Marc und Holger Blume

von 
Reportage
zuerst erschienen im Juli 1996 im jetzt-Magazin

Das Leben eines Läufers scheint im Allgemeinen äußerst beneidenswert. Läufer müssen nicht groß formulieren oder analysieren, sie lockern nur ein wenig ihre Wadenmuskulatur und hängen sich anschließend große goldene Medaillen um den Hals. Wenn sie Glück haben, das heißt, wenn sie als Erster ins Ziel kommen, dann dauert ihr Arbeitstag nur einige Sekunden – wenn sie aber Pech haben, wenn sie nur als Zweiter ins Ziel kommen, dann müssen sie anschließend Interviews geben und sich verteidigen und interpretieren. Das ist hart. Läufer reden nämlich nicht gerne. Läufer wissen im allgemeinen auch nicht, was es nach ihrer Tat noch groß zu erklären gäbe. So richtig problematisch wird es für Läufer aber in dem Moment, wenn sie als Erster ins Ziel kommen und trotzdem Interviews geben sollen. „Ich muß vor allem schauen, daß meine Leistung stimmt”, sagt verwirrt Marc Blume, unsere deutsche 100-Meter-Hoffnung, was eine eher ausweichende Antwort auf meine erstaunte Feststellung ist, daß er so rothaarig ist wie es rothaariger nicht mehr geht, und daß er damit genauso wie sein Bruder Holger aussieht. Oder anders gesagt, sieht Holger genauso aus wie Marc. Aber für beide zusammen hat das nur wenig mit dem Laufsport an sich zu tun und so betonen sie schnell und hart und eindeutig verwirrt, daß es keine Probleme mit dem jeweils anderen Bruder gebe und daß es nicht ungewöhnlich sei, als Zwillingspaar Leistungssport zu betreiben.„Ich muß vor allem schauen, daß meine Leistung stimmt”, erklärt der 22jährige Marc und spielt damit auf seine Bestzeit über 100 Meter an: 10,13 Sekunden. Bis jetzt war sein Zwillingsbruder immer einige Hundertstelsekunden langsamer, und während ich Marc gegenüber diesen vermeintlichen Bruderzwist andeute, entwischt mir Holger hinter meinem Rücken zum Arzt, was insofern pikant ist, weil Holger in den anderthalb Stunden, in denen Marc uns sitzengelassen hatte, nichts ohne seinen Bruder sagen wollte, und jetzt, wo der Bruder da ist, sucht er den Arzt. Ich lerne, daß Läufer unentwegt in Bewegung sein müssen: Sie müssen sich vor einem Rennen einlaufen und sie müssen nach einem Rennen auslaufen. Auch wenn sie eineiige Zwillinge sind. Im ersten Moment bin ich mir gar nicht mal sicher, ob nicht vielleicht doch Marc hinter meinem Rücken geflüchtet ist und Holger neben mir steht, weil sie sich so verdammt ähnlich sind. Sie sind nicht nur identisch rothaarig, sie tragen auch die identischen Trainingsklamotten. Und sie sagen die gleichen Sätze. Sie haben gemeinsam in der fünften Klasse mit dem Laufen begonnen und sie machen heute beide vormittags die gleiche Ausbildung zum Industriekaufmann bei „Herrn Steilmann” in Wattenscheid und fahren dann nachmittags gemeinsam zum Training. Während ich nun in dieser unerwarteten Harmonie grabe, zwängt sich plötzlich ein freches kleines Mädchen zwischen Marc und mein Aufnahmegerät.

Sie kommandiert mir ihren verschwitzten Photoapparat in die Finger, damit sie sich von Marc ein Autogramm schreiben lassen kann, und dann reißt sie die Kamera wieder an sich, um ein unscharfes Bild von ihm zu knipsen. Ich murmle irgendwie, daß das doch der Holger sei, aber ich muß einsehen, daß ich nicht der einzige bin, der keine Zwillinge auseinanderhalten kann. Ein wenig versöhnlich stimmt mich, daß auch Marc nicht genau weiß, ob die Uhr am Handgelenk nun seine und die von Holger ist. Sie tragen natürlich beide die gleichen Sportuhren. Die haben sie bei einem gemeinsamen Einkaufsbummel entdeckt, und beide dachten gleichzeitig „Die ist doch was”. Der einzige Unterschied ist, daß Holgers Uhrband etwas schmaler ist, was aber für eine sichere Identifizierung der beiden nur bedingt taugt, und daß eine Bruderuhr immer zwei Minuten nachgeht. Welche es ist, wird sich vermutlich in Atlanta erweisen. Für einen Sprinter macht es keinen großen Unterschied, ob er nun in Las Vegas, Luxemburg oder eben in Atlanta läuft. So lange es nicht regnet. Der Tagesablauf ähnelt sich schließlich bei allen großen Meisterschaften: frühstücken, erstes Warmlaufen, Fahrt ins Stadion, zweites Warmlaufen, Weltmeister werden. Das Stadion ist nur ein Arbeitsplatz. Manchmal sprechen die Blumes am Rande mit anderen Sportlern, weil nur Sportler untereinander verstehen, was Sportler so denken, aber auch da gibt es Einschränkungen. „Zu Hammerwerfern”, sagt Marc, „habe ich nicht so den Bezug.” Bevor wir hier nun allerdings in eine übergreifende und prinzipielle Diskussion über das Leben und Leiden im Zeitalter der Kommunikation einsteigen können, muß Marc schon wieder zurück zum Mannschaftsfahrzeug. „Und vor allem muß ich erstmal sehen, daß meine Leistung stimmt.”