladung verschlampt”, dann würde sie mich zum Kaffee einladen. „Du kennst dieses Gefühl nicht, du bist nie alleine gewesen”, sage ich. Was ich ihr sage, ist das, was ich in diesem Moment denke. Ich spreche sachlich wie ein Versicherungsvertreter. „Was soll das denn heißen?” Sabine wird ziemlich laut. Bislang haben wir uns immer nur zivilisiert-höflich zugelächelt. Wir kannten uns von Parties und haben uns auch so unterhalten, über Musik und andere Parties. Es gibt jetzt kein Zurück mehr. „Du machst das wie viele Frauen: erst den Nachfolger suchen und dann Trennung. Und ich bin eben ohne Nachfolgerin.” Sie ist jetzt nicht nur böse, sondern zusätzlich pampig-beleidigt. Das erlebe ich in dieser Woche noch oft: Es sind die gnadenlos Netten und Höflichen, die mit meiner Experimental-Ehrlichkeit nicht klarkommen. Weniger die lautstarken Arschlöcher, denen man schon immer mal die Wahrheit sagen wollte. Nettmenschen sind prinzipiell beleidigt.

Bei Sabine habe ich es wirklich einfach mit meinem Vorsatz, der Ehrlichkeit, weil mir egal ist, ob sie sich jetzt umdreht und mich nie mehr ansieht. „Warum hast du nicht mal abgesagt?” „Weil du immer nachfragst und nicht locker läßt.” Sie guckt mir zum ersten Mal genau in die Augen. Sie haßt mich. Obwohl ich nichts gesagt habe, das wir beide nicht wissen. Es sind unausgesprochene Dialoge. Sie auszusprechen, macht Feinde.

In den ersten beiden Tagen hängt so ein Gespräch noch nach. Wozu machst du das? Es war mir klar, daß Ehrlichkeit reinigend sein könnte, aber ich habe nicht unbedingt berechnet, daß sie so weitreichende Folgen hat. Schließlich lebt Sabine nicht allein auf der Welt, und sie wird mit ihren Freunden und Freundinnen sprechen, und alle werden daraufhin zu der Erkenntnis kommen, daß ich ein Arschloch sei. Weil ich solche gemeinen Sachen sage, und das auch noch direkt und ohne Mitgefühl… Sabine wird nicht sagen, daß ich versucht habe, ehrlich zu sein.

Sei ehrlich zu dir. Das einzige, woran du wirklich denkst, ist Mandana. Ruf sie an.

Ich wollte mich nicht bei ihr melden. Ich bin schließlich ein Mann blablabla, und wenn eine Frau Schluß macht, dann ist Schluß für immer, blablabla. Ich wähle ihre Nummer. Sie ist ziemlich überrascht. „Wie geht’s dir?” Auch Ehrlichkeit braucht anscheinend Luft-Einleitungssätze. Und ich will gnadenlos radikal sein. Zumindest in dieser Woche. „Ich habe oft an dich gedacht.” Sie ist klug. Sie weiß genau, weshalb ich anrufe. Ich bin ehrlich: „Ich vermisse dich.” Sie schweigt. Natürlich kennt sie mich, und natürlich überrascht sie mein Anruf nicht wirklich, aber sie weiß trotzdem nicht, was sie dazu sagen soll. Wir hatten uns schließlich geeinigt, und ich mache anscheinend unsere ,zivilisierte‘ Abmachung kaputt. Wonach ich die Trennung akzeptiere. Ich akzeptiere überhaupt nichts. „Hast du einen neuen Freund?” Das hätte ich früher nicht gefragt. Weil es blöd ist. Aber es ist das einzige, was mich wirklich interessiert.

Und dann reden wir. Wir reden Klartext. Ehrlichkeit wird wie ein Sog. Ich dachte, wir hätten uns gekannt und geachtet, aber es gibt da Seelenkammern und Nischen bei uns beiden, in ungeahnten Ecken, die verschlossen waren. Wir sprechen fast zwei Stunden. Ich schwitze und merke es gar nicht. Selbst der trockene Mund stört nicht. Dann, nach der anfänglichen Euphorie, ist es schrecklich: Ehrlichkeit klebt und kettet aneinander. Plötzlich ist eine Nähe da, die wir lange nicht mehr hatten. So eine Vertrautheit und Wärme. „Ich will dich sehen.” Viel zu viel Verzweiflung in meiner Stimme. „Nein.” Es wäre nicht gut, sagt sie. Sie ist ziemlich durcheinander. Punkt. Schluß. Wir legen auf. Hat das jetzt was gebracht, frage ich mich. Abends spüre ich auch zum ersten Mal die Waffentauglichkeit der Ehrlichkeit.

