Ein Sit-in mit eigenen Gesetzen

von 
Essay
zuerst erschienen im Februar 1997 im jetzt-Magazin

Wahrscheinlich verändert heutzutage die Haltung tatsächlich die Haltung. Sonst ließe sich nicht erklären, warum überall vor den touristischen Sehenswürdigkeiten nette junge Menschen gemeinsam im Schneidersitz sitzen und fröhlich sind. Und singen. Und rauchen. Ohne Schneidersitz scheint das Leben jedenfalls viel problematischer. Normalerweise steht nämlich immer dieses Problem im Raum, wie man am besten rumsteht. Der Schneidersitz dagegen macht alle gleich. Und niemand muß tanzen.

Der Schneidersitz ist überhaupt eine der wenigen Haltungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum geändert haben. In manchen Familien ist es sogar die einzige Gemeinsamkeit mit den Eltern, die auch schon so auf dem Boden hockten. Eine Fortsetzung der Sit-ins also.

Vor allem ist es ein beruhigendes Gefühl, auf allen europäischen Metropolenpartys die gleichen netten Menschen im Schneidersitz zu treffen. Wenn man sich also in einer fremden Stadt oder auf einer fremden Party nicht auskennt, setzt man sich einfach dazu. Nach unten. Wobei es auf die richtige Kleidung ankommt: Schneidersitzmode muß sich nämlich an den Knien schön ausbeulen. Und dann muß sie Bewegungsfähigkeit zulassen. Manche Gruppen setzen sich schließlich nur deshalb im Schneidersitz zusammen, um eine leere Flasche im Kreis zu drehen.

Wenn man im Schneidersitz auf fremden Marktplätzen herumsitzt, wirkt man sofort wie ein Einheimischer. Das Blöde ist nur, daß sich kein Einheimischer vor irgendeinen Dom hockt. Einheimische gehen statt dessen arbeiten, und wenn sie irgendwo sitzen, dann in abgelegenen Wirtshäusern.

Für diejenigen, die gerne im Schneidersitz vor Rathäusern sitzen, hat sich allerdings seit Jahrzehnten nichts verändert: weder die Haltung, noch die Musik. Man hört immer noch U2 oder Simple Minds oder ähnliche Schneidersitzmusik. Manchmal stehe ich verlegen neben so einer Versammlung und versuche mich an den Tag zu erinnern, an dem so ein Sommerhit herausgekommen ist. Diese Lieder habe ich immer für Flops gehalten – heute summe ich alle Strophen mit.

Das Merkwürdige ist, daß solche Schneidersitzlieder inzwischen einen Teil meines eigenen Lebens speichern. „Don’t you forget about me” zum Beispiel erinnert mich immer an meine Hochphase vor dem Kölner Dom, als wir ein beliebtes Hintergrundmotiv für Touristenphotos abgaben. Ich hatte damals so eine Idee: Ich besuche irgendwelche Leute in Amerika, die mir stolz ihr „Germany”-Photoalbum präsentieren, und plötzlich lungere ich auf einem Bild im Schneidersitz rum.

Irgendwann kommt aber der Zeitpunkt, an dem man nicht mehr nach unten will. Man ist dann einfach zu alt. Dafür gibt es keine weiteren hormonellen oder psychologischen Ursachen. Man will einfach nicht mehr auf dem Boden sitzen – es sei denn, man ist betrunken. Dann ist man eh aus dem Schneider.