Ehrlichkeit ist nicht gut. Zumindest nicht alleine, ohne weiterreichende Liebe. Zu allen, zu jedem, und dann auch noch gnadenlos, rücksichtslos. Aber Liebe läßt auch wieder Lügen zu. Ehrlichkeit allein schafft zu viele Fronten. Ehrlichkeit allein macht einsam und aggressiv.

Das Experiment tritt in seine gnadenlose Phase. Dort, wo viele Menschen sind, geschieht auch mehr. Dort, wo nicht nur Freunde sind. Ich gehe in eine Kneipe. Hirnloses, aufgedrehtes Zusammenstehen, Trinken und Zeugs erzählen.

Kneipen sind wahrhaftige Lügenhöhlen. Zum ersten Mal seit der Trennung von Mandana flirte ich wieder mit einem Mädchen. Es macht Spaß, obwohl uns beiden nach wenigen Sekunden klar ist, daß wir uns nicht wiedersehen werden. Es ist einfach nur schön, miteinander zu lachen. Wir scherzen so rum und albern, und plötzlich frage ich mich, ob diese Flirterei eigentlich noch Wahrheit ist. Obwohl es schön ist. Weil unsere gegenseitigen Komplimente Schmeicheleien sind, ohne Hand und Fuß, und damit gelogen, und wir uns gegenseitig nur zuhören, um uns zu gefallen. Eine große lachende Lüge… Deshalb zwinge ich mich zu roboterhafter Ehrlichkeit: Das zu sagen, was mir wirklich in den Sinn kommt. „Ich werde eine Woche vollkommen ehrlich sein.” Sie schaut einen Moment verschwörerisch, als böte ihr das gewisse Möglichkeiten. Bisher habe ich oft abgewogen, ob es wirklich verschiedene Ehrlichkeitsstufen gibt. An diesem Abend ist mir egal, was passiert. Ich werde einfach alles sagen. Natürlich will sie über Sex reden, und erstaunlicherweise fragt sie nicht, sondern beginnt selber zu reden.

Normalerweise sind Frauen an diesem Punkt sehr verschwiegen. Deshalb bin ich sehr gespannt – und dann sehr enttäuscht. Für sie ist es ein Spiel. Ihre Freundinnen stoßen auch noch dazu, und dann zählen sie gemeinsam auf, welche Schauspieler sie klasse finden. Es langweilt mich, wenn Frauen sagen, daß sie auf Männerpos stehen. Das ist so altbekannt. Oder daß sie den Film 91/2 Wochen toll finden. Diese sogenannte Ehrlichkeit ist noch verlogener als lächelnde Höflichkeit. Scheint zwar versteckt und tief, ist aber doch nicht wahr.

Die Mädels hauen sich ihre Sex-Abenteuer um die Ohren, wie sonst nur die Jungs. Wann und wo und wieso. „Morgens bin ich zu müde für Sex”, sage ich, und wieder habe ich was Falsches gesagt. Das wollten sie nicht hören. Unter Ehrlichkeit verstehen sie was anderes: irgendwie „Tabubruch” und sowas. Daß man morgens müde ist, wäre keine Ehrlichkeit. Dabei ist Ehrlichkeit mühsam. „Würdest du mit Michaela schlafen?” Sie haben immer noch Spaß. „Wenn sie den Mund hält, sofort.” Alle lachen. Sie finden sowas amüsant. Ich merke, daß Ehrlichkeit schweigend stattfinden muß. Es ist kein Spiel. Man schlüpft nicht mal eben aus dem Korsett. Andererseits zeigt sich immer wieder: Wenn die Wahrheit gesagt wird, wenn Ehrlichkeit konsequent durchgehalten wird, bricht alles zusammen. Es ist zu kompliziert.

Einmal treffe ich Ralf. „Frank* ist so verschlossen geworden”, sagt er, „weißt du, weshalb?”„Ja.” In dieser Sekunde weiß ich, daß ich lügen muß. Auch das ist eine Befreiung. „Was ist denn los?” – „Ich kann es dir nicht sagen.” – „Hey, sag schon.”– „Nein.” Ich weiß nicht, ob ich das Experiment als Ganzes verletze – aber in diesem Fall muß es sein. Frank hat einen Test gemacht und weiß, daß er HIV-positiv ist. Das kann ich nicht erzählen. Ralf will das Geheimnis natürlich wissen. Er appelliert an unsere Freundschaft und glaubt natürlich an irgendwelchen Klatschtratsch, den er hören will. Ich darf Ralf nicht zu neugierig machen. Er darf auf keinen Fall etwas merken. „Frank überlegt, ob er sein Studienfach wechseln soll.” Ich komme mir vor wie ein Zigarettenabstinenzler, der an einer anderen Zigarette zieht. Und hofft, daß man mir trotzdem den Nichtraucher abnimmt.

Vieles geht nicht. Martina hat ein Kind bekommen und schiebt es durch die Fußgängerzone. Sie strahlt soviel Glück über das Pflaster, daß man es noch zwei Kreuzungen später spürt. Es ist schön, ihr zuzusehen. Es gibt Sinn und macht froh. „So ein süßes Kind.” Sagen wir alle. Martina ist so glücklich. Es ist aber ein häßliches Kind. Ich halte meinen Mund. Ich will ohnehin nicht mehr, es ist zu nervig. Ich weiß, daß strenggenommen auch dieses Schweigen schon Lüge ist. Wieder überlege ich, stärker diese Bereiche zwischen wahr und falsch anzuschauen. Irgendwie ist das alles fließend, und es scheint Abstufungen zu geben. Ich komme mir vor wie ein Forscher in einem unentdeckten Universum. Wieder überlege ich, die Waffe Ehrlichkeit besser zu trainieren. Sie ist so unglaublich spitz und kann wirklich verletzen – weil sie niemand mehr kennt. Ständig hört man, wie sich die Leute aufregen, daß unsere Zeit so schrecklich verlottert und verlogen sei, aber dann zeigt sich, daß Ehrlichkeit so fremd ist, daß niemand mehr damit umgehen kann.

Sport scheint ein Ausweg zu sein. Alles Denken wegschalten, alles Abwägen und Grübeln. Schweiß gilt als ehrlich. Im Grunde ist das Blödsinn. Schweiß stinkt bloß. Aber Sport macht Spaß. Und Spaß entkrampft vielleicht. Badminton.

Ich spiele mit einem ziemlichen Crack. Eine Ratte. Wir haben um eine Pizza gewettet, und ich will nicht verlieren. Zweimal hat er falsch gezählt und genauso oft hat er meinen Schmetterball in seiner Hälfte für Aus gesehen, der sicher noch auf der Linie war. Ich will nicht verlieren. Und dann flutscht sein Ball in meiner Hälfte genau über die Linie. Er war noch drin, aber er kann es nicht genau sehen. Es ist ein spielentscheidender Punkt. Ich bin ehrlich und gebe ihm den Punkt. Eigentlich gehe ich davon aus, daß das Spiel damit verloren ist, aber dann geschieht es, daß er blöde Fehler macht. Plötzlich habe ich das Gefühl, als wende sich das Schummeln gegen ihn, und meine Ehrlichkeit zahle sich aus. Wie im Sprichwort. Plötzlich brauche ich auch nicht mehr viel zu tun und nicht mehr zu kämpfen. Ich gewinne das Spiel. Wir machen zwei weitere Revanche-Spiele, und auch in diesen Duellen wiederholt es sich: er schummelt, und ich bin gnadenlos ehrlich. Trotzdem mache ich die entscheidenden Punkte. Und ich gewinne. Das macht mich schon nachdenklich. Daß es vielleicht wirklich Nabelschnüre, Energietauschbahnen und damit eine unsichtbare Gemeinsamkeit zwischen allen Menschen gibt, die uns alle verbindet. Durch Lüge oder Ehrlichkeit. Durch Liebe oder Haß. Daß es in diesem Sinne dann auch eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt, auch für die schlimmsten Dinge. Weil es sich dann auszahlt, wenn du Gutes in die Bahnen schickst.

So etwas bleibt auch nach der Woche im Kopf. Das haut rein. So etwas steckt tatsächlich in den Knochen.

Es gibt vielleicht wirklich so etwas wie eine Pflicht zur Liebe. Zumindest ist das eine schöne Vorstellung